| # taz.de -- Streit um das Erbe: Sie macht jetzt einfach | |
| > Seit Kurzem ist Katja Kipping Senatorin für Integration, Arbeit und | |
| > Soziales in Berlin. Die Ex-Linken-Chefin blüht auf. Ihrer Partei geht es | |
| > schlecht. | |
| Wo ist nur der Raum mit der Giraffe? Katja Kipping nimmt zielstrebig die | |
| Treppe in die Lobby des Tierparkhotels, bleibt kurz stehen, wendet sich | |
| nach rechts und lugt durch eine halb offene Tür. | |
| Das Hotel, in dem Kipping herumirrt, ist ein modernisierter Plattenbau in | |
| Ostberlin. Es hat 278 Zimmer auf zehn Etagen und etliche Tagungsräume. | |
| Gegenüber, gleich hinter einer vierspurigen Straße, liegt der noch vor dem | |
| Mauerbau eröffnete Tierpark in einer riesigen Parkanlage. | |
| Während der Coronazeit wurde das Hotel zum Ausbildungshotel. Hier konnten | |
| Berliner Azubis, deren Betriebe während des Lockdowns dichtmachten, ihre | |
| Ausbildung beenden, finanziert vom Berliner Senat. Die Linke | |
| Sozialsenatorin Elke Breitenbach hat das Projekt eingefädelt. Ihre | |
| Nachfolgerin ist seit Dezember Katja Kipping. An einem Montag im Mai macht | |
| sie sich ein Bild von Breitenbachs Vermächtnis. Doch vorher wandelt sie auf | |
| den Spuren ihrer Vergangenheit. | |
| Hier muss sie sein, die Giraffe. Katja Kipping betritt den Raum „Serengeti“ | |
| und klatscht einmal in die Hände. Tatsächlich. Die Wand an der Stirnseite | |
| ist mit einem gigantischem Giraffenkopf bemalt. „Die Giraffe hat uns immer | |
| so lustig über die Schultern geschaut, wenn wir hier getagt haben“, freut | |
| sich Kipping. Als Kipping noch Vorsitzende der Linkspartei war, traf sich | |
| der Vorstand hier manchmal zur Klausur. „Nächste Woche sind wir wohl wieder | |
| hier, aber diesmal ohne mich“, sagt Kipping. 2021 gab sie den Parteivorsitz | |
| der Linken, den sie 9 Jahre gemeinsam mit Bernd Riexinger innehatte, ab. | |
| Ein dreiviertel Jahr später wurde sie Linke Senatorin für Integration, | |
| Arbeit und Soziales in Berlin. In einer Dreierkoalition mit der SPD und den | |
| Grünen. | |
| Nun leitet sie ein Haus mit vier Abteilungen, drei Stabsstellen, fünf | |
| nachgeordneten Behörden und 2.300 Mitarbeiter:innen. Sie kümmert sich um | |
| Geflüchtete, um Obdachlose, um Azubis, 60 Stunden die Woche. „Es geht mir | |
| blendend“, sagt Kipping. | |
| Die Diskrepanz zur Linkspartei könnte damit nicht größer sein. [1][Der geht | |
| es schlecht, richtig dreckig.] Als Kipping und Riexinger im Februar '21 | |
| ihre Posten räumten, hätten laut Umfrage nur noch 7 Prozent der | |
| Wähler:innen für die Linke gestimmt. In den Bundestag war die Linke im | |
| Herbst dann mit Ach und Seufz eingezogen. Mit 4,9 Prozent – dank dreier | |
| Direktmandate. | |
| Drei Landtagswahlen gingen seither krachend verloren. Im Saarland, in | |
| Schleswig-Holstein und in Nordrhein-Westfalen rutschten die Linken auf das | |
| Niveau der Tierschutzpartei. Die bundesweiten Umfragen sehen sie | |
| mittlerweile bei 4 Prozent. Wäre der Bundestag ein Tierpark, stünde die | |
| Linke inzwischen auf der Roten Liste – vom Aussterben bedroht. | |
| Die Hilfeschreie aus der Partei mehren sich. Es gibt öffentliche Aufrufe | |
| und offene Briefe, jetzt klares Profil zu zeigen, geschlossen zu stehen und | |
| mit einer Stimme zu sprechen. Aber wie sieht es aus, das klare Profil? | |
| Davon gibt es in der Linken ganz unterschiedliche Vorstellungen. Die | |
