# taz.de -- Der Comic ist die Rettung: Superheld, Superschurkin und die Erlösu… | |
> In „Out of Control“ entfliehen die Akteure des Bremer Moks der totalen | |
> Kontrolle und retten sich mit analoger Technik und einem gealterten | |
> Batman ins Dark Web. | |
Bild: Die Akteure stehen gebeugt über die Leuchttische: Während sie die Folie… | |
BREMEN taz | Im Anfang ist die Zersplitterung: Als Projektionen geistern, | |
fragmentiert, in Ultra-Nahaufnahme, die Gesichter der SpielerInnen, hier | |
ein Auge, da ein Mund, über die in riesige Rahmen gespannten Leinwände, | |
hinter denen sich zugleich ihre Silhouetten bewegen. Die ganze Bühne | |
beherrscht diese verwinkelte Holzkonstruktion, die wirkt wie die vage | |
Erinnerung an eine expressionistische Stadt. Und die ganze Welt ist aus den | |
Fugen, hier, im Moks, der Spielstätte der Jugendsparte des [1][Bremer | |
Theaters]. Von irgendwo schräg hinten kratzt röchelnd eine Geige. Immer | |
wieder sprotzt sie denselben verendenden Ton in den dunklen Raum. | |
Die Personen, die einander mit denselben Vornamen anreden, die auch ihre | |
DarstellerInnen Lina Hoppe, Meret Mundwiler, Benjamin Nowitzky, Walter | |
Schmuck und Christoph Vetter tragen, haben die Orientierung verloren: | |
Manchmal wisse er nicht, wo er herkommt, sagt der schlaksig an einer Wand | |
im Hintergrund hochklimmende Benjamin, ob aus dem Süden, dem Westen, „geht | |
euch das auch so?“ Und Hoppe, also die Lina, weist ihn herrisch zurecht: | |
„Also du kommst aus dem Osten“, rüffelt sie den in Dresden geborenen | |
Schauspieler, „und hier ist Norden. Merk dir das endlich mal“: Eine | |
kalauernde Pointe, die die Verunsicherung nur kurz betäuben kann und | |
überspielt. | |
„Out of Control“, so heißt die neue Produktion des Moks, Premiere war am | |
Samstag, und sie belegt zunächst einmal erneut, dass Jugendsparte in Bremen | |
sehr gutes Theater bedeutet, bei dem einerseits junge Menschen nicht | |
wegdämmern – die Empfehlung lautet hier: ab 13 Jahre. Und das andererseits | |
mit fast rabiat eigenständiger ästhetischer Setzung gewiefte Schauspielfans | |
begeistern oder zu schocken vermag: Wegen dieser Qualität sind die Bremer | |
beim norddeutschen Jugendtheaterfestival „Hart am Wind“, das Ende Mai | |
erstmals in Hamburg [2][steigt], als einzige Bühne mit gleich zwei Stücken | |
im Programm. Und hätte die Jury „Out of Control“ noch sehen können, es | |
wären wohl drei geworden, großartig experimentell wie die Produktion ist. | |
Entwickelt hat sie das Bochumer Performing-Arts-Team „[3][kainkollektiv]“ | |
zusammen mit dem Medienkollektiv Sputnic. Die zwei Gruppen arbeiten oft | |
zusammen, seit Jahren schon. Und anders, ohne so eingespielte Partner, wäre | |
eine Produktion wohl undenkbar, die fiktionale und reale, digitale, analoge | |
und komplett handwerkliche Ebenen – die AkteurInnen produzieren mit | |
Klarinette, Geige, Flöte, Klavier Trommeln und gekonntem Mantelflattern für | |
den Live-Soundtrack – einander so souverän verwirrend verschränkt und | |
durcheinander wirbelt, wie dieses Stück. | |
Dessen Handlung entspinnt sich zwischen den Polen eines beängstigenden | |
Kontrollverlusts in einer Welt, die in den nächsten Krieg zu gleiten | |
scheint, und dem Wunsch, einen Ort jenseits einer fast totalen Überwachung | |
zu erreichen: In einer solchen Welt, die man vor Edward Snowden noch naiv | |
als paranoide Dystopie gedeutet hätte, leben die fünf Personen. Der | |
Kontrolle zu entrinnen, diese Hoffnung treibt sie an: Bloß wie? | |
