# taz.de -- Ukraine-Geflüchtete in Berlin: Lieber hungern als nach Tegel | |
> Viele Ukrainer*innen meiden die Anmeldung aus Angst Berlin verlassen | |
> zu müssen, sagen Ehrenamtliche. Neue Anlaufstelle gibt praktische Hilfe. | |
Bild: Valentina Kryvenco aus Odessa in der Beratung bei „WiramAlex“ mit ein… | |
BERLIN taz | Es ist still geworden um das Thema Ukraine-Geflüchtete in | |
Berlin. Es gibt keine Bilder mehr von erschöpften Frauen und Kindern am | |
Hauptbahnhof oder ZOB. Es kommen deutlich weniger Menschen als zu | |
Kriegsbeginn, Senat und Flüchtlingshelfer beobachten sogar eine kleine | |
Rückkehrbewegung unter Ukrainer*innen. Weitgehend unsichtbar für die | |
Öffentlichkeit leben dennoch Zehntausende neue Geflüchtete in der Stadt – | |
und nicht wenige haben große Probleme zu überleben. | |
„Zu uns kommen Menschen und sagen, dass ihre Kinder hungern, weil sie kein | |
Geld für Lebensmittel haben“, sagt Diana Henniges, Gründerin und Chefin von | |
Moabit hilft. Tag für Tag holen sich nach ihrer Darstellung 150 bis 300 | |
Menschen gespendete Lebensmittel und Hygieneartikel in der Turmstraße. Dort | |
residiert der Verein, der in der Lageso-Krise von 2015 mit der | |
Flüchtlingsarbeit anfing, auf dem Gelände des Amtes, das damals für | |
Geflüchtete zuständig war. Und es ist wie damals, scheint es: „Wir haben | |
jetzt so viel mit den Ukrainer*innen zu tun, dass wir kaum noch | |
Kapazitäten mehr haben für die Syrer und alle anderen.“ | |
Auf Initiative von Henniges wurde darum Ende April das „WiramAlex“ | |
eröffnet, eine neue Anlaufstelle am Alexanderplatz, die Moabit hilft mit | |
anderen Hilfsorganisationen wie Berlin hilft und der Ärztegewerkschaft | |
Marburger Bund ins Leben gerufen hat. Dort gibt es eine Ausgabestelle für | |
Lebensmittel und Hygieneartikel, eine Kleiderkammer und Wohnungsbörse sowie | |
medizinische Versorgung. Dazu bekommen Geflüchtete auch Beratung zu | |
Asylverfahren und Sozialleistungen. | |
Denn die Lage ist kompliziert geworden. Anfangs kamen Tausende | |
Ukrainer*innen privat unter, niemand kontrollierte das. Sogar Geld beim | |
Sozialamt gab es ohne Registrierung, weil Flüchtlinge aus der Ukraine | |
pauschal als Kriegsflüchtlinge gelten. Inzwischen hat der Senat jedoch | |
beschlossen, dass Flüchtlinge aus der Ukraine nur unter bestimmten | |
Bedingungen in Berlin bleiben dürfen, im Wesentlichen: wenn sie eine | |
Unterkunft für mindestens sechs Monate haben oder Arbeit oder Verwandte in | |
der Stadt. | |
## Freizügigkeit nicht für Mittellose | |
Geflüchtete, auf die das nicht zutrifft, bekommen laut Sozialverwaltung nur | |
noch eine „Hilfe zur Überbrückung besonderer sozialer Härten“, aber keine | |
Sozialhilfe mehr. Stattdessen werden sie aufgefordert, sich beim | |
Ankunftszentrum in Tegel zu melden. Dort wird ein Großteil der | |
Ukraine-Geflüchteten in andere Bundesländer verteilt, etwa 36 Prozent | |
bekommen laut Sozialverwaltung eine Zuweisung für Berlin. | |
Im „WiramAlex“ melden sich zu 90 Prozent Menschen, die nicht registriert | |
sind, sagt Henniges, am Tag vor dem taz-Besuch seien es rund 120 gewesen. | |
Sie wüssten nicht, wo und wie man sich registriert und welche Bedingungen | |
man erfüllen muss, um in Berlin bleiben zu können – „oder sie wissen es u… | |
haben Angst, fort zu müssen aus Berlin“. Immerhin hätten sie sich gerade | |
einzuleben begonnen, viele würden ohnehin lieber heute als morgen | |
zurückgehen. „Wir versuchen, sie dazu zu bewegen, nach Tegel zu gehen und | |