| Fronten in der Partei sind verhärtet, verschiedene Lager werfen sich | |
| gegenseitig vor, nicht links genug zu sein, zu linksdogmatisch, zu | |
| regierungsfreundlich oder zu oppositionsfixiert, zu kriegstreiberisch oder | |
| zu realitätsfern, zu grün oder zu wenig ökologisch. | |
| In der Partei, die Frieden und Solidarität zum Prinzip erklärt, tobt seit | |
| Jahren ein Bürgerkrieg. Die einen fordern Rückbesinnung auf die Linke als | |
| soziale Protestpartei, die anderen wollen die Linke modernisieren. | |
| Besonders tief sind die Schützengräben in der Bundestagsfraktion. Da | |
| bekommen neue Mitarbeiter:innen der Abgeordneten an ihrem ersten Tag | |
| schon mal eine Einweisung, mit welchen Büros der eigenen Fraktion man | |
| kooperiert und mit welchen nicht. | |
| Zu gesellschaftlichen Megathemen, ob innen- oder außenpolitisch, findet die | |
| Linke schon lange keine klare Sprache mehr. Die Abstimmungen im Bundestag, | |
| allein in den vergangenen 12 Monaten, sprechen für sich: Beim | |
| Evakuierungseinsatz von Ortskräften aus Afghanistan enthielt sich die | |
| Mehrheit der Fraktion, bei der Impfpflicht in Pflegeheimen und | |
| Krankenhäusern enthielt man sich, beim Lieferkettengesetz enthielt man | |
| sich, zur Frage, ob die Bundesregierung die Ukraine auch mit Waffen | |
| unterstützen sollte, stimmte die Linke mit Nein. Wenigstens weiß man noch, | |
| wogegen man ist. | |
| Aber das Wofür ist den meisten Wähler:innen inzwischen unklar. Und so | |
| trudelt die Linke, mit sich selbst beschäftigt, der eigenen | |
| Bedeutungslosigkeit entgegen. | |
| Kippings Fähigkeit, Kompromisse für ihre Partei auszuhandeln und | |
| mitzutragen, die viele loben, war mit dafür verantwortlich, dass Großfragen | |
| ungeklärt blieben, um die jetzt neu gerungen werden muss. Beim Thema EU | |
| etwa war die Linke gelähmt zwischen zwei extremen Positionen: einer | |
| Republik Europa – also einem europäischen Superstaat – oder ihrer | |
| Zerschlagung. Die Grünen waren da klarer und gewannen bei der Europawahl | |
| 2019 dazu, während die Linke verlor. | |
| Ende Juni trifft man sich zum Parteitag in Erfurt. Dort soll ein Neuanfang | |
| gelingen – inhaltlich und auch personell. Bereits zum zweiten Mal innerhalb | |
| von zwei Jahren sucht die Linke nach Nachfolger:innen für Kipping und | |
| Riexinger. Das erst im Februar vergangenen Jahres nach mehreren Anläufen | |
| gewählte Spitzenduo trennte sich im April dieses Jahres schon wieder. | |
| Susanne Hennig-Wellsow warf hin, zermürbt von den internen Machtkämpfen und | |
| widmet sich nun lieber ihrer Familie. [2][Janine Wissler], angeschlagen | |
| durch Sexismusvorwürfe in ihrem Landesverband, denen sie ihren | |
| Kritiker:innen zufolge nicht konsequent nachgegangen sei, stellt sich | |
| zur Wiederwahl. | |
| Seltsam führungslos irrt die Partei nun durch die Zeitenwende, dominiert | |
| durch eine geschrumpfte Fraktion, in der einige Moskau-freundliche | |
| Hardliner den Ton angeben. | |
| Mancher sehnt sich schon nach den Zeiten zurück, als Kipping und Riexinger | |
| noch Parteivorsitzende waren. Auch damals gab es permanent Krach zwischen | |
| der Parteiführung und der Fraktionsspitze. „Aber Riexinger und Kipping | |
| haben wenigstens die Partei geführt“, seufzt ein Mitglied des | |
| Parteivorstandes. Wenn Großereignisse auf die Tagesordnung drängten, hauten | |
| die beiden 5- oder 7-Punkte-Papiere im Namen der Linken heraus: zur | |
