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# taz.de -- Streit um das Erbe: Sie macht jetzt einfach
> Seit Kurzem ist Katja Kipping Senatorin für Integration, Arbeit und
> Soziales in Berlin. Die Ex-Linken-Chefin blüht auf. Ihrer Partei geht es
> schlecht.
Wo ist nur der Raum mit der Giraffe? Katja Kipping nimmt zielstrebig die
Treppe in die Lobby des Tierparkhotels, bleibt kurz stehen, wendet sich
nach rechts und lugt durch eine halb offene Tür.
Das Hotel, in dem Kipping herumirrt, ist ein modernisierter Plattenbau in
Ostberlin. Es hat 278 Zimmer auf zehn Etagen und etliche Tagungsräume.
Gegenüber, gleich hinter einer vierspurigen Straße, liegt der noch vor dem
Mauerbau eröffnete Tierpark in einer riesigen Parkanlage.
Während der Coronazeit wurde das Hotel zum Ausbildungshotel. Hier konnten
Berliner Azubis, deren Betriebe während des Lockdowns dichtmachten, ihre
Ausbildung beenden, finanziert vom Berliner Senat. Die Linke
Sozialsenatorin Elke Breitenbach hat das Projekt eingefädelt. Ihre
Nachfolgerin ist seit Dezember Katja Kipping. An einem Montag im Mai macht
sie sich ein Bild von Breitenbachs Vermächtnis. Doch vorher wandelt sie auf
den Spuren ihrer Vergangenheit.
Hier muss sie sein, die Giraffe. Katja Kipping betritt den Raum „Serengeti“
und klatscht einmal in die Hände. Tatsächlich. Die Wand an der Stirnseite
ist mit einem gigantischem Giraffenkopf bemalt. „Die Giraffe hat uns immer
so lustig über die Schultern geschaut, wenn wir hier getagt haben“, freut
sich Kipping. Als Kipping noch Vorsitzende der Linkspartei war, traf sich
der Vorstand hier manchmal zur Klausur. „Nächste Woche sind wir wohl wieder
hier, aber diesmal ohne mich“, sagt Kipping. 2021 gab sie den Parteivorsitz
der Linken, den sie 9 Jahre gemeinsam mit Bernd Riexinger innehatte, ab.
Ein dreiviertel Jahr später wurde sie Linke Senatorin für Integration,
Arbeit und Soziales in Berlin. In einer Dreierkoalition mit der SPD und den
Grünen.
Nun leitet sie ein Haus mit vier Abteilungen, drei Stabsstellen, fünf
nachgeordneten Behörden und 2.300 Mitarbeiter:innen. Sie kümmert sich um
Geflüchtete, um Obdachlose, um Azubis, 60 Stunden die Woche. „Es geht mir
blendend“, sagt Kipping.
Die Diskrepanz zur Linkspartei könnte damit nicht größer sein. [1][Der geht
es schlecht, richtig dreckig.] Als Kipping und Riexinger im Februar '21
ihre Posten räumten, hätten laut Umfrage nur noch 7 Prozent der
Wähler:innen für die Linke gestimmt. In den Bundestag war die Linke im
Herbst dann mit Ach und Seufz eingezogen. Mit 4,9 Prozent – dank dreier
Direktmandate.
Drei Landtagswahlen gingen seither krachend verloren. Im Saarland, in
Schleswig-Holstein und in Nordrhein-Westfalen rutschten die Linken auf das
Niveau der Tierschutzpartei. Die bundesweiten Umfragen sehen sie
mittlerweile bei 4 Prozent. Wäre der Bundestag ein Tierpark, stünde die
Linke inzwischen auf der Roten Liste – vom Aussterben bedroht.
Die Hilfeschreie aus der Partei mehren sich. Es gibt öffentliche Aufrufe
und offene Briefe, jetzt klares Profil zu zeigen, geschlossen zu stehen und
mit einer Stimme zu sprechen. Aber wie sieht es aus, das klare Profil?
Davon gibt es in der Linken ganz unterschiedliche Vorstellungen. Die
Fronten in der Partei sind verhärtet, verschiedene Lager werfen sich
gegenseitig vor, nicht links genug zu sein, zu linksdogmatisch, zu
regierungsfreundlich oder zu oppositionsfixiert, zu kriegstreiberisch oder
zu realitätsfern, zu grün oder zu wenig ökologisch.
