# taz.de -- Flüchtlingshilfe in Fischerhude: Ein Dorf steht zusammen | |
> Das Dorf Fischerhude in Niedersachsen baut eigene Strukturen auf, um | |
> Geflüchteten zu helfen. Lokalpolitische Dispute sind dafür auf Eis | |
> gelegt. | |
Bild: Unkrainer:innen und Gastgeber:innen vor der Kleiderkammer in Fischerhudes… | |
FISCHERHUDE taz | Herzhafter Duft strömt aus der Küche in die Kantine des | |
mittelständischen Unternehmens am Ortseingang des kleinen niedersächsischen | |
Dorfes Fischerhude. Rund 40 Menschen sitzen an mehreren Tischgruppen, | |
Geflüchtete aus der Ukraine und ihre Gastgeber:innen. Sie unterhalten | |
sich auf Englisch, mit Händen und Füßen oder über Übersetzungsapps angeregt | |
miteinander. In dem kleinen Künstlerdorf in der Nähe von Bremen mit seinen | |
reetgedeckten Bauernhäusern, Cafés und Kopfsteinpflasterstraßen ist in den | |
vergangenen Wochen eine hilfsbereite Gemeinschaft entstanden. | |
Schon wenige Tage nach [1][Kriegsausbruch] sammelten Thorsten Meyer und Tom | |
Killus Sachspenden für die Ukraine. Die beiden sind Teil des | |
Organisationsteams eines Festivals, das seit einigen Jahren im Sommer | |
unweit des Dorfes veranstaltet und im Dorf kontrovers betrachtet wird. | |
Jetzt nutzen sie ihre Erfahrung bei der Koordination von Freiwilligen und | |
Spenden. Die abgegebenen Kleider und Hilfsgüter transportierten sie erst in | |
die Krisenregion, nun werden die Spenden auch für die Geflüchteten in der | |
Region bereitgestellt. Spritkosten und sonstige Ausgaben werden von dem | |
Kölner Verein Arts & Culture Germany gedeckt. Vom Landkreis gibt es keine | |
Unterstützung. | |
Die eigens gegründete Kleiderkammer Fischerhude verteilt die Spenden in den | |
alten Räumlichkeiten der Dorfbäckerei Sammann. Der Geruch von Butterkuchen | |
und Sonntagsbrötchen liegt auch nach Jahren des Leerstands noch in der | |
Luft. Heute sortieren Ukrainer:innen und Dorfbewohner:innen Seite | |
an Seite in der milden Frühlingssonne vor der Backstube Spenden nach | |
Kleidergrößen, packen Schlafsäcke, Wintermäntel und Kinderschuhe in große | |
Pappkartons – für die Menschen, die daheim in der Ukraine in | |
U-Bahn-Schächten oder Bunkern ausharren müssen. | |
In der weiß gekachelten Backstube sind die Kleidungsstücke auf | |
Konferenztischen und an improvisierten Kleiderstangen nach Größe sortiert. | |
„Mittlerweile ist genug da, wir müssen schauen, dass wir alle Spenden | |
sortiert bekommen“, freut sich Killus, der die Arbeit der Helfenden | |
koordiniert. In jeder Schicht arbeiten sowohl Geflüchtete als auch | |
Dorfbewohner:innen, das erleichtere die Kommunikation und fördere den | |
Zusammenhalt. | |
Die [2][Geflüchteten] im Dorf, überwiegend Frauen und Kinder, sind meist | |
privat nach Fischerhude gekommen. Wenige haben über Vermittlungsplattformen | |
den Weg hierher gefunden, wie Kristina und Andrej. Das junge Paar ist | |
gemeinsam mit Andrejs Mutter Natascha schon kurz nach Kriegsbeginn aus der | |
Nähe von Odessa geflohen. Einige Wochen waren sie unterwegs, | |
zwischenzeitlich in einer Erstunterkunft in Kiel, bis sie über die | |
Plattform [3][icanhelp.host] ein privates Zimmer in Fischerhude fanden. | |
Sie möchten weiter nach [4][Kanada], erzählt Andrej, der einzige von ihnen, | |
der Englisch spricht. Dort wohnen alte Schulfreunde, die sie eingeladen | |
haben. Um der eigenen Tochter Lebewohl zu sagen, ist auch Kristinas Mutter | |
Tanja für zehn Tage angereist, anschließend geht es wieder zurück ins | |
Kriegsgebiet nach Odessa. Dort kümmert sie sich um ihren 90 Jahre alten | |