| Willkommenskultur, für gute Arbeit oder zum Linken Klimaschutz, und gaben | |
| so die inhaltliche Linie vor. | |
| Machen Sie sich eigentlich keine Sorgen um ihr Vermächtnis, Frau Kipping? | |
| Eigentlich schon, sagt sie, tatsächlich aber habe sie keine Zeit dazu. Sie | |
| hat jetzt einen anderen Job, statt 5-Punkte-Pläne zu erarbeiten und Streit | |
| zu schlichten, muss sie Vorgänge abzeichnen und Probleme lösen: „Meine | |
| gesamte Energie fließt in das, was ich gerade mache.“ Kipping trägt die | |
| Hauptverantwortung – nicht mehr für eine Partei mit 60.000 Mitgliedern, | |
| sondern für eine Stadt mit fast vier Millionen Einwohnern, in der jede:r | |
| Fünfte als arm gilt, wo 40.000 Menschen kein Obdach haben, in der prekäre | |
| Arbeit als Normalarbeitsverhältnis gilt. Für eine Linke Sozialsenatorin | |
| kann es eigentlich kein lohnenderes Betätigungsfeld geben. | |
| Als die taz Katja Kipping Anfang Januar zum ersten Interview in ihrer neuen | |
| Position trifft, faltet sie gerade ein paar Aktenmappen. Kipping hat ihr | |
| Büro in dem langgestreckten Backsteinbau im Stadtteil Kreuzberg erst vor | |
| Kurzem bezogen. Hinter ihr an der Wand hängt ein Gemälde, das noch eine | |
| ihrer Amtsvorgängerinnen aufhängen ließ. Kipping kneift die Augen zusammen. | |
| „Finden Sie nicht auch, dass das Bild schief hängt?“ Kaum wahrnehmbar, | |
| aber sie scheint es zu stören. | |
| Kipping spricht über das, was sie in den nächsten 5 Jahren umsetzen will | |
| und versteckt sich dabei zuweilen hinter sperrigen Fachbegriffen. Sie will | |
| eine „branchenspezifische Ausbildungsabgabe“ einführen – ein Umlagesystem | |
| für Betriebe, die nicht ausbilden, an solche, die ausbilden –, „Housing | |
| First“ vorantreiben – ein Projekt zur Überwindung der Obdachlosigkeit in | |
| Berlin – und den Zuzug Geflüchteter besser managen. „Es gibt Prognosen, | |
| dass wir im ersten Quartal des neuen Jahres ein Defizit von über 500 | |
| Unterbringungsplätzen haben werden“, sagt sie. | |
| Leicht verschätzt. | |
| Am Donnerstag, den 24. Februar, überfällt Putins Armee die Ukraine, Raketen | |
| zerstören Wohnhäuser, Soldaten massakrieren Zivilisten, Millionen | |
| Ukrainer:innen flüchten. Berlin wird zum Drehkreuz und Kipping zur | |
| Krisenmanagerin. Zehntausende Menschen kommen in den ersten Wochen am | |
| Berliner Hauptbahnhof und am Busbahnhof an. | |
| Der Senat kommt zur Sondersitzung zusammen, Krisenstäbe werden neu | |
| aufgestellt, der ehemalige Flughafen Tegel zum Ankunftszentrum umgewidmet, | |
| wo bis zu 500 Menschen für ein, zwei Nächte untergebracht werden können.„Es | |
| gab keinen Vorlauf, keine Blaupause“, sagt Kipping. „Wir mussten einfach | |
| handeln.“ | |
| Der Kollaps bleibt aus. Bilder von Geflüchteten, die wochenlang vor dem | |
| Lageso ausharren, um zu erfahren, wie es weitergeht, die monatelang in | |
| Turnhallen campieren, gibt es diesmal nicht. Auch weil die | |
| Ukrainer:innen nicht wie einst die syrischen Geflüchteten komplizierte | |
| Asylverfahren durchlaufen müssen, sondern ohne Visum einreisen und sich von | |
| Anfang an frei im ganzen Land bewegen dürfen. | |
| Kipping ist ganz zufrieden mit ihrer Bilanz, als sie Ende Mai zum | |
| Ankunftszentrum Tegel fährt, um [3][freiwilligen Helfer:innen], die sich | |
| um Geflüchtete kümmern, Ehrenamtsurkunden zu überreichen. In einer Baracke, | |
| die einst als Autovermietung diente, haben sich etwa 50 Menschen im | |
