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# taz.de -- Ukrainische Geflüchtete in Dresden: Aufgenommen, aber nicht zuhause
> Der Dresdner Begegnungsverein Kolibri kümmert sich um Kinder von
> Spätaussiedlern und Migranten – und jetzt auch um junge Ukrainer.
Bild: Ukrainische Geflüchtete und Unterstützer demonstrieren im April in Dres…
Dresden taz | Im Dresdner Begegnungsverein Kolibri herrscht in diesen Tagen
noch größeres Gedränge als sonst. Auf den drei vom Verein genutzten Etagen
im Gebäude unweit des Bahnhofs Dresden-Mitte werden ohnehin schon Büros als
Unterrichtsräume genutzt, und die Vereinsbibliothek – immerhin 8.000 Bände
– verteilt sich auf mehrere Zimmer. Doch zu den etwa 600 betreuten Kindern
und Jugendlichen sind in den vergangenen Wochen noch 200 ukrainische Gäste
hinzugekommen.
An den Türen hängen bunte Symbole, Kurspläne und Nachrichten.
Kolibri-Leiterin Kristina Daniels führt durchs Haus. „Malen, tanzen, singen
… Wir sind ein Verein für außerschulische Bildungs- und Freizeitangebote“,
sagt sie. Die richten sich vorwiegend an Kinder migrantischer Familien,
namentlich [1][Spätaussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion]. „Aber wir
sind offen für alle, auch für Erwachsene“, betont die Slawistin. Im
Vereinsvorstand von Kolibri finden sich nur Frauen, 70 Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter geben Kurse, 24 Sprachen werden gesprochen.
Die [2][ukrainischen Flüchtlingskinder] erhalten hier bis zur Aufnahme in
eine Regelschule Überbrückungsunterricht in verschiedenen Fächern. Anfangs
waren es so viele, dass man in das Gebäude der jüdischen Gemeinde auswich.
Dank der jüdischen Kontingentflüchtlinge, die ab den 1990er-Jahren aus der
zerfallenden Sowjetunion nach Deutschland kamen und inzwischen rund 90
Prozent der jüdischen Gemeinschaft hierzulande ausmachen, dominieren auch
in der Gemeinde Russisch und Ukrainisch. Die Sonntagsschule der Gemeinde
wird ohnehin seit Längerem von Kolibri gestaltet.
## Alles ist ungewiss
Einige Fünfzehnjährige im Chemiekurs wirken reserviert, die Stimmung ist
gedrückt. Sie sind mit ihren Müttern meist schon nach den ersten Alarmen
und Bombeneinschlägen aus verschiedenen Regionen der Ukraine geflohen und
hier bei Verwandten untergekommen. „Wir sind gut aufgenommen worden, aber
das ist eben nicht unser Zuhause“, sagen mehrere nach einigem Zögern. Die
Väter blieben zur Verteidigung im Land, auch manche Freunde und Verwandte.
Noch haben sie wenige Kontakte hier, und auch bei Kolibri begegnen sie
weder Deutschen noch Russen intensiver. Einige der traumatisiert und
gehemmt wirkenden Schüler wollen hier auch möglichst keine Russen treffen,
andere unterscheiden zwischen Kriegsbegeisterten und -kritikern.
Möglichst bald wollen sie in die deutsche Schule wechseln. Während ein
Mädchen namens Viktoria nach Kriegsende unbedingt heimkehren will, würde
ein anderes mit Namen Katja angesichts der zerstörten Heimat auch bleiben.
Alles ist ungewiss.
Als die Sprache auf die Nachrichten aus ihrer Heimat und die versuchten
täglichen Telefonate kommt, fließen bei allen die Tränen. „Wir können kei…
Traumaklinik sein“, erklärt Vereinsvorsitzende Kristina Daniels sichtbar
betroffen. Gleichwohl müssen sich alle Mitarbeiter nun auf die besondere
Sensibilität der ukrainischen Kinder einstellen.
## Verbandelungen mit Putin
Pikant ist im Kriegszusammenhang, dass das Kolibri-Begegnungszentrum vor
einem Dutzend Jahren indirekt aus dem derzeit geschlossenen
Deutsch-Russischen Kulturinstitut Dresden hervorging. Getragen von der
Stiftung „Russkij Mir“ (Russische Welt), bestehen dort auf der
Leitungsebene persönliche Freundschaftsverbindungen zu [3][Wladimir Putin].
Die Wirksamkeit des Instituts für einen lebendigen deutsch-russischen
Austausch wurde auch vom Kulturausschuss des Stadtrats schon bezweifelt,
die städtische Förderung auf 15.000 Euro jährlich begrenzt.
Im Dresdner Kulturrathaus traut man dem Kolibri-Verein eher eine
Brückenfunktion zu. Die heute über 60-jährige Musikpädagogin Halyna
Yefremova hatte im Kulturinstitut nach ihrer Übersiedlung nach Deutschland
2001 eine künstlerische Nachwuchsgruppe mit mehr als 100 Kindern aufgebaut.
Die Leitung habe diese aber nicht halten können oder wollen, habe „die
Entwicklung nicht gesehen“, berichtet sie.
Die Jugendgruppe fand stattdessen Unterschlupf in einem Jugendklub, 2009
gründeten Yefremova und andere schließlich Kolibri. Anfangs mit
lächerlichen 5.000 Euro gefördert, bekommt das Zentrum derzeit zumindest
66.000 Euro jährlich von der Stadt Dresden.
Laut Satzung ist es der Interkulturalität und der Völkerverständigung
gewidmet. Für Halyna Yefremova eine Selbstverständlichkeit. „Menschen
müssen Menschen bleiben“, sagt die handfeste und zupackende Person
schlicht, aber eindringlich. Noch kosmopolitischer empfindet Leiterin
Kristina Daniels.
## Deutsch-russisch-ukrainische Zwischentöne
Die Slawistin ist in Belgrad geboren. Sie wuchs in Süddeutschland auf,
kennt aber durch mehrjährige Aufenthalte in Moskau, Kiew oder Georgien den
Osten aus eigener Erfahrung. „Der Mensch hat nicht nur eine Identität, die
sich regional mit dem Lineal abgrenzen lässt“, ist sie überzeugt.
Warum müsse man sich überhaupt national definieren, fragt Daniels. Sie
könne mit der Verpflichtung, sich deutsch zu fühlen, gar nichts anfangen.
So gibt es bei Kolibri persönliche bikulturelle Tandem-Partnerschaften,
auch wörtlich auf ein Tandem-Fahrrad bezogen. Differenzen unter den Eltern
zwischen Putin-Nationalisten und liberalen Russen und Ukrainern hat man
bislang ausbalancieren können. „Schlimm, dass der Krieg nur noch
Schwarz-Weiß zulässt. Wir sind für die Zwischentöne da“, bekennt Kristina
Daniels.
Solche Vermittlungsbemühungen könnten bald belohnt werden und auch räumlich
zu einer Entspannung führen. Ohnehin war im nächsten Jahr ein Umzug in das
Dresdner Kulturkraftwerk Mitte geplant, wo Kolibri Träger des neuen
interkulturellen Zentrums werden soll.
9 May 2022
## LINKS
[1] /Juedische-Kontingentfluechtlinge/!5416649
[2] /Ukrainische-Schueler-in-Deutschland/!5844783
[3] /Vom-Kult-des-Sieges-zum-Kult-des-Krieges/!5851531
## AUTOREN
Michael Bartsch
## TAGS
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Geflüchtete
Dresden
Bildungschancen
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Lesestück Recherche und Reportage
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