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# taz.de -- Erinnerung an NS-Opfer: Über Sprache stolpern
> Die Stolpersteine von Gunter Demnig erinnern an NS-Opfer – teilweise in
> Nazi-Jargon. Angehörige sind empört, doch der Künstler zeigt sich
> uneinsichtig.
Bild: Rund 48.000 Stolpersteine liegen derzeit in Deutschland und 17 weiteren e…
HAMBURG taz | Dies ist die Geschichte einiger Stolpersteine. Jener
Messing-Gedenktafeln, zehn mal zehn Zentimeter groß, zwei Kilo schwer, 120
Euro teuer das Stück. Anfangs glänzend, später matt und abgetreten, sind
sie ins Trottoir eingelassen, tragen Namen, Lebensdaten und Sterbeort von
Opfern des Nazi-Regimes.
Erfunden hat das Ganze vor 20 Jahren der Kölner Künstler Gunter Demnig, und
die Idee eines so breitenwirksamen Gedenkens hat inzwischen Hochkonjunktur:
Rund 48.000 Stolpersteine liegen derzeit in Deutschland und 17 weiteren
europäischen Ländern. Sie gelten vielen als Gedenktafeln – eine Kunst auf
der Schwelle zur Erinnerungskultur und gerade deshalb so genial und so
pikant.
Denn wer sich der Daten realer Menschen bemächtigt, eröffnet einen anderen
Diskurs als einer, der nur schöne Bilder malt. Außerdem ist so ein Stein
klein, weshalb gut umzugehen ist mit dem Platz; es ist eine Mini-Vita für
den eiligen Passanten, da muss jedes Wort sitzen.
Aber das tut es bei Demnig nicht immer, und hier beginnt die Geschichte des
Hamburger Stolpersteins, der 2011 im Stadtteil St. Georg für Erna Lieske
verlegt wurde und den ihre Enkelin Liane kürzlich entdeckte. Angeregt hatte
den Stein ein anonymer Spender – eine Praxis, die üblich ist unter Peter
Hess, jenem Ehrenamtler, der das Stolpersteinprojekt 2002 nach Hamburg
holte.
## „Gewohnheitsverbrecher“ oder „Volksschädling“
4.706 Steine gibt es dort inzwischen, die Opfergruppen haben sich von Juden
über Homosexuelle und Zwangsarbeiter auf Menschen erweitert, die den Nazis
als „Asoziale“ galten – Prostituierte, Hausierer, Bettler und
Kleinkriminelle, die die Nazis „Gewohnheitsverbrecher“ oder
„Volksschädling“ nannten oder der „Rassenschande“ bezichtigten. Sie wa…
Opfer der NS-Justiz und nicht wie die Juden der NS-Rassenideologie.
Diesen Unterschied wollte Gunter Demnig auf den Stolpersteinen zeigen –
allerdings wählte er eine umstrittene Form: In einfachen Anführungszeichen
hat er den Verurteilungsgrund im Vokabular der Nazi-Justiz wiederholt.
’Gewohnheitsverbrecherin‘ stand also auf dem Hamburger Stein für Erna
Lieske.
„Als ich das sah, war ich total geschockt“, sagt Enkelin Liane. „Wie kann
man ausgerechnet auf einem Gedenkstein die Sprache der Täter verwenden?“
Und die Diffamierung der Nazis fortsetzen, in die sich die Enkelin
plötzlich mit hineingesogen fühlte. Denn Liane Lieske wohnt im selben
Stadtteil, nicht weit vom Stein, fühlte sich bloßgestellt und dachte: Jetzt
kann jeder sehen, meine Großmutter war eine sogenannte
Gewohnheitsverbrecherin, und das ist ohne mein Einverständnis öffentlich
gemacht worden.
In der Tat, räumt Hamburgs Stolperstein-Organisator Peter Hess ein, habe er
nicht nach Angehörigen gesucht. Dabei wäre es leicht gewesen, Liane Lieske
steht im Telefonbuch. Und sie wollte einen anderen Stein, ohne
NS-Vokabular. Sie kontaktierte das Hamburger Institut für die Geschichte
der deutschen Juden, das mit der Landeszentrale für politische Bildung ein
NS-Opferbiografien-Projekt betreut und dem Stolperstein-Organisator Peter
Hess eine Internetseite „geschenkt“ hat, wie er sagt.
Auf diese Seite stellt Hess auch die Beschriftungen der Stolpersteine. Da
steht seit Liane Lieskes Beschwerde zwar nicht mehr „Erna Lieske,
’Gewohnheitsverbrecherin‘. Aber unter Gertrud Jachinski steht
’Rassenschande‘. Und die Historikerin Beate Meyer, Projektleiterin am
Institut für die Geschichte der deutschen Juden, findet diesen Ausdruck
nicht schlimm. Es stimme doch, sagt sie. Das sei doch der
Verurteilungsgrund gewesen.
## Moralischer Druck
Trotzdem ist das Wort kurz nach dem taz-Telefonat mit Peter Hess gelöscht.
So einsichtig hatte er sich Liane Lieske gegenüber nicht gezeigt. Sie hatte
zunächst erwogen, einen neuen Stein zu bezahlen, war später davon
abgekommen, „weil es ein Politikum ist und nicht meine persönliche Macke“.