In der Partei, die Frieden und Solidarität zum Prinzip erklärt, tobt seit
Jahren ein Bürgerkrieg. Die einen fordern Rückbesinnung auf die Linke als
soziale Protestpartei, die anderen wollen die Linke modernisieren.
Besonders tief sind die Schützengräben in der Bundestagsfraktion. Da
bekommen neue Mitarbeiter:innen der Abgeordneten an ihrem ersten Tag
schon mal eine Einweisung, mit welchen Büros der eigenen Fraktion man
kooperiert und mit welchen nicht.
Zu gesellschaftlichen Megathemen, ob innen- oder außenpolitisch, findet die
Linke schon lange keine klare Sprache mehr. Die Abstimmungen im Bundestag,
allein in den vergangenen 12 Monaten, sprechen für sich: Beim
Evakuierungseinsatz von Ortskräften aus Afghanistan enthielt sich die
Mehrheit der Fraktion, bei der Impfpflicht in Pflegeheimen und
Krankenhäusern enthielt man sich, beim Lieferkettengesetz enthielt man
sich, zur Frage, ob die Bundesregierung die Ukraine auch mit Waffen
unterstützen sollte, stimmte die Linke mit Nein. Wenigstens weiß man noch,
wogegen man ist.
Aber das Wofür ist den meisten Wähler:innen inzwischen unklar. Und so
trudelt die Linke, mit sich selbst beschäftigt, der eigenen
Bedeutungslosigkeit entgegen.
Kippings Fähigkeit, Kompromisse für ihre Partei auszuhandeln und
mitzutragen, die viele loben, war mit dafür verantwortlich, dass Großfragen
ungeklärt blieben, um die jetzt neu gerungen werden muss. Beim Thema EU
etwa war die Linke gelähmt zwischen zwei extremen Positionen: einer
Republik Europa – also einem europäischen Superstaat – oder ihrer
Zerschlagung. Die Grünen waren da klarer und gewannen bei der Europawahl
2019 dazu, während die Linke verlor.
Ende Juni trifft man sich zum Parteitag in Erfurt. Dort soll ein Neuanfang
gelingen – inhaltlich und auch personell. Bereits zum zweiten Mal innerhalb
von zwei Jahren sucht die Linke nach Nachfolger:innen für Kipping und
Riexinger. Das erst im Februar vergangenen Jahres nach mehreren Anläufen
gewählte Spitzenduo trennte sich im April dieses Jahres schon wieder.
Susanne Hennig-Wellsow warf hin, zermürbt von den internen Machtkämpfen und
widmet sich nun lieber ihrer Familie. [2][Janine Wissler], angeschlagen
durch Sexismusvorwürfe in ihrem Landesverband, denen sie ihren
Kritiker:innen zufolge nicht konsequent nachgegangen sei, stellt sich
zur Wiederwahl.
Seltsam führungslos irrt die Partei nun durch die Zeitenwende, dominiert
durch eine geschrumpfte Fraktion, in der einige Moskau-freundliche
Hardliner den Ton angeben.
Mancher sehnt sich schon nach den Zeiten zurück, als Kipping und Riexinger
noch Parteivorsitzende waren. Auch damals gab es permanent Krach zwischen
der Parteiführung und der Fraktionsspitze. „Aber Riexinger und Kipping
haben wenigstens die Partei geführt“, seufzt ein Mitglied des
Parteivorstandes. Wenn Großereignisse auf die Tagesordnung drängten, hauten
die beiden 5- oder 7-Punkte-Papiere im Namen der Linken heraus: zur
Willkommenskultur, für gute Arbeit oder zum Linken Klimaschutz, und gaben
so die inhaltliche Linie vor.
Machen Sie sich eigentlich keine Sorgen um ihr Vermächtnis, Frau Kipping?