sich registrieren zu lassen, damit sie ein Anrecht auf Hilfen haben“, sagt | |
Henniges – aber viele wollten eben nicht. | |
Und es sei absurd, kritisiert sie, wenn der europäische | |
Freizügigkeitsgedanke nur für jene gelte, die nicht auf Hilfe angewiesen | |
seien. „Eine linke Sozialsenatorin sollte sich auch um jene kümmern, die | |
gerade durch alle Hilferaster fallen – anstatt sie aus Berlin zu | |
vergraulen.“ Konkret fordert Henniges von Katja Kipping (Linke) eine | |
Sonderregelung für Menschen, die für weniger als sechs Monate Wohnraum | |
haben oder etwa am 31. August, zu Beginn des Ausbildungsjahrs, eine | |
Ausbildung anfangen – damit sie zur Überbrückung staatliche Hilfen bekommen | |
können. | |
Dadurch würde allerdings das bundesweite Verteilsystem „faktisch | |
ausgehebelt“, erwidert Stefan Strauss, Sprecher der Sozialsenatorin, auf | |
taz-Anfrage. [1][„Bereits jetzt kann sich Berlin auf 50.000 bis 100.000 | |
Neu-Berlinerinnen aus der Ukraine einstellen“], es brauche für sie | |
Kitaplätze, Wohnungen, besondere Hilfen bei Behinderung etc. Damit für alle | |
möglichst gut gesorgt werden könne, sei es wichtig, dass andere | |
Bundesländer Berlin entlasten. | |
## Konferenz im Roten Rathaus | |
Dass Geflüchtete teilweise zögerten, sich an LAF oder LEA zu wenden, habe | |
verschiedene Gründe, so der Sprecher. Der Situation, dass sie dadurch | |
mittellos dastehen, „kann vor allem durch Information und Beratung begegnet | |
werden“. Die Regeln, nach denen der Zugang zu Sozialleistungen | |
funktioniert, „kommunizieren wir über verschiedene Kanäle“ – etwa [2][d… | |
Konferenz für Gastgeber*innen am Sonntag] im Roten Rathaus. | |
Valentina Kryvenco findet das bisherige System ungerecht. Sie hat keinen | |
Gastgeber, der ihr für mindestens sechs Monate Unterkunft bestätigt, darum | |
sind ihre Chancen auf Papiere für Berlin wohl eher schlecht. Die | |
Mittfünfzigerin wartet an diesem Vormittag in der Mollstraße auf ein | |
Beratungsgespräch und erzählt auf Englisch ihre Geschichte. Zu Beginn des | |
Krieges floh sie aus Odessa nach Kiew, wo sie Tage und Nächte in der U-Bahn | |
verbrachte, als die Stadt bombardiert wurde. „Dort hatte ich einen | |
psychischen Zusammenbruch und wusste, ich muss gehen.“ Von der | |
polnisch-ukrainischen Grenze brachte sie ein Mann zusammen mit anderen | |
Geflüchteten per Auto nach Deutschland. | |
So kam sie nach Delmenhorst. „Die deutsche Familie dort war nett, aber dann | |
bekamen alle Corona.“ Kryvenco fühlte sich isoliert, es gab keine | |
Dolmetscher, keine Informationen. „Ich habe viel geweint, fühlte mich | |
schwindelig, bekam einen Ausschlag im Gesicht“ – psychosomatisch bedingt, | |
meint sie selbst. Jemand riet ihr, nach Berlin zu gehen, weil es hier | |
Netzwerke und Hilfsvereine wie Moabit hilft gibt. Wieder fand sie eine | |
„sympathische Familie, die mich aufnahm“, berichtet sie, die sei auch mit | |
ihr zum Sozialamt gegangen. „Aber dort sagte man mir, ich dürfe nicht | |
bleiben, müsse zurück nach Delmenhorst.“ | |
Auch das junge Paar aus Sumy in der Ost-Ukraine, das am Nebentisch wartet, | |
hat Ärger mit Berliner Behörden, ihren Namen wollen sie aus Angst vor | |
negativen Folgen nicht in der Zeitung sehen. Sie sind zu Beginn des Krieges | |
geflohen und durch Vermittlung einer Berliner Freundin privat | |
untergekommen. Sie seien auch schon beim Landeseinwanderungsamt online | |
registriert, erzählen sie, aber weil er Marokkaner ist – er hat in der | |
Ukraine Medizin studiert –, wüssten sie nicht, ob er eine | |