Doch Hess habe, als von Geld die Rede war, gesagt: „Aber Sie wollten den
Stein doch nicht so haben!“ Da habe sie sich moralisch unter Druck gesetzt
gefühlt zu zahlen. Der taz gegenüber kann sich Hess an diesen Satz nicht
erinnern. Im Gegenteil: Er nehme nie Geld von Angehörigen – es sei denn,
sie böten es an.
Aber wie dem auch sei, Hess sprach mit Demnig seinerzeit über den
Lieske-Stein, aber der wollte nichts ändern. Und um den Ärger los zu sein,
hat Hess einen Lieske-Stein mit neutralerer Beschriftung auf die nächste
Bestellliste für das fünfköpfige Büro Demnig gesetzt. Es klappte, die neue
Version ging durch, und jetzt liegt der neue Stein.
Das allerdings verwundert, denn im taz-Telefonat sagt Demnig, seine Texte
seien gerechtfertigt: „Diese NS-Ausdrücke stehen in Parenthesen – und jeder
normale Mensch begreift, da stimmt was nicht.“ Auf die Anmerkung, dass er
bei den rassistisch Verfolgten den Grund auch nicht auf den Stein schreibe,
sagt er: „Soll ich etwa schreiben, der war Jude?“ Im Übrigen habe er keine
Zeit, mit den Angehörigen zu diskutieren. „Wenn die empfindlich sind,
müssen die sich vielleicht selbst mal damit befassen und überlegen, wie das
gemeint ist.“ Texte über Nazi-Unrechtsurteile könne man schließlich übera…
finden. Ein kostenloser Austausch beanstandeter Steine komme nicht infrage.
So weit, so konsequent, doch am nächsten Tag klingt das schon anders. Da
erinnert sich Demnig plötzlich, den Lieske-Stein ersetzt zu haben – zum
Materialpreis. Peter Hess sagt allerdings, ein neuer Pate habe die gesamten
120 Euro bezahlt.
Das ist löblich, aber das Demnig’sche Sprachproblem bleibt. Denn allein in
Hamburg liegen mindestens zwei weitere Stolpersteine mit NS-Vokabular: Bei
Gertrud Jachinski steht ’Rassenschande‘ – ein Ausdruck, mit dem die Nazis
sexuelle Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden brandmarkten. Auf Erna
Müllers Stolperstein prangt Gewohnheitsverbrecherin‘. Und auf dem Stein für
die Zwangsarbeiterin Janina Piotrowska in der Wolfenbütteler Gedenkstätte
für die Opfer der NS-Justiz steht ’Volksschädling‘. Das war laut NS-Justiz
jemand, der im Krieg straffällig wurde. Auf dem Braunschweiger Stein von
Erna Wazinski steht ’Plünderung‘.
## Propaganda der Täter
„Ich finde diese Beschriftungen in Tätersprache nicht angemessen“, sagt
Martina Staats, Leiterin der Gedenkstätte Wolfenbüttel. „Solche Ausdrücke
sollte man nur verwenden, wenn man sie direkt vor Ort erläutert.“
Detlef Garbe, Leiter der KZ-Gedenkstätte Neuengamme, sagt: „Aus meinen
Kontakten mit Überlebenden der NS-Verfolgung weiß ich, wie sehr es sie
schmerzt, wenn sie sich mit Zuschreibungen aus der Propagandasprache des
NS-Regimes konfrontiert sehen.“ Solche Begriffe ohne sprachliche
Distanzierung zu zitieren „ist einfach unmöglich“. Denn auch wenn Demnig
diese Begriffe in einfache Anführungszeichen gesetzt habe, „sollte man
nicht darauf vertrauen, dass dies von jedem Leser als Distanzierung
verstanden wird“. Im Übrigen sei Demnig schon oft in die Kritik geraten,
weil Angaben auf Stolpersteinen unzutreffend oder sprachlich zu beanstanden
gewesen seien.
Damit rührt er an das Grundproblem des Projekts: Niemand hat Einfluss auf
Demnigs Textgestaltung. Woher nimmt er die überhaupt? „Die sind so
vorgegeben“, sagt Demnig der taz. Und wo? „In den Akten.“ Da kann man
weglassen oder hinzufügen, und warum er es mal so und mal so macht, sagt er
nicht. Auch eine Debatte über die Persönlichkeitsrechte derer, mit deren
Namen er arbeitet, lehnt er ab. „Das ist mein Projekt“, sagt er, und da
kommen auch lokale Organisatoren wie Hess nicht gegen an.
Ja, nicht einmal das Kölner Finanzamt, das 2011 befand, das florierende
Stolpersteinprojekt erfordere nun 19 Prozent Gewerbesteuer anstelle der für
Kunst üblichen 7 Prozent. Demnig mobilisierte einen Shitstorm seiner Fans,
der Stadtrat knickte ein. Und Demnig macht weiter, wie er will: Wenn sich
niemand beschwere, sagt er der taz, werde er die verbliebenen Steine mit
NS-Begriffen nicht ändern. Und überdies neue herstellen mit demselben
Vokabular.
20 Oct 2014
## AUTOREN
Petra Schellen
## TAGS
Hamburg
Schwerpunkt Rassismus
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Erinnerungskultur
Gedenken
NS-Opfer
Holocaust
Literatur
Juden
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