# taz.de -- Inszeniertes Bedrohungsszenario: Die Projektionsfläche der Anderen | |
> In der Inszenierung „Ich rufe meine Brüder“ kitzelt das Bremer | |
> Moks-Theater Terrorängste hervor. Und identifiziert so Stereotype und | |
> Vorurteile. | |
Bild: Die Terrorängstlichen sehen in ihm nur den bösen Araber: Amor, gespielt… | |
BREMEN taz | Geradezu peinigend wirkt der riesige Bühnenraum in seiner | |
finster gähnenden Leere. Ausstatterin Pia Dederichs nutzt ihn einfach | |
nicht, sondern stellt die Besuchertribüne frontal vor die gen Osten | |
weisende Wand der Black Box des [1][Bremer Kinder- und Jugendtheaters | |
Moks.] In lasziver Sanftmut quetscht sich der Hauptdarsteller ans Gemäuer. | |
An die Wand gestellt – von den nur eine Armlänge entfernten Zuschauern? Er | |
fragt: „Gehen 90 Deutsche und ein Araber in einen Raum, wer hat mehr | |
Angst?“ | |
Selten bringt ein Einstiegssatz das aufgeführte Stück dermaßen gut auf den | |
Punkt, wie diese Anfangsbemerkung von Yassin Trabelsi: ein arabisch | |
anmutender, deutsch-tunesischer Schauspieler im Blickduell mit 90 | |
Zuschauern. Ab sofort spielt er Amor, verschließt den Theatersaal, der zum | |
Angstraum wird. Kein Entrinnen mehr möglich. Auch nicht vor dem Furor des | |
heillos verwirrt Amor-Monologs mit all den eingeschobenen Erinnerungsszenen | |
vom Erwachsenwerden und dem Stimmengewirr, live aus dem Hirn des | |
aufgebrachten Erregers irritierender Aufmerksamkeit. Amor improvisiert erst | |
mal in direkter Publikumsansprache zum Thema [2][„Terroralarm“ in Bremen.] | |
Hervorkitzeln der Terrorangst | |
Wegen irgendeines Attentat-Hinweises und vermuteten Handels mit Feuerwaffen | |
war am letzten Februar-Wochenende die gesamte Innenstadt mit | |
waffenstarrenden Menschen in vollem Kriegsornat bevölkert. Ein diffuses | |
Bedrohungsszenario. „Krass, oder?“, fragt Amor, „Bombenstimmung!“ Die n… | |
im Theaterbesucher wieder hervorgekitzelt, lebendig werden soll. Ganz im | |
Sinne des tunesisch-schwedischen Autors Jonas Hassen Khemiri, der sich mit | |
„Ich rufe meine Brüder“ auf einen dschihadistisch gemeinten | |
Selbstmordanschlag eines gebürtigen Irakers in seiner Heimstadt Stockholm | |
2010 bezieht – mit der Folge, dass Fremdes gar keine Chance mehr auf | |
Sexyness hatte, bedrohlich empfunden wurde und vorurteilsbeladene | |
Verdächtigungen die alltägliche Wahrnehmung der Gesellschaft begleiteten. | |
Den Reflex zur pauschalen Verdächtigung, der um Sicherheit besorgten Bürger | |
wollte Khemiri dramatisch aufarbeiten. Dazu erfand er Amor, der erkennen | |
muss: Seine Physiognomie entspricht dem Stereotyp des muslimischen | |
Terroristen. | |
Schnell fühlt er sich fremd in seiner Stadt, wird sich selbst suspekt, weil | |
er meint, Terrorpanikaugen schauen ihn anklagend an, beobachten, verfolgen | |
und bedrohen ihn. Wenn er in seinem Rucksack kramt, in der Straßenbahn ein | |
Buch in einer anderen Sprache liest, unsicher guckt oder unterwegs in der | |
Fußgängerzone eine hastige Bewegung macht – wird dann hinter den | |
Überwachungskameras bereits eine polizeiliche Ermittlung eingeleitet? Oder | |
ist er nun selbst paranoid? | |
Angstenergie und Spielfreude | |
„Kommt mir so vor, als ob sich alles in meinem Kopf abspielt“, haucht es | |
schließlich aus Trabelsis Amorkörper hervor, der sich immer kleiner zu | |
machen versucht und ängstlich in Hockstellung herumschleicht. Wenn er | |
schließlich zum Gebet niederkniet wird daraus schnell ein beschämtes, | |
wurmartiges Davonkriechen, begleitet von bangen Blicken: Hoffentlich hat | |
keiner die religiöse Äußerung bemerkt. Amor möchte lieber gar nicht und | |
wenn schon, wenigstens positiv auffallen. | |
So versucht er, den Werbeaufkleber eines Apfels ordnungsgemäß, in einen | |
Mülleimer zu entsorgen, um zu vermitteln, so einer zu sein, „der nicht so | |
einer ist“. Regisseurin Babett Grube macht daraus in ihrer fein | |
ausgearbeiteten Inszenierung eine sich durch Angstenergie und Spielfreude | |
auszeichnende herrliche Slapsticknummer mit einem nicht von der Hand | |
lösbaren Klebebandfitzel. Dieser wird so ganz nebenbei zum Stigma des | |
Andersseins – das auch Amor anhaftet. | |
Auch die Panik wächst und gedeiht. Irgendwann identifiziert sich der | |
Beklebte mit den Vorurteilen und wird der, für den ihn alle halten: eine | |
Zeitbombe, ein Killer. Grube lässt das mit vitaler Jungsfantasie ausleben | |
in einer Superhelden-Show: Amor kämpft, mit einer absurden Komik, mit einem | |
imaginären Messer gegen ein fantasiertes Heer von Polizisten und eine | |
Armada von Hubschraubern. Aber auch die Zuschauer bekommen Aufkleber auf | |
die Stirn geklebt – und werden damit gekennzeichnet. So läuft es | |
psychologisch nun mal, wenn sich Menschen in Labyrinthen der Angst | |
verirren: Jeder wird Projektionsfläche der Ängste der Anderen: Die | |
Terrorängstlichen sehen in Amor einen bösen Araber, der wiederum sieht | |
schon aus purer Existenzangst in ihnen die bösen Rassisten. Bis Grube die | |
Darsteller die Zuschauertribüne entern lässt, um ein „Wir haben keine | |
Angst“-Mantra vorzustellen. | |
Rasanter Spielduktus | |
Damit diese Inszenierung auch noch den Geschmack des jungen Publikums | |
trifft, wartet sie noch zuletzt mit einer gewissen Großfamilien-Comedy, mit | |
Kumpel-Karikaturen und einer Liebes- und Stalking-Geschichte auf. Diese | |
mündet in eine Balkonszene von Romeo Amor und seiner nicht Julia sein | |
wollenden Sandkastenfreundin. Die deutsche Übersetzung des Stücks bleibt | |
dabei authentisch im Jargon. | |
Allein vom rasanten Spielduktus her macht diese Inszenierung Mut, nicht | |
gesellschaftliche Zuschreibungen, sondern eigene Selbstentwürfe zum | |
Lebensspiel zu erklären. Und so verbringen ein Araber und 90 Deutsche 65 | |
Minuten in einem Raum. | |
## | |
22 Apr 2015 | |
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[2] /Kommentar-Terrorwarnung-in-Bremen/!155595/ | |
## AUTOREN | |
Jens Fischer | |
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