| # taz.de -- Flucht aus der Ukraine: Matheunterricht im Exil | |
| > Für ukrainische Schüler*innen fehlen tausende Lehrkräfte. Die | |
| > Bundesländer setzen deshalb in Willkommensklassen geflüchtete Kolleginnen | |
| > ein. | |
| Bild: Olga Ishchenko und ihre Tochter Tanya im Otto-Nagel-Gymnasium | |
| Berlin taz | Donnerstagmittag am Otto-Nagel-Gymnasium in Berlin-Biesdorf. | |
| Olga Ishchenko kommt gerade aus dem Unterricht. Seit Mitte April | |
| unterrichtet sie vierzehn ukrainische Schüler*innen in Mathematik. In | |
| der Klasse ist auch ihre 14-jährige Tochter Tanya, mit der Ishchenko Anfang | |
| März aus ihrer Heimatstadt Dnipro, der viertgrößten Stadt der Ukraine, nach | |
| Deutschland gekommen ist. | |
| In einem der Klassenräume erzählt die Lehrerin von ihrer Flucht, von der | |
| Ankunft in Berlin und der [1][Bürokratie bei der Registrierung als | |
| Geflüchtete.] Sie spricht mit ruhiger Stimme, ihre blauen Augen wandern | |
| dabei immer wieder zum Fenster und zu ihrer Tochter, die das Gespräch ins | |
| Englische übersetzt. Ishchenko spricht kein Deutsch und nur gebrochen | |
| Englisch. Für eine Festanstellung als Lehrerin verlangt die Schulverwaltung | |
| allerdings sehr gute Deutschkenntnisse. Deshalb arbeitet die 42-Jährige | |
| bislang ohne festen Vertrag und ohne klare Perspektive, wie es nach dem | |
| Ende des Schuljahres weitergehen wird. | |
| Olga Ishchenko ist eine von mehreren hundert Lehrerinnen, die aus der | |
| Ukraine geflüchtet sind und jetzt an Schulen in Deutschland unterrichten. | |
| Wie viele es genau sind, darüber führt nur ein Teil der Bundesländer | |
| Statistiken. Andere differenzieren nach Sprachkenntnissen, nicht nach | |
| Herkunftsland. Von Interesse ist, wer Ukrainisch oder Russisch kann und bei | |
| der Beschulung der Geflüchteten unterstützen kann. | |
| Denn der Bedarf ist im ohnehin überlasteten Schulsystem groß: Die | |
| Präsidentin der Kultusministerkonferenz, Karin Prien (CDU), geht davon aus, | |
| dass [2][bis zu 400.000 Schüler*innen aus der Ukraine an Schulen] in | |
| Deutschland unterrichtet werden sollen. Dafür würden 24.000 zusätzliche | |
| Lehrkräfte benötigt, sagte Prien im April dem Redaktionsnetzwerk | |
| Deutschland. | |
| ## In Berlin ist Muttersprachniveau erforderlich | |
| Damit die Lehrer*innen schnell in Willkommensklassen eingesetzt werden | |
| können, sollen die Einstellungsbedingungen möglichst einfach sein: Anstelle | |
| von Führungs- oder Ausbildungszeugnissen sollen Selbsterklärungen genügen, | |
| da wichtige Dokumente oft bei der Flucht verlorengegangen sind oder nicht | |
| angefordert werden können. Andere Voraussetzungen, wie die | |
| Sprachkenntnisse, legen die Länder individuell fest. | |
| Bundesweit gibt es deshalb teils unterschiedliche Regeln. Sachsen etwa | |
| bietet Bewerber*innen die Möglichkeit, neben der Arbeit Deutsch zu | |
| lernen und den Nachweis nachzureichen. Schleswig-Holstein stellt bis zum | |
| Schuljahresende 2022 nur Ukrainer*innen mit abgeschlossenem | |
| Lehramtsstudium ein. Auch grundlegende Deutschkenntnisse seien | |
| erforderlich, erklärt Kultusministerin Prien. In Berlin dagegen müssen | |
| ukrainische Bewerber*innen Deutschkenntnisse auf C1-Niveau – also | |
| nahezu Muttersprachniveau – nachweisen können, für Unterricht in der | |
| Herkunftssprache auf B1-Niveau. Von den mehr als 300 Lehrer*innen, die sich | |
| laut Senatsverwaltung in Berlin für den Unterricht in Willkommensklassen | |
| beworben haben, wurden bis Mitte April einem Sprecher zufolge nur rund 30 | |
| eingestellt. | |
| Auch Olga Ishchenko kann deshalb nicht direkt am Berliner Gymnasium | |
| angestellt werden. Ihren Job als Lehrerin verdankt sie einer bürokratischen | |
| Brücke: Die Organisation Schlaufuchs Berlin, die Schulen unter anderem mit | |
| Förderkursen und Ferienprogrammen unterstützt, hat mit ihr einen | |
| Ehrenamtsvertrag vereinbart. Das Geld dafür stammt aus einem Corona-Etat, | |
| den die Senatsverwaltung den Schulen zur Verfügung gestellt hat. Diese | |
| können damit Organisationen wie Schlaufuchs Berlin bezahlen und ukrainische | |
| Lehrer*innen als zusätzliche Lehrkräfte beschäftigen. Das Corona-Geld | |
| läuft jedoch Ende Dezember aus, ob es danach weitere Mittel geben wird, ist | |
| unklar. | |
| ## Online-Nachhilfe für ukrainischen Schüler*innen | |
| Ishchenkos Vertrag reicht zunächst bis zu den Sommerferien. Pro | |
| Unterrichtsstunde erhält sie eine Pauschale von 20 Euro, hinzu kommen | |
| Sozialleistungen und ein Wohngeld, das sie beantragen will, sobald sie und | |
| ihre Tochter eine Wohnung gefunden haben. Bisher wohnen sie bei Ishshenkos | |