| Halbkreis vor einer Stellwand mit den Namen von Wohlfahrtsverbänden und dem | |
| Slogan „Wir helfen Berlin“ versammelt. Vor ihnen steht Kipping und spricht | |
| in ein Mikrofon. 238.000 Menschen sind seit Februar aus der Ukraine in | |
| Berlin angekommen, 45.000 von ihnen haben Sozialleistungen in Berlin | |
| beantragt. „Hinter all diesen Zahlen steckt unglaublich viel Arbeit“, sagt | |
| sie. | |
| Besonders beeindruckend sei die Geschwindigkeit gewesen. Sie sei ja selbst | |
| erst seit wenigen Monaten in der Verwaltung und habe lernen müssen, wie | |
| lange manche Vorgänge dauerten. „Allein so eine Ausschreibung, um eine neue | |
| Sekretärin zu gewinnen, das ist ein Projekt für Monate.“ Nun aber musste | |
| alles ganz schnell gehen. „Berlin hat es geschafft, dass wir keine | |
| Turnhallen aufmachen mussten“, sagt sie. Das verdanke man auch den vielen | |
| Freiwilligen. „Also Ihnen. Dafür mein tiefster Respekt“, sagt Kipping, legt | |
| eine Hand auf die Brust und verneigt sich. Sie ermuntert die Leute, auch | |
| auf Probleme hinzuweisen, „denn wir stehen ja in der Pflicht, immer wieder | |
| Dinge zu verbessern“. | |
| Das tun die Ehrenamtlichen gern. Eine Frau mit rasierten Schläfen hat sich | |
| bereits während Kippings Rede immer wieder flüsternd zu ihrer Nachbarin | |
| gebeugt. Sie gehört zu einer Gruppe von Ehrenamtlichen, die | |
| Ukrainer:innen am Hauptbahnhof in Empfang nehmen. | |
| „Wir sind fast wieder am Anfang“, schimpft sie. Wenn Menschen auf die | |
| Toilette gehen wollten, bräuchten sie erst einen Chip, dazu müssten sie | |
| durch den halben Bahnhof laufen. Wieso der Senat nicht mal mit den privaten | |
| Betreibern verhandele, damit die Klos immer zugänglich sind? Und: „Es kommt | |
| kaum jemand von der Politik vorbei, der sich erkundigt, was wir brauchen.“ | |
| Immerhin gebe es jetzt rund um die Uhr medizinische Betreuung. Ihre Urkunde | |
| holt die Frau dennoch ab. | |
| Den Vorwurf, dass niemand sich am Hauptbahnhof blicken lasse, weist Kipping | |
| empört zurück. Ihr Büroleiter sei täglich vor Ort, um alles direkt mit den | |
| Freiwilligen zu besprechen, sie selbst wiederholt, auch unangemeldet, dort | |
| gewesen. Und mit den Toilettenbetreibern habe man permanent nachverhandelt. | |
| Aber einfach Geld zu überweisen, das gehe eben nicht. „Es muss immer alles | |
| belegbar sein.“ | |
| Willkommen in den Mühlen der Realpolitik. Als Vorsitzende der Linkspartei | |
| präsentierte Kipping die ganz großen Entwürfe: offene Grenzen für alle, weg | |
| mit Hartz IV, eine soziale Mindestsicherung für jeden. Ja, sagt sie, die | |
| Spielräume auf Landesebene seien begrenzt. Eigentlich bräuchte es viel mehr | |
| Umverteilung, deutlich bessere Sozialleistungen und einen höheren | |
| Mindestlohn. Doch statt Reiche zu besteuern, schließt sie gerade Verträge | |
| mit der Kassenärztlichen Vereinigung ab, um die Akutbehandlung von | |
| Geflüchteten aus der Ukraine zu regeln. Dennoch sei es schön, zu sehen, | |
| dass sich Dinge bewegen. | |
| „Was ich hier mache, ist das Gegenteil von Vergeblichkeit, zwar noch nicht | |
| in Perfektion, aber immerhin“, sagt sie. Was sie mit Vergeblichkeit meine? | |
| „Permanent Vorschläge zu machen, die nie umgesetzt werden.“ | |
| In der Linkspartei gehörte Kipping zu jenen, die ausdauernd für ein | |
| rot-rot-grünes Regierungsbündnis auf Bundesebene warben. Für den Fall von | |
| Sondierungen hatte sie vor der Bundestagswahl schon ein umfangreiches | |