Eigentlich schon, sagt sie, tatsächlich aber habe sie keine Zeit dazu. Sie
hat jetzt einen anderen Job, statt 5-Punkte-Pläne zu erarbeiten und Streit
zu schlichten, muss sie Vorgänge abzeichnen und Probleme lösen: „Meine
gesamte Energie fließt in das, was ich gerade mache.“ Kipping trägt die
Hauptverantwortung – nicht mehr für eine Partei mit 60.000 Mitgliedern,
sondern für eine Stadt mit fast vier Millionen Einwohnern, in der jede:r
Fünfte als arm gilt, wo 40.000 Menschen kein Obdach haben, in der prekäre
Arbeit als Normalarbeitsverhältnis gilt. Für eine Linke Sozialsenatorin
kann es eigentlich kein lohnenderes Betätigungsfeld geben.
Als die taz Katja Kipping Anfang Januar zum ersten Interview in ihrer neuen
Position trifft, faltet sie gerade ein paar Aktenmappen. Kipping hat ihr
Büro in dem langgestreckten Backsteinbau im Stadtteil Kreuzberg erst vor
Kurzem bezogen. Hinter ihr an der Wand hängt ein Gemälde, das noch eine
ihrer Amtsvorgängerinnen aufhängen ließ. Kipping kneift die Augen zusammen.
„Finden Sie nicht auch, dass das Bild schief hängt?“ Kaum wahrnehmbar,
aber sie scheint es zu stören.
Kipping spricht über das, was sie in den nächsten 5 Jahren umsetzen will
und versteckt sich dabei zuweilen hinter sperrigen Fachbegriffen. Sie will
eine „branchenspezifische Ausbildungsabgabe“ einführen – ein Umlagesystem
für Betriebe, die nicht ausbilden, an solche, die ausbilden –, „Housing
First“ vorantreiben – ein Projekt zur Überwindung der Obdachlosigkeit in
Berlin – und den Zuzug Geflüchteter besser managen. „Es gibt Prognosen,
dass wir im ersten Quartal des neuen Jahres ein Defizit von über 500
Unterbringungsplätzen haben werden“, sagt sie.
Leicht verschätzt.
Am Donnerstag, den 24. Februar, überfällt Putins Armee die Ukraine, Raketen
zerstören Wohnhäuser, Soldaten massakrieren Zivilisten, Millionen
Ukrainer:innen flüchten. Berlin wird zum Drehkreuz und Kipping zur
Krisenmanagerin. Zehntausende Menschen kommen in den ersten Wochen am
Berliner Hauptbahnhof und am Busbahnhof an.
Der Senat kommt zur Sondersitzung zusammen, Krisenstäbe werden neu
aufgestellt, der ehemalige Flughafen Tegel zum Ankunftszentrum umgewidmet,
wo bis zu 500 Menschen für ein, zwei Nächte untergebracht werden können.„Es
gab keinen Vorlauf, keine Blaupause“, sagt Kipping. „Wir mussten einfach
handeln.“
Der Kollaps bleibt aus. Bilder von Geflüchteten, die wochenlang vor dem
Lageso ausharren, um zu erfahren, wie es weitergeht, die monatelang in
Turnhallen campieren, gibt es diesmal nicht. Auch weil die
Ukrainer:innen nicht wie einst die syrischen Geflüchteten komplizierte
Asylverfahren durchlaufen müssen, sondern ohne Visum einreisen und sich von
Anfang an frei im ganzen Land bewegen dürfen.
Kipping ist ganz zufrieden mit ihrer Bilanz, als sie Ende Mai zum
Ankunftszentrum Tegel fährt, um [3][freiwilligen Helfer:innen], die sich
um Geflüchtete kümmern, Ehrenamtsurkunden zu überreichen. In einer Baracke,
die einst als Autovermietung diente, haben sich etwa 50 Menschen im
Halbkreis vor einer Stellwand mit den Namen von Wohlfahrtsverbänden und dem
Slogan „Wir helfen Berlin“ versammelt. Vor ihnen steht Kipping und spricht
in ein Mikrofon. 238.000 Menschen sind seit Februar aus der Ukraine in
Berlin angekommen, 45.000 von ihnen haben Sozialleistungen in Berlin
beantragt. „Hinter all diesen Zahlen steckt unglaublich viel Arbeit“, sagt
sie.
