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# taz.de -- Jugendthater mit Schwächen: Katastrophale Rettung
> Gnadenlos: Das Bremer Moks deckt die Schwächen von Dennis Kellys
> Erfolgsstück „Waisen“ auf.
Bild: Noch sind die Hemden weiß, aber gleich wird es blutig
Bis 2010 war Dennis Kelly ein Star des neuen britischen Theaters. Seine
Stücke wurden wegen ihrer enormen Gewaltfreudigkeit für etwas mit jenen
eisigen Bühnenhöllen Verwandtes gehalten, die Sarah Kane zehn Jahre zuvor
angerichtet hatte.
Dann hat Kelly seinen Welterfolg gelandet mit smarten Dialogen für die
Musicalfassung von Roald Dahls bezauberndem Roman „Matilda“. Und seither
fallen seine Schocklustspiele bei der Kritik durch, eins nach dem anderen.
Klar, wer so etwas Süßes wie „Matilda“ schreibt, dessen Grauen- und
Blutrunst-Behauptungen stoßen auf mehr Misstrauen als zuvor.
Und halten nicht stand. Dass auch die früheren Sachen so ihre Mängel haben,
das mindestens belegt jetzt das Bremer Moks: In der Regie von Konradin
Kunze hatte dort Kellys Kammerspiel „Waisen“ Premiere. In spartanischem
Dekor entfaltet es die Geschichte von Liam, einem jungen Mann, der aus
rassistischen Motiven einen Passanten niedergestochen, gefesselt und in
einen Schuppen gesperrt hat. Und davon, wie Liams Schwester ihren leidlich
spießigen Mann Danny dazu bringt, zum Mittäter zu werden: Grund dafür soll
sein, dass Helen und Liam durch den Tod ihrer Eltern traumatisiert, eben
Waisen sind.
## Fehlende Plausibilität
Selbst 2009, als das Stück mit Preisen überhäuft worden und ein
Riesenerfolg war, hatte die Kritik teils die fehlende Plausibilität des
Plots [1][gerügt], teils Anstoß an Kellys „stop-start-dialogue“ genommen,
der irgendwann dann doch zu aufgesetzt, zu stilisiert [2][wirken könnte]
„Also habt ihr so eine Art … Ding“ „Ja“, „So eine Art … Feier, ein
romantisches …“. Oder: „Meinst du, dass …“, „Ja“, „Nein, bist d…
manchmal, …?“ „Nein, ich weiß nicht. Ja vielleicht schon …“
Das sind Aposiopesen. Während Ellipsen nur schnoddrig über
Selbstverständlichkeiten huschen, bezeichnet die klassische Rhetorik als
Aposiopesen ein Sprechen, dem vor lauter mitschwingender Drohung und
unbewältigtem Leidens- und Zorndruck die Sätze abbrechen, bevor das
Wichtigste gesagt wäre. Das kann einen tollen Effekt haben, Heinrich von
Kleist und Friedrich Hebbel sind Meister der Aposiopese. Aber in dieser
Häufung …?
Und eben: Damit es anderthalb Stunden lang Wirkung entfaltet, bedürfte es
eines extrem disziplinierten Sprechens, das dem Stocken realistische Wucht
verliehe oder umgekehrt die Künstlichkeit von Kellys Masche auf die Spitze
triebe, egal wie.
Jedenfalls wäre zu verhindern, dass die drei DarstellerInnen ihren Text so
Larifari sprechen, wie es Kunze Meret Mundwiler, Julian Anatol Schneider
und Christoph Vetter durchgehen lässt. Die können so viel mehr, sonst! Aber
das erstickt alles Unbekannte, das doch in den Pausen und Brüchen lauern
müsste.
So jedoch verrät sich nur das Klipp-Klapp-Schema von Sprache und Handlung:
Wenn Christoph Vetter als Liam blutbefleckt im Raum steht und beteuert, ein
Opfer erstversorgt zu haben, ist offensichtlich, dass er nur seine eigene
Tat verschleiert. Wenn erst Julian Anatol Schneider als ihr Mann empört auf
Mundwilers Überlegungen reagiert, ob sie ihre Schwangerschaft abbrechen
sollte, dann ist bereits absehbar, dass er sie zum Schluss zur Abtreibung
auffordern wird.
Auf Klipp folgt Klapp. Und dazwischen gibt’s anstelle von Höhepunkten
maximal explizite Gewaltfantasien. Kein Geheimnis. Kein Abgrund.
## Flucht in den V-Effekt
Richtig daneben aber geht es, wo er dem Stück selbst zurecht misstraut –
und versucht, es doch zu retten. Tatsächlich ist es ja komplett
unglaubwürdig, dass der eher überkorrekte Danny sich dazu bewegen ließe,
gemeinsam mit seinem Schwager loszuziehen, und dessen Opfer richtig fertig
zu machen. Helfen könnte vielleicht ein beherzter Strich, ein Abbruch, ein
Aufgehen in Surrealismus, ein Ende ohne Ende.
Kunze flieht stattdessen in den V-Effekt, um, paradox, die Illusion zu
retten. Julian Schneider wirft die Zweifel an der Entwicklung seiner Figur
Danny ins Publikum, danach darf Abdul Aboras sich als selbstbewusstes
Opfer anschreien lassen und anschließend wird wieder im Ton des Anfangs
gestammelt. Nein, Spaß macht das alles ohnehin keinen. Aber es weckt wohl
auch kein Grauen.
nächste Vorstellungen: Sa, 2.12., 19 Uhr, Bremen, Moks; dann wieder ab
5.2.2018
1 Dec 2017
## LINKS
[1] https://www.theguardian.com/stage/2009/oct/09/orphans-review
[2] http://www.telegraph.co.uk/culture/theatre/edinburgh-festival/6022532/Orpha…
## AUTOREN
Benno Schirrmeister
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