| Papier zu ihren Themen Arbeit und Soziales vorbereitet. Das schlechte | |
| Ergebnis der Linkspartei machte es jedoch obsolet. Dass sie nun dennoch in | |
| einem rot-rot-grünen Bündnis regieren kann, verdankt sie dem Berliner | |
| Landesverband. Bei der Landtagswahl, die im Herbst parallel zur | |
| Bundestagswahl stattfand, musste die Linke zwar leichte Verluste | |
| verkraften. Für eine Dreierkoalition mit SPD und Grünen reichte es im | |
| Dezember dennoch. | |
| Gedanken über ihre Zukunft hatte sich Kipping schon länger gemacht. Mit | |
| gerade mal 43 Jahren hatte sie in der Linkspartei fast alles erreicht. 1999 | |
| zog sie als jüngste Abgeordnete für die damalige PDS in den sächsischen | |
| Landtag, 2005 als eine der jüngsten Abgeordneten für die Linkspartei in den | |
| Bundestag, mit 34, kurz nach der Geburt ihrer Tochter, wurde sie | |
| Parteivorsitzende. | |
| Ihre Gegenkandidatin auf dem Göttinger Parteitag 2012 kam aus Hamburg, doch | |
| ihr eigentlicher Konkurrent war jahrelang der Ostdeutsche Dietmar Bartsch. | |
| Eigentlich gehören beide zum gleichen Lager der eher pragmatischen | |
| Reformer. Doch mit ihrer erfolgreichen Kandidatur hatte Kipping Bartsch den | |
| Weg an die Parteispitze verbaut. | |
| Bartsch verzieh Kipping nie. | |
| Der Fraktionsvorsitz wäre für Kipping eigentlich der nächste logische | |
| Schritt gewesen. Doch Bartsch, inzwischen selbst Fraktionschef, sorgte | |
| dafür, dass Kippings Hoffnungen auf den Posten sich nicht erfüllten. Sein | |
| in der Fraktion geschmiedetes Mehrheitsbündnis aus Pragmatikern und | |
| orthodoxen Linken, intern als Hufeisen bezeichnet, wählte 2019 die | |
| weitgehend unbekannte Amira Mohamed Ali zur Ko-Fraktionsvorsitzenden. An | |
| der Konstellation hat sich bis heute nichts geändert. | |
| Als sich der Berliner Kultursenator Klaus Lederer im November 2021 mit | |
| Kipping zum Frühstück traf und ihr den Posten als Senatorin anbot, musste | |
| sie nicht lange überlegen. Nach 16 Jahren verließ sie den Bundestag. | |
| „Es war Zeit, dass sie ihre viele Facharbeit endlich mal in die Praxis | |
| einfließen lässt.“ Johanna Bussemer von der parteinnahen | |
| Rosa-Luxemburg-Stiftung arbeitet seit Jahren mit Kipping zusammen. Sie sind | |
| auch befreundet. Was Bussemer über die Politikerin Katja Kipping erzählt, | |
| deckt sich mit dem, was andere berichten: Fleißig und diszipliniert sei | |
| Kipping, extrem gut strukturiert und zielstrebig. | |
| „Sie hat schon immer ein ziemliches Tempo vorgelegt“, erinnert sich ihr | |
| langjähriger Ko-Vorsitzender Bernd Riexinger an die ersten Monate mit | |
| Kipping an der Parteispitze. Kipping war schon als sächsische | |
| Landespolitikerin eine, die selbst nach einer Party im Morgengrauen | |
| aufstand und zum Bahnhof fuhr, um am anderen Ende der Republik einen | |
| Vortrag zum bedingungslosen Grundeinkommen zu halten. Vor einem Häuflein | |
| Zuhörer:innen. So erzählt es ein ehemaliger Mitstreiter. | |
| Als Sozialpolitikerin hatte sie sich auch im Bundestag über Parteigrenzen | |
| hinweg einen guten Ruf erworben. Martin Pätzold, arbeitsmarktpolitischer | |
| Sprecher der CDU im Berliner Abgeordnetenhaus, hat mit Kipping von 2013 bis | |
| 2017 im Bundestagsausschuss für Arbeit und Soziales gesessen. | |
| Damals waren die Rollen vertauscht – Pätzold gehörte zur | |
| Regierungsfraktion, Kipping zur Opposition. Dennoch habe man sachlich und | |