| Bruder, der schon seit acht Jahren mit seiner Familie in Berlin lebt. | |
| Neben den zwei Mathestunden pro Woche gibt Ishchenko weiterhin | |
| Online-Nachhilfe für ihre ukrainischen Schüler*innen. Diese sind zum Teil | |
| noch im Land, so wie auch Ishchenkos Mann und ihr Sohn. Sie zu unterrichten | |
| sei nicht einfach, weil sie nicht wisse, was die Schüler*innen erlebt | |
| haben, erzählt sie. Aber das Lernen sei eine gute Ablenkung: „Wenn du | |
| Mathematik machst, denkst du über nichts anderes nach. Es nimmt deine Zeit | |
| und deine Gedanken in Anspruch, darauf kann man sich gut konzentrieren und | |
| sich von der Gewalt ablenken.“ | |
| Über den Krieg spricht Ishchenko in der Schule kaum – mit den | |
| Kolleg*innen wegen der Sprachbarriere, mit den Schüler*innen aus | |
| Sorge: „Wir wissen nicht, was mit den Kindern zu Hause passiert ist, ob | |
| jemand, der ihnen nahe stand, gestorben ist, ob sie gefangen genommen | |
| wurden, und so weiter. Das sind so dringende Probleme, dass sie nur in | |
| Anwesenheit von Spezialisten angesprochen werden können.“ | |
| Ähnlich erlebt das auch Daria Savchenko, eine ukrainische Lehrerin aus | |
| einem Vorort von Kiew. Weil sie selbst unsicher ist, wie viel sie laut | |
| ihrem Vertrag über ihren Job erzählen darf, will sie nicht mit ihrem | |
| richtigen Namen in der Zeitung stehen. Seit Mitte April unterrichtet | |
| Savchenko Mathematik und Informatik an einer Oberschule in Sachsen. Bei | |
| einer Informationsveranstaltung eines Integrationszentrums sei sie auf den | |
| Job aufmerksam geworden und habe sich direkt bei der Schule beworben, | |
| erzählt die 41-Jährige. In der Ukraine hat sie zuletzt an der Universität | |
| gearbeitet. Für die Bewerbung ließ sie ihre Abschlusszeugnisse übersetzen | |
| und beglaubigen, einen Sprachnachweis musste sie nicht vorlegen, erzählt | |
| Savchenko. | |
| ## Schwierig, mit den Kindern über den Krieg zu sprechen | |
| Seit Ende April unterrichtet sie in der Willkommensklasse. „Über das, was | |
| in der Ukraine passiert, wird nicht groß gesprochen. Wir kamen alle | |
| ungefähr zur gleichen Zeit an und wissen, warum.“ Gezielt mit den Kindern | |
| über den Krieg zu sprechen, traue auch sie sich nicht zu, dazu brauche es | |
| psychologische Hilfe, sagt sie. „Aber natürlich verbindet uns das Ganze, | |
| wir haben alle das gleiche Schicksal.“ | |
| Das gleiche Schicksal zu haben heißt nun auch, sich in der fremden Sprache | |
| zurechtzufinden. „Die Kinder können auch alle kein Deutsch. So fühlt man | |
| sich zusammengebunden“, sagt sie und lacht, „wir sind alle gleich schlecht | |
| in Deutsch.“ Sie erlebe an der Schule ein starkes Gemeinschaftsgefühl und | |
| viel Hilfsbereitschaft – sowohl von anderen Kindern als auch unter den | |
| Ukrainer*innen: „In meiner Klasse sind Kinder in unterschiedlichem Alter. | |
| In einer normalen Schule hätten sie vielleicht nie Freundschaft | |
| geschlossen, aber hier tun sie sich zusammen und helfen einander. Der | |
| Unterricht ist dadurch viel offener.“ | |
| Von den Kindern, die aus dem Westen der Ukraine kommen, überlegen einzelne | |
| bereits, mit ihren Familien zurückzukehren, erzählt Daria Savchenko. | |
| Schüler*innen aus den Abschlussklassen hingegen wollten eher bleiben. | |
| „Es ist in der Ukraine schwer, einen Job zu bekommen. Hier haben sie | |
| bessere Chancen als zu Hause.“ Ob sie selbst weiter in Deutschland | |
| unterrichten wird, wisse sie noch nicht. Ihr Vertrag an der Schule läuft | |
| zunächst bis zum Schuljahresende im Juli. | |
| Auch für Olga Ishchenko in Berlin ist unklar, ob sie im nächsten Schuljahr | |
| weiter am Otto-Nagel-Gymnasium unterrichten wird. Dort soll der | |
| Deutschunterricht aufgestockt werden, sodass die ukrainischen | |
| Schüler*innen möglichst bald ohne Probleme am Regelunterricht teilnehmen | |
| können. Die Mathestunden nach ukrainischem Lehrplan bräuchten sie dann | |
| nicht mehr. | |
| Wie viele ihrer Landsleute im Exil will Ishchenko zurück in die Ukraine, | |
| sobald es dort sicher ist und keine humanitäre Katastrophe mehr droht, sagt | |
| sie. „Es ist sehr schwierig, Pläne für die Zukunft zu machen. Tatsächlich | |
| möchte ich jeden Tag, jede Stunde, jede Minute bei meiner Familie in der | |
| Ukraine sein.“ Gäbe es eine Möglichkeit, langfristig an der Schule fest | |
| angestellt zu werden, würde sie aber bleiben – sofern die | |
| Vertragsbedingungen stimmen und keine Deutschkenntnisse erforderlich wären. | |
| 18 May 2022 | |
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| Jette Wiese | |
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