Besonders beeindruckend sei die Geschwindigkeit gewesen. Sie sei ja selbst
erst seit wenigen Monaten in der Verwaltung und habe lernen müssen, wie
lange manche Vorgänge dauerten. „Allein so eine Ausschreibung, um eine neue
Sekretärin zu gewinnen, das ist ein Projekt für Monate.“ Nun aber musste
alles ganz schnell gehen. „Berlin hat es geschafft, dass wir keine
Turnhallen aufmachen mussten“, sagt sie. Das verdanke man auch den vielen
Freiwilligen. „Also Ihnen. Dafür mein tiefster Respekt“, sagt Kipping, legt
eine Hand auf die Brust und verneigt sich. Sie ermuntert die Leute, auch
auf Probleme hinzuweisen, „denn wir stehen ja in der Pflicht, immer wieder
Dinge zu verbessern“.
Das tun die Ehrenamtlichen gern. Eine Frau mit rasierten Schläfen hat sich
bereits während Kippings Rede immer wieder flüsternd zu ihrer Nachbarin
gebeugt. Sie gehört zu einer Gruppe von Ehrenamtlichen, die
Ukrainer:innen am Hauptbahnhof in Empfang nehmen.
„Wir sind fast wieder am Anfang“, schimpft sie. Wenn Menschen auf die
Toilette gehen wollten, bräuchten sie erst einen Chip, dazu müssten sie
durch den halben Bahnhof laufen. Wieso der Senat nicht mal mit den privaten
Betreibern verhandele, damit die Klos immer zugänglich sind? Und: „Es kommt
kaum jemand von der Politik vorbei, der sich erkundigt, was wir brauchen.“
Immerhin gebe es jetzt rund um die Uhr medizinische Betreuung. Ihre Urkunde
holt die Frau dennoch ab.
Den Vorwurf, dass niemand sich am Hauptbahnhof blicken lasse, weist Kipping
empört zurück. Ihr Büroleiter sei täglich vor Ort, um alles direkt mit den
Freiwilligen zu besprechen, sie selbst wiederholt, auch unangemeldet, dort
gewesen. Und mit den Toilettenbetreibern habe man permanent nachverhandelt.
Aber einfach Geld zu überweisen, das gehe eben nicht. „Es muss immer alles
belegbar sein.“
Willkommen in den Mühlen der Realpolitik. Als Vorsitzende der Linkspartei
präsentierte Kipping die ganz großen Entwürfe: offene Grenzen für alle, weg
mit Hartz IV, eine soziale Mindestsicherung für jeden. Ja, sagt sie, die
Spielräume auf Landesebene seien begrenzt. Eigentlich bräuchte es viel mehr
Umverteilung, deutlich bessere Sozialleistungen und einen höheren
Mindestlohn. Doch statt Reiche zu besteuern, schließt sie gerade Verträge
mit der Kassenärztlichen Vereinigung ab, um die Akutbehandlung von
Geflüchteten aus der Ukraine zu regeln. Dennoch sei es schön, zu sehen,
dass sich Dinge bewegen.
„Was ich hier mache, ist das Gegenteil von Vergeblichkeit, zwar noch nicht
in Perfektion, aber immerhin“, sagt sie. Was sie mit Vergeblichkeit meine?
„Permanent Vorschläge zu machen, die nie umgesetzt werden.“
In der Linkspartei gehörte Kipping zu jenen, die ausdauernd für ein
rot-rot-grünes Regierungsbündnis auf Bundesebene warben. Für den Fall von
Sondierungen hatte sie vor der Bundestagswahl schon ein umfangreiches
Papier zu ihren Themen Arbeit und Soziales vorbereitet. Das schlechte
Ergebnis der Linkspartei machte es jedoch obsolet. Dass sie nun dennoch in
einem rot-rot-grünen Bündnis regieren kann, verdankt sie dem Berliner
Landesverband. Bei der Landtagswahl, die im Herbst parallel zur
Bundestagswahl stattfand, musste die Linke zwar leichte Verluste
verkraften. Für eine Dreierkoalition mit SPD und Grünen reichte es im
Dezember dennoch.
Gedanken über ihre Zukunft hatte sich Kipping schon länger gemacht. Mit
gerade mal 43 Jahren hatte sie in der Linkspartei fast alles erreicht. 1999
zog sie als jüngste Abgeordnete für die damalige PDS in den sächsischen
Landtag, 2005 als eine der jüngsten Abgeordneten für die Linkspartei in den
Bundestag, mit 34, kurz nach der Geburt ihrer Tochter, wurde sie
Parteivorsitzende.