| auch auf menschlicher Ebene gut zusammengearbeitet, erzählt Pätzold. „Ich | |
| teile ihre Sichtweise zwar nicht, habe aber persönlich Respekt vor ihrem | |
| Engagement.“ | |
| Nur in der Linkspartei wollten manche das partout anders sehen. Im | |
| parteiinternen Streit zwischen der Fraktionsvorsitzenden Sahra Wagenknecht | |
| und der Parteivorsitzenden Katja Kipping etikettierten die Anhängerinnen | |
| Wagenknechts Kipping als Lifestyle-Linke, die verantwortlich dafür sei, | |
| dass sich die Linke angeblich nicht mehr um soziale Themen kümmere. Der | |
| Cicero bezeichnete Kipping noch im Dezember als „Exponentin einer Strömung, | |
| die auf postmoderne Orientierung der Linken setze, mit Gender- und | |
| Lifestylethemen.“ | |
| Hinter der personalisierten Auseinandersetzung zwischen zwei | |
| selbstbewussten Frauen steckte in Wirklichkeit ein knallharter | |
| Richtungsstreit. Wagenknecht wirbt für ein „linkskonservatives Programm“, | |
| für eine Linke, die sich auf soziale Fragen innerhalb nationalstaatlicher | |
| Grenzen konzentriert. Eine Art Retro-Linke also, die sich der von der | |
| Ampelregierung verbreiteten Modernisierungseuphorie entgegenstemmt. Die EU | |
| ist Wagenknecht suspekt, ebenso wie nach Europa strebende Migrant:innen. | |
| Ein Ansatz, den Kipping für brandgefährlich hält. Gemeinsam mit Riexinger | |
| arbeitete sie als Parteivorsitzende daran, die Ex-PDS und | |
| Anti-Hartz-IV-Partei ins 21. Jahrhundert zu hieven. Nur „als | |
| ‚sozialrebellischer Arm‘ eines Green New Deal“ habe die Linke eine Chance, | |
| heißt es in einem von Kipping mitverfassten Aufsatz vom Herbst. | |
| Dass dieser Weg der erfolgversprechendere sein könnte, deutet sich bei der | |
| Mitgliedschaft an, wo in den vergangenen 10 Jahren ein Generationenwechsel | |
| stattfand. Fast die Hälfte der 60.000 Mitglieder starb, jüngere füllten die | |
| Reihen, vor allem in den westlichen Bundesländern und den Großstädten. Ende | |
| des Jahres waren 30 Prozent der Linken-Mitglieder unter 30 Jahre alt. Für | |
| ein Zurück-in-die-90er-Programm lassen sie sich nicht begeistern. | |
| Doch auch mit dem Abtritt der beiden Antagonistinnen Wagenknecht und | |
| Kipping als Partei- und Fraktionschefinnen geht der Kampf um die | |
| Diskurshoheit in der Linken weiter. In einem in dieser Woche | |
| veröffentlichten Aufruf für eine Populäre Linke, den auch Wagenknecht | |
| unterzeichnete, heißt es, man dürfe sich nicht auf bestimmte Milieus | |
| verengen, müsse auch Menschen erreichen, für die Arbeit und Familie | |
| wichtiger seien als politischer Aktivismus. | |
| In die theoretischen Kämpfe ihrer Partei mischt sich Kipping nicht mehr | |
| ein. Sie muss sich jetzt um praktische Dinge kümmern. Etwa die Frage, ob | |
| das Ausbildungshotel am Tierpark nicht auch ein Modell sein könnte für die | |
| von ihr favorisierte Ausbildungsabgabe, die der CDUler Pätzold | |
| „Zwangsumlage“ nennt. | |
| ## Kipping wird nicht zum Parteitag fahren | |
| Die Direktorin des Hotel, eine kleine, drahtige Frau im Jeanskleid, führt | |
| Kipping erst in die Lehrküche, dann in den Schulungsraum. Kipping unterhält | |
| sich mit den Ausbildern und zwei Azubis und probiert ein | |
| Rote-Beete-Häppchen. „Was erwarten Sie von der Politik?“, fragt sie und | |
| macht sich auf einem Schreibblock Notizen. | |
| „Das hier ist gelebte Politik, die Jugendlichen sehen doch, dass die | |
| Politik mal anpackt und hilft“, sagt der Ausbildungsleiter und schaut die | |
