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# taz.de -- Erinnern mit Steinen: Das Gedenken auf dem Gehweg
> Ein Buchhändler recherchiert, ein Florist bringt Rosen, ein Kinderarzt
> weint. Die Verlegung von Stolpersteinen ist ein gesellschaftliches
> Projekt von besonderer Intensität.
Bild: Theophil Jazdziewski, Oderstraße, seit gestern geehrt.
Das Todesurteil liegt auf der Motorhaube. „Im Namen des Deutschen Volkes“
steht da in Fraktur. Und, dass sich Theophil Jazdziewski „außerhalb der
Volksgemeinschaft“ gestellt habe. Dafür gab es viereinhalb Jahre Zuchthaus
in Oslebshausen. Die anschließende „automatische“ Überstellung in die KZ
Buchenwald und Dachau bedeutete für den Sozialdemokraten den Tod.
Wir stehen vor dem Haus Oderstraße 109, Flüsseviertel, Neustadt. Die
Verlegung von Stolpersteinen ist meistens eine etwas improvisierte
Situation, das geht auch gar nicht anders. Wir sind im öffentlichen Raum,
hier soll gedacht und gestolpert werden, auch wenn der Gehweg zugeparkt
ist. „Gehören Sie zur Familie?“, werden die Hinzutretenden interessiert
gefragt – womit der SPD-Ortsverein eben so gut gemeint sein kann wie die
Jazdziewskis. Drei Enkelinnen betrachten das Haus, in dem ihr Opa ein
Geheimversteck hatte. Dort lagerte er den Kleinen Vorwärts. Deklariert als
„frischer Spargel“ kam er aus Antwerpen, doch die Gestapo hatte einen
Spitzel in den Reihen der „Reichsbanner“-Leute. Jazdziewski war
konspirativer Bremer Kreisleiter der seit 1933 verbotenen SPD-Organisation.
570 Stolpersteine für Verfolgte des NS-Regimes gab es bislang in Bremen,
seit gestern sind es sieben mehr. Straßenbau-Azubis von der
Alwin-Lonke-Schule hebeln Gehweg-Platten hoch, dann kommt der Gummihammer
zum Einsatz. „Wir machen das gern, da steht die ganze Klasse hinter“,
versichert einer. Und fügt hinzu: „Damals hatten diese Leute ja nicht so
eine tolle Beerdigung.“ Jazdziewski wurde in Dachau eingeäschert.
Helga Ziegert von der SPD liest aus Jazdziewskis Briefen aus dem Zuchthaus
vor, im Hintergrund rauscht die Neuenlander Straße.
Wenige Ecken weiter, Große Johannisstraße 72: Hier hat Charlotte Ginsberg,
verwitwete Weiss gelebt – und überlebt. „Das ist erst der zweite Stein in
Bremen, auf den wir ,überlebt‘ schreiben konnten“, sagt Barbara Johr von
der Landeszentrale für politische Bildung. Sie legt, wie jedes Mal, eine
Rose auf den Boden. Eine Anwohnerin mit dicker Rewe-Tüte nähert sich,
schaut skeptisch – und lauscht dann gebannt Peter Christoffersen, der
Ginsbergs Leben beschreibt. Dann sagt sie: „Den Stein halte ich sauber.“
Christoffersen betrieb bis 2010 die Humboldt-Buchhandlung. Seither
recherchiert er ehrenamtlich in Archiven und bei Angehörigen
Opfer-Biografien. Schwierig sei die Quellenlage bei Homosexuellen, da sie
nicht anerkannt wurden. Auch bei den etwa 700 Bremer Euthanasie-Opfern sei
die Forschung noch am Anfang. Christoffersen: „Selbst wenn ausreichend
Daten vorliegen, wollen viele Angehörige keinen Stein“ – die
Euthanasie-Schicksale würden familiär oft tabuisiert. Dass es auch nur
wenige Stolpersteine für Sinti- und Roma gibt, hat andere Gründe. Die
Familien lehnten die Verlegung vor allem dann ab, wenn sie selbst noch im
Haus leben, sagt Christoffersen: „Viele haben Angst, als Sinti oder Roma
erkannt zu werden.“ Wie viele Steine wären in Bremen noch zu verlegen?
„Rund 1.000.“
Nun stehen wir vor dem Haus, aus dem Hermann Behr, ein jüdischer
Antiquitätenhändler, 91-jährig hinausgeworfen wurde. In Theresienstadt
überlebte er nur wenige Tage. Finanzier dieses Steines ist ein Kinderarzt,
der 30 Jahre gegenüber praktizierte. Warum will er Pate sein? „Weil“, sagt
der 65-Jährige unter plötzlichen Tränen, „meine Eltern mir nie Antworten
gegeben haben.“ Deren Haus stand 30 Kilometer von Bergen-Belsen entfernt.
Ein kräftiger Mann mit Baseball-Kappe, der schon die ganze Zeit dabei ist,
holt tief Luft. Wie ein Blumenhändler sieht er nicht aus, ist er aber –
sogar Blumenspender: „Seit ich weiß, zu welchem Zweck Frau Johr unsere
Rosen kaufte, machen wir so mit.“
Barbara Johr koordiniert seit 2004 die Stolperstein-Verlegung und hat dabei
vieles erlebt. In Blumenthal gruben palästinensische Jugendliche den Stein
für einen 1938 ermordeten Juden aus, um gegen die aktuelle israelische
Politik zu protestieren. Auch der Straßenbau-Azubi, der beim
Gedenkstein-Verlegen ein Thor Steinar-Shirt trug, war sich zunächst keiner
Ungleichzeitigkeit bewusst. „Die Stolpersteine“, sagt Initiator Gunter
Demnig, „sind ein steter Seismograf für unseren Bewusstseins-Stand.“
28 Sep 2012
## AUTOREN
Henning Bleyl
## TAGS
Kontroverse
Hamburg
Blumenthal
Sinti
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