Ihre Gegenkandidatin auf dem Göttinger Parteitag 2012 kam aus Hamburg, doch
ihr eigentlicher Konkurrent war jahrelang der Ostdeutsche Dietmar Bartsch.
Eigentlich gehören beide zum gleichen Lager der eher pragmatischen
Reformer. Doch mit ihrer erfolgreichen Kandidatur hatte Kipping Bartsch den
Weg an die Parteispitze verbaut.
Bartsch verzieh Kipping nie.
Der Fraktionsvorsitz wäre für Kipping eigentlich der nächste logische
Schritt gewesen. Doch Bartsch, inzwischen selbst Fraktionschef, sorgte
dafür, dass Kippings Hoffnungen auf den Posten sich nicht erfüllten. Sein
in der Fraktion geschmiedetes Mehrheitsbündnis aus Pragmatikern und
orthodoxen Linken, intern als Hufeisen bezeichnet, wählte 2019 die
weitgehend unbekannte Amira Mohamed Ali zur Ko-Fraktionsvorsitzenden. An
der Konstellation hat sich bis heute nichts geändert.
Als sich der Berliner Kultursenator Klaus Lederer im November 2021 mit
Kipping zum Frühstück traf und ihr den Posten als Senatorin anbot, musste
sie nicht lange überlegen. Nach 16 Jahren verließ sie den Bundestag.
„Es war Zeit, dass sie ihre viele Facharbeit endlich mal in die Praxis
einfließen lässt.“ Johanna Bussemer von der parteinnahen
Rosa-Luxemburg-Stiftung arbeitet seit Jahren mit Kipping zusammen. Sie sind
auch befreundet. Was Bussemer über die Politikerin Katja Kipping erzählt,
deckt sich mit dem, was andere berichten: Fleißig und diszipliniert sei
Kipping, extrem gut strukturiert und zielstrebig.
„Sie hat schon immer ein ziemliches Tempo vorgelegt“, erinnert sich ihr
langjähriger Ko-Vorsitzender Bernd Riexinger an die ersten Monate mit
Kipping an der Parteispitze. Kipping war schon als sächsische
Landespolitikerin eine, die selbst nach einer Party im Morgengrauen
aufstand und zum Bahnhof fuhr, um am anderen Ende der Republik einen
Vortrag zum bedingungslosen Grundeinkommen zu halten. Vor einem Häuflein
Zuhörer:innen. So erzählt es ein ehemaliger Mitstreiter.
Als Sozialpolitikerin hatte sie sich auch im Bundestag über Parteigrenzen
hinweg einen guten Ruf erworben. Martin Pätzold, arbeitsmarktpolitischer
Sprecher der CDU im Berliner Abgeordnetenhaus, hat mit Kipping von 2013 bis
2017 im Bundestagsausschuss für Arbeit und Soziales gesessen.
Damals waren die Rollen vertauscht – Pätzold gehörte zur
Regierungsfraktion, Kipping zur Opposition. Dennoch habe man sachlich und
auch auf menschlicher Ebene gut zusammengearbeitet, erzählt Pätzold. „Ich
teile ihre Sichtweise zwar nicht, habe aber persönlich Respekt vor ihrem
Engagement.“
Nur in der Linkspartei wollten manche das partout anders sehen. Im
parteiinternen Streit zwischen der Fraktionsvorsitzenden Sahra Wagenknecht
und der Parteivorsitzenden Katja Kipping etikettierten die Anhängerinnen
Wagenknechts Kipping als Lifestyle-Linke, die verantwortlich dafür sei,
dass sich die Linke angeblich nicht mehr um soziale Themen kümmere. Der
Cicero bezeichnete Kipping noch im Dezember als „Exponentin einer Strömung,
die auf postmoderne Orientierung der Linken setze, mit Gender- und
Lifestylethemen.“
Hinter der personalisierten Auseinandersetzung zwischen zwei
selbstbewussten Frauen steckte in Wirklichkeit ein knallharter
Richtungsstreit. Wagenknecht wirbt für ein „linkskonservatives Programm“,
für eine Linke, die sich auf soziale Fragen innerhalb nationalstaatlicher
Grenzen konzentriert. Eine Art Retro-Linke also, die sich der von der
Ampelregierung verbreiteten Modernisierungseuphorie entgegenstemmt. Die EU
ist Wagenknecht suspekt, ebenso wie nach Europa strebende Migrant:innen.