Na, durch die Kunst natürlich. Die Erlösung soll durch ein kollektiv | |
entwickeltes Comic erlangt werden. Und Comic ist eine gute Entscheidung. | |
Denn diese hybride Gattung ist seit jeher der bevorzugte Spielort für | |
[4][geheime Codes] einer eingeweihten [5][Community gewesen], der | |
Identitätstransformationen und -verwirrungen: Nirgends ist die | |
Zersplitterung des Lebens so explizit wie im Comic, der sie durch die | |
Ränder der Panels zum Grundmuster seiner Welten macht. Im Moks nun ist die | |
ins Dark Web upgeloadete Graphic Novel Eintrittskarte für einen subversiven | |
internationalen Comic-Kongress, und für den gobal vernetzten neuen | |
Untergrund. Das Werk heißt, natürlich, „Out of Control“. | |
Es ist ein Batman-Sequel: Der Superheld, stark gealtert, schmerbäuchig und | |
mit senilen Aussetzern – er vernachlässigt die eherne Regel, sich zu Hause | |
nur als Bruce Wayne, also ohne Fledermaus-Outfit, zu zeigen und Robin muss | |
ihn zudem auf den dringend überfälligen Strumpfhosenwechsel hinweisen –, | |
versucht Gotham, die Mutter aller Städte, zu retten: Eine Superschurkin | |
namens Axis (wie die „axis of evil“) oder Access (wie eine vermaledeite | |
Software) unterzieht alle Kinder einer Fernhypnose, sobald sie auf ihr | |
mobiles Endgerät blicken. Hahaha!, oh ja, Meret Mundwiler kann lang und | |
ausgiebig böse lachen: Die Kleinen schnallen sich Sprengstoffgürtel um, | |
besteigen ein Bauwerk und …Smash! Hier hat Julia Zejn doch tatsächlich rote | |
Spritzer in ihre [6][fein-ironischen Schwarz-Weiß Zeichnungen] integriert. | |
Regisseur und Videokünstler Nils Voges lässt diese in einer wunderschöne | |
Live-Animation zum Leben erwecken – mithilfe von Overhead-Projektoren. Also | |
mit diesen langhalsigen Geräten, die früher in der Schule nie so richtig | |
funktionierten (oder vielleicht hatten die Lehrkräfte die Handhabung nie | |
ganz verstanden), und die längst durch Whiteboards und Beamer ersetzt | |
worden sind. | |
Es geht eine seltsame Faszination von solchen analogen Techniken aus. Deren | |
theatralen Wert haben auch andere Performer entdeckt, zuerst vermutlich der | |
Hamburger Grafik-Designer Pencil Quincy, der seit Jahren | |
Live-Zeichentrickvideos für die Shows von Country-Performer Digger Barnes | |
[7][gestaltet]. Er sitzt dabei am Bühnenrand, bewegt gezeichnete Autos und | |
Figuren durch eine Modelllandschaft und die werden gefilmt und | |
ausgestrahlt. | |
Hier aber stehen die fünf Akteure gebeugt über die Leuchttische, und | |
während sie die Folien mit den Zeichnungen bewegen, sprechen sie die | |
Figuren des Comics, gehen in ihnen auf: Das Projektionsprojizieren | |
verschmilzt mit dem Spektakel, ähnlich wie bei jenen Puppentheatern, wo die | |
Puppenspieler auf der Bühne zusammen mit ihren Figuren auftreten, und beide | |
erscheinen wie einander [8][wechselseitig] ergänzende Schatten: Körper, | |
Seele, Maske, DarstellerInnen sind eins, ohne zusammenzufallen. Also so, | |
wie immer in sehr gutem Theater. | |
9 Mar 2016 | |
## LINKS | |
[1] http://www.theaterbremen.de/ | |
[2] http://www.schauspielhaus.de/de_DE/hartamwind | |
[3] http://kainkollektiv.de/ | |
[4] http://www.english.ufl.edu/imagetext/archives/v8_2/mahmutovic_et_al/ | |
[5] http://www.english.ufl.edu/imagetext/archives/v5_3/harpold/ | |
[6] http://www.juliazejn.de/ | |
[7] http://pencilquincy.org/index.php/magic-machine/ | |
[8] http://gutenberg.spiegel.de/buch/-593/1 | |
## AUTOREN | |
Benno Schirrmeister | |
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