| beiden Azubis, zwei Jungs im Teenageralter, auffordernd an. Die nicken. Als | |
| ihre Restaurants ihnen kündigten, fungierte das Tierparkhotel als | |
| Notlösung. Inzwischen stellen die Betriebe zwar wieder ein, aber sie wollen | |
| die Ausbildung trotzdem hier beenden. | |
| „Ist viel besser als den ganzen Tag Burger braten“, meint der eine. | |
| Ob das Hotel die Auswirkungen des Ukrainekriegs zu spüren bekomme, will | |
| Kipping wissen. „Aber hallo, wir haben hier extreme Preiserhöhungen, dit is | |
| nicht mehr lustig“, meint die Direktorin. Man wisse gerade nicht, welche | |
| Herausforderung die größere sei – das fehlende Personal oder die steigenden | |
| Preise. Sie verabschiedet sich mit festem Händedruck und blickt zu Kipping, | |
| die noch im Gespräch ist. „Die Frau Kipping, die ist schon eine gestandene | |
| Frau. Die soll mal in ihrer Partei aufräumen. Tut einem ja in der Seele | |
| weh, was die Linke da treibt.“ | |
| Aber darum müssen sich nun andere kümmern. Kipping wird auch nicht zum | |
| Parteitag fahren. Sie werde ihn über einen Online-Stream aus der Ferne | |
| verfolgen. Und wie sieht sie die Zukunft ihrer Partei? Kipping holt Luft. | |
| Dann sagt sie leise auf Russisch: „Nadeshda umirajet posledni.“ Das heißt: | |
| Die Hoffnung stirbt zuletzt. | |
| 4 Jun 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Katina-Schubert-zur-Krise-der-Linken/!5853403 | |
| [2] /Neuwahl-der-Linken-Parteispitze/!5853463 | |
| [3] /Fluechtlingshelferinnen-in-Berlin/!5854619 | |
| ## AUTOREN | |
| Anna Lehmann | |
| ## TAGS | |
| Lesestück Recherche und Reportage | |
| Die Linke | |
| Podcast „Vorgelesen“ | |
| Katja Kipping | |
| Berliner Senat | |
| Berlin-Mitte | |
| Schwerpunkt Flucht | |
| Die Linke | |
| Die Linke | |
| Flüchtlinge | |
| Schwerpunkt Flucht | |
| Franziska Giffey | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Wohnungslose in Berlin: Berlins größte Wärmestube | |
| Bis zu 300 Obdachlose können im Hofbräu Wirtshaus in Mitte eine warme | |
| Mahlzeit bekommen. Im Frühjahr soll der Tagestreff nach Friedrichshain | |
| umziehen. | |
| Hilfe für Ukraine-Flüchtlinge in Berlin: Am Hauptbahnhof wird's eng | |
| Nach vier Monaten Krieg ist die Luft raus: Die Freiwilligen an Berlins | |
| Bahnhöfen brauchen mehr Spenden und Helfer. Ein Besuch beim Hygienestand. | |
| Janis Ehling über die Linkspartei: „Wir haben einen großen Umbruch“ | |
| Die Linkspartei habe „kein Recht, sich selbst aufzugeben“, sagt Janis | |
| Ehling. Der 36-jährige Ostberliner will ihr neuer Bundesgeschäftsführer | |
| werden. | |
| Vor dem Bundesparteitag: Wechsel im Linken-Maschinenraum | |
| Auf dem Parteitag Ende Juni wird Jörg Schindler nicht wieder als | |
| Bundesgeschäftsführer kandidieren. Janis Ehling möchte sein Nachfolger | |
| werden. | |
| Diskriminierung von Geflüchteten: Schutz und Vorurteil | |
| Während Berlin die ukrainischen Geflüchteten vor Ausbeutung schützen will, | |
| ergreift der Bund repressive Maßnahmen. Ein Wochenkommentar. | |
| Ukraine-Geflüchtete in Berlin: Lieber hungern als nach Tegel | |
| Viele Ukrainer*innen meiden die Anmeldung aus Angst Berlin verlassen zu | |
| müssen, sagen Ehrenamtliche. Neue Anlaufstelle gibt praktische Hilfe. | |
| Debatte zum 1. Mai im Abgeordnetenhaus: Grüne beim Rumeiern erwischt | |
| Aus SPD-Sicht distanzieren sich die Grünen nicht ausreichend von dem | |
| Angriff auf Regierungschefin Franziska Giffey (SPD). |