Ein Ansatz, den Kipping für brandgefährlich hält. Gemeinsam mit Riexinger
arbeitete sie als Parteivorsitzende daran, die Ex-PDS und
Anti-Hartz-IV-Partei ins 21. Jahrhundert zu hieven. Nur „als
‚sozialrebellischer Arm‘ eines Green New Deal“ habe die Linke eine Chance,
heißt es in einem von Kipping mitverfassten Aufsatz vom Herbst.
Dass dieser Weg der erfolgversprechendere sein könnte, deutet sich bei der
Mitgliedschaft an, wo in den vergangenen 10 Jahren ein Generationenwechsel
stattfand. Fast die Hälfte der 60.000 Mitglieder starb, jüngere füllten die
Reihen, vor allem in den westlichen Bundesländern und den Großstädten. Ende
des Jahres waren 30 Prozent der Linken-Mitglieder unter 30 Jahre alt. Für
ein Zurück-in-die-90er-Programm lassen sie sich nicht begeistern.
Doch auch mit dem Abtritt der beiden Antagonistinnen Wagenknecht und
Kipping als Partei- und Fraktionschefinnen geht der Kampf um die
Diskurshoheit in der Linken weiter. In einem in dieser Woche
veröffentlichten Aufruf für eine Populäre Linke, den auch Wagenknecht
unterzeichnete, heißt es, man dürfe sich nicht auf bestimmte Milieus
verengen, müsse auch Menschen erreichen, für die Arbeit und Familie
wichtiger seien als politischer Aktivismus.
In die theoretischen Kämpfe ihrer Partei mischt sich Kipping nicht mehr
ein. Sie muss sich jetzt um praktische Dinge kümmern. Etwa die Frage, ob
das Ausbildungshotel am Tierpark nicht auch ein Modell sein könnte für die
von ihr favorisierte Ausbildungsabgabe, die der CDUler Pätzold
„Zwangsumlage“ nennt.
## Kipping wird nicht zum Parteitag fahren
Die Direktorin des Hotel, eine kleine, drahtige Frau im Jeanskleid, führt
Kipping erst in die Lehrküche, dann in den Schulungsraum. Kipping unterhält
sich mit den Ausbildern und zwei Azubis und probiert ein
Rote-Beete-Häppchen. „Was erwarten Sie von der Politik?“, fragt sie und
macht sich auf einem Schreibblock Notizen.
„Das hier ist gelebte Politik, die Jugendlichen sehen doch, dass die
Politik mal anpackt und hilft“, sagt der Ausbildungsleiter und schaut die
beiden Azubis, zwei Jungs im Teenageralter, auffordernd an. Die nicken. Als
ihre Restaurants ihnen kündigten, fungierte das Tierparkhotel als
Notlösung. Inzwischen stellen die Betriebe zwar wieder ein, aber sie wollen
die Ausbildung trotzdem hier beenden.
„Ist viel besser als den ganzen Tag Burger braten“, meint der eine.
Ob das Hotel die Auswirkungen des Ukrainekriegs zu spüren bekomme, will
Kipping wissen. „Aber hallo, wir haben hier extreme Preiserhöhungen, dit is
nicht mehr lustig“, meint die Direktorin. Man wisse gerade nicht, welche
Herausforderung die größere sei – das fehlende Personal oder die steigenden
Preise. Sie verabschiedet sich mit festem Händedruck und blickt zu Kipping,
die noch im Gespräch ist. „Die Frau Kipping, die ist schon eine gestandene
Frau. Die soll mal in ihrer Partei aufräumen. Tut einem ja in der Seele
weh, was die Linke da treibt.“
Aber darum müssen sich nun andere kümmern. Kipping wird auch nicht zum
Parteitag fahren. Sie werde ihn über einen Online-Stream aus der Ferne
verfolgen. Und wie sieht sie die Zukunft ihrer Partei? Kipping holt Luft.
Dann sagt sie leise auf Russisch: „Nadeshda umirajet posledni.“ Das heißt:
Die Hoffnung stirbt zuletzt.
4 Jun 2022
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## AUTOREN
Anna Lehmann
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Franziska Giffey
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