Aufenthaltserlaubnis bekommt. „Vorige Woche beim Sozialamt wollten sie mir | |
erst kein Geld geben“, erzählt der junge Mann. Er glaubt, man will ihn als | |
Drittstaatsangehörigen nicht in Deutschland haben. „Beim Sozialamt sagten | |
sie, ich solle in meine Heimat zurückgehen.“ | |
## Unklare Lage für Drittstaatler | |
Tatsächlich ist die Situation für Drittstaatsangehörige aus der Ukraine | |
besonders kompliziert. Seit Kriegsbeginn sollen rund 230.000 | |
Nicht-Ukrainer*innen geflohen sein – darunter viele Studierende aus Afrika | |
und Indien. In Deutschland sind sie rechtlich nur vorübergehend den | |
Ukrainer*innen gleichgestellt, erklärt Timon Bühler von der | |
Flüchtlingsberatung des Beratungs- und Betreuungszentrums für junge | |
Geflüchtete und Migranten (BBZ), die derzeit „sehr viele“ Anfragen von | |
Drittstaatlern haben. | |
Zwar dürfen sich auch Drittstaatler*innen bis Ende August hierzulande | |
visumfrei aufhalten, aber eine Aufenthaltserlaubnis sollen sie laut | |
Verordnung des Bundesinnenministeriums nur bekommen, „wenn die Ausreise ins | |
Heimatland unmöglich ist“. Ausgenommen davon sind laut Bühler nur | |
Familienangehörige von Ukrainer*innen sowie in der Ukraine anerkannte | |
Flüchtlinge. Der BBZ-Berater befürchtet daher, dass viele | |
Drittstaatler*innen in ihre Länder zurückgeschickt werden sollen. In | |
Brandenburg hätten schon einige eine „Grenzübertrittsbescheinigung“ | |
ausgestellt bekommen – ein Dokument, das Behörden berechtigt, die | |
Abschiebung durchzusetzen. | |
Hoffnung macht dem Berater dagegen, wie Hamburg mit dem Thema umgeht: „Dort | |
soll den Menschen jetzt sehr unkompliziert der Zugang zu den Universitäten | |
und der damit verbundenen Aufenthaltserlaubnis ermöglicht werden“, | |
berichtet er – und hofft, dass Berlin bald nachzieht. „Aber so lange das | |
Vorgehen der hiesigen Behörden unklar ist, wissen wir nicht, was wir | |
Hilfesuchenden raten sollen.“ Sollen sie einen Antrag auf Aufenthalt beim | |
Einwanderungsamt stellen, damit sie Hilfen bekommen können? Diese | |
Unklarheit – gepaart mit zunehmender Geldnot – setze den Drittstaatlern | |
sehr zu. | |
Auch Georg Classen vom Flüchtlingsrat bestätigt Henniges’ Diagnose, dass es | |
derzeit viele Ukraine-Flüchtlinge in der Stadt gibt, die nicht einmal das | |
Nötigste haben: „Es gibt ein Defizit der staatlichen Stellen bei der | |
Sicherung des Existenzminimums.“ Dies liege zum einen an der unsicheren | |
Lage für Drittstaatler*innen, aber auch an nicht funktionierenden | |
Sozialämtern, wo Ukrainer*innen teils vier Wochen auf ihre Leistungen | |
warten müssten – und an der „Zwangsverteilung“. | |
Diese führe in der Tat dazu, dass viele Ukrainer*innen nur vor der Wahl | |
„Hunger oder Umzug“ stehen, sagt Classen – und sich oft für Ersteres | |
entscheiden. Zudem bekomme der Flüchtlingsrat vermehrt Meldungen, dass | |
Menschen, die in kleine Orte verteilt wurden, schlecht behandelt wurden. So | |
seien Roma-Familien nach Görlitz gebracht worden, wo es nur Vollverpflegung | |
gegeben habe, nicht einmal Taschengeld, mit dem man Medikamente für die | |
Kinder hätte kaufen können. „Sie sind jetzt wieder in Berlin.“ | |
12 May 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Ausbeutung-von-Gefluechteten/!5854266 | |
[2] https://www.berlin.de/ukraine/helfen/informations-und-dankesveranstaltung-f… | |
## AUTOREN | |
Susanne Memarnia | |
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Franziska Giffey | |
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