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# taz.de -- Nachwuchs entert Bühne: In einer weißen Zelle
> Ein superjunges Team zeigt am Bremer Moks eine etwas zu unruhige
> Inszenierung von Holger Schobers Einpersonenstück „Hikikomori“.
Bild: Seine Matratze begräbt den namenlosen Hikikomori Christoph Vetter.
Sauber aufgeräumt ist das karge Zimmer, viel zu sauber, zwanghaft sauber:
Eine mit hellen Laken bezogene Matratze, ein Waschbecken, und umlaufen wird
die Brauhauskeller-Bühne des Bremer Theaters von einem Beet heller
[1][Zengarten]-Kiesel. Die Rückwand bildet ein durch rechtwinklige Gefache
unterteilter Holzrahmen, in den Zora Hünermann und Alexander Pfeiffenberger
eine milchige Projektionsfläche gespannt haben: So elegant spielt ihre
Bühne mit dem Japanismus der Vorlage. Denn dieses Zimmer ist das
freigewählte Gefängnis der Titelfigur von [2][Holger Schobers Stück
„Hikikomori“], das jetzt am zweiten November-[3][Samstag Premiere hatte].
In ihm wird Christoph Vetter wüten, seinen Erinnerungen nachhängen – und
seinem Waschzwang frönen. Fünf-, sechsmal zieht er, vom Selbstekel gepackt,
sein blaues T-Shirt aus, um seinen Oberkörper am Waschbecken mit brutaler
Hektik zu schrubben und sich dann ein neues blaues T-Shirt überzustreifen.
„Ich stinke nach mir“, schreit er die leeren Wände seiner weißen Zelle an.
## Kassiber an die Eltern
Für die Produktion hat die Kinder- und Jugendsparte des Bremer Theaters,
das Moks, mutig ganz auf Nachwuchs gesetzt: Ausstatter Marvin Uhde hat
gemeinsam mit Pfeiffenberger an der Bremer Hochschule für Künste studiert,
Hünermann ist von dort an die Wiener Universität für angewandte Künste
gewechselt. Sie kennt Regisseur Klaas H. Bartsch seit 2011 von Produktionen
der Jungen Akteure: Die vor zehn Jahren gegründete Moks-Theaterschule hat
Bartsch vor seinem Studium in Hildesheim so komplett wie sonst keiner
durchlaufen. Nur gerade eben bringt es dieses vierköpfige Team auf über 100
Lebensjahre – so funktioniert Nachwuchs-Förderung.
Versagt hat die bei den Hikikomori, also: den Sich-Wegschließenden. Denn so
heißen Menschen, meist sind es junge Männer, die wegen Leistungsdrucks und
Versagensangst an der Schwelle zum Erwachsenwerden kapitulieren: Sie ziehen
sich in ihr Zimmer zurück, reduzieren den Kontakt zur Außenwelt auf
Kassiber mit Essenswünschen an die Eltern – und Aufenthalte in Chatrooms.
Angeblich verbreitet sich diese neubeschriebene, web-gestützte
Soziophobie-Form unter den Kindern von Japans Mittel- und Oberschicht
epidemisch. Aber auch in Deutschland ist Schätzungen zufolge jeder achte
Jugendliche gefährdet. Mit der kulturellen Bearbeitung des Themas begonnen
hatten Manga- und Anime-AutorInnen, am eindrucksvollsten sicher Tatsuhiko
Takimoto in seiner auf Deutsch beim Hamburger Carlsen Verlag erschienenen
achtbändigen Novel „[4][Welcome to the N.H.K.!]“.
Schober ist ein [5][Kenner] auch dieser oft geschmähten Jugendkultur. Seine
Texte gewinnen viel ihrer Rasanz durch seine fröhlich schamlosen
Bezugnahmen auf – beispielsweise – Comics. So ist die namenlose Titelfigur
des Einpersonenstücks Hikikomori, die sich in Erinnerungen an die
Demütigungen seiner Kindheit ergeht, ein gealterter Charlie Brown nach
Schulabschluss: „Ich glaube nicht“, sagt er, „dass sich irgendjemand, mit
dem ich mal in einer Klasse war, an mich erinnert.“
## Charlie Browns große Liebe
Das Einzige, was ihn, spinnwebdünn, an die Welt bindet, ist die Erinnerung
an den stets verzehrend erhofften, stets hoffnungslos unerfüllten Kontakt
zum rothaarigen Mädchen, dem er immer nur beinahe begegnet ist. Mit dem er
einmal im Mai 1998 [6][beinahe] getanzt hätte. Nur leider ist dann doch was
[7][dazwischen gekommen]. Bei Charles M. Schulz war Snoopy schneller (und
[8][attraktiver]). Bei Schober hat er ihr im Augenblick der Erfüllung vor
Aufregung übers Kleid gekotzt. Im Chat taucht diese ferne Geliebte als
[9][Rosebud] auf, [10][Rosenknospe].
Im Zimmer spielt die Matratze ihre Rolle als Tanzpartnerin: Kraftvoll fährt
Vetter mit ihr Schlitten, walzt sie durchs Zimmer, bis sie ihn unter sich
begräbt – allerdings nur kurz. Zu kurz: Dieses Stück bräuchte ab und an
mehr als 20 Sekunden Stille. Doch für die Kontraste hat Bartsch in seinem
Regie-Erstling die Ruhe gefehlt: Während er mit gutem Gespür Komik und
wilde Ausbrüche des Textes ausspielen lässt, fehlen seinem Hikikomori
Momente des Leerlaufs. So gerät zu Zappelei, was quälende Unruhe sein
sollte. Um wirklich zu berühren, bräuchte dieser Gefangene seiner selbst
ein wenig Lethargie. Und etwas bleierne Schwere.
17 Nov 2015
## LINKS
[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Kare-san-sui
[2] http://www.pegasus-agency.de/verlag/autor/Holger%20Schober
[3] http://theaterbremen.de/de_DE/spielplan/hikikomori.1055111#termine
[4] https://www.carlsen.de/serie/welcome-to-the-nhk/18324
[5] http://www.rowohlt-theaterverlag.de/stueck/Otaku.2926175.html
[6] http://www.gocomics.com/peanuts/1998/05/21
[7] http://www.gocomics.com/peanuts/1998/05/22
[8] http://www.gocomics.com/peanuts/1998/05/25
[9] http://peanuts.wikia.com/wiki/Citizen_Kane
[10] https://www.youtube.com/watch?v=TrtEFCMuuZI
## AUTOREN
Benno Schirrmeister
## TAGS
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