Vater, dem eine Flucht aus der Ukraine nicht mehr zuzumuten wäre. Natascha | |
aber möchte erst mal in Deutschland bleiben, näher an der Heimat und näher | |
an ihrem Mann, der gerade Odessa verteidigt. | |
Es ist nicht immer so einfach, die verfügbaren Plätze bei Familien oder in | |
leer stehendem Wohnraum zu besetzen, erzählt Thorsten Meyer, der die Hilfe | |
im Dorf mitinitiiert hat. Die Vorstellung vom dörflichen Leben sei bei | |
vielen Ukrainer:innen eine andere als die Fischerhuder Realität. Intakte | |
Infrastruktur, befestigte Straßen, eine gute Anbindung an Nah- und | |
Fernverkehr, all das würden die Geflüchteten oft nicht erwarten, wenn Ihnen | |
ein Wohnort auf dem Land angeboten werde. | |
Mit Fotos aus dem Ort, Übersetzungen und mittlerweile auch über | |
Mundpropaganda habe man trotzdem schon 53 Geflüchtete in [5][Fischerhude] | |
untergebracht, erzählt Meyer, deutlich mehr als die umliegenden Dörfer. | |
Auch 2015 und 2016 sei in Fischerhude schon eine vergleichsweise große | |
Hilfsbereitschaft mit Geflüchteten bemerkbar gewesen, erzählt eine andere | |
Dorfbewohnerin, die damals selbst eine syrische Mutter mit Kind aufgenommen | |
hatte. In der aktuellen Situation habe die private Hilfsbereitschaft aber | |
neue Dimensionen erreicht. | |
## Klassische Wohngemeinschaft | |
Thorsten Meyer erklärt sich die gegenwärtig große Hilfsbereitschaft aus der | |
Bevölkerung auch mit größerer kultureller und geographischer Nähe zur | |
Ukraine. Fahrten mit Hilfsgütern nach Lviv, die Koordination der | |
Geflüchteten und der hilfsbereiten Dorfgemeinschaft übernimmt er zusätzlich | |
zum Vollzeitjob im Homeoffice, irgendwie passe das schon in den Kalender. | |
Viel Zeit für Privates bleibe ihm da aber gerade nicht. Bei der Familie | |
Meyer leben neben Thorsten, Tina und dem gemeinsamen Sohn Thore aktuell | |
noch Inna und ihre zwölfjährige Tochter Arina aus der Ostukraine. „Manchmal | |
führt das auch zu Konflikten, es gelingt nicht immer, private Zonen | |
abzugrenzen“, erzählt Thorsten Meyer, „aber so ist es in jeder | |
Wohngemeinschaft“. | |
Für ihre beiden Gäste und fünf weitere Familien, die im Dorf untergekommen | |
sind, regelt Thorsten die Kommunikation mit dem Landkreis, für Arina auch | |
die Anmeldung an der Gesamtschule im Nachbarort. Die Anträge auf | |
Asylbewerberleistung hat er für alle Familien gebündelt abgegeben. Mehrere | |
Sachbearbeiter:innen, zuständig nach Anfangsbuchstabe des Nachnamens, | |
zitierten die Familien dann aber an unterschiedlichen Tagen zu der 35 | |
Kilometer entfernten Ausländerbehörde in Verden. „Das ist schon ein | |
bisschen verrückt, ich nehme der Behörde ehrenamtlich Berge an Arbeit ab | |
und die können sich nicht bezüglich eines Termins koordinieren“ meint | |
Meyer. Da höre sein Verständnis für die Bürokratie auf. | |
Vor allem bei der Bürokratie und verschiedenen Anträgen und Formalien | |
erschwere auch die Sprachbarriere den Zugang für die Geflüchteten, erzählt | |
Meyer. Wenn die Gastgeber:innen den Prozess nicht gemeinsam mit den | |
Ukrainer:innen begleiten würden, bräuchten die Behörden vermittelnde | |
Übersetzer. In Fischerhude wurde die Kommunikation zwischen | |
Dorfgemeinschaft und Geflüchteten einfacher, als die Ukrainerin Elena | |
hierher kam. Sie hat in Deutschland studiert, spricht fließend beide | |
Sprachen, hilft bei Fragen oder Missverständnissen und übersetzt wichtige | |
Informationen aus der gemeinsamen Chatgruppe der Geflüchteten und | |
Gastgebenden. | |
## Eintopf aus der Heimat | |
Heute hat der größte Unternehmer des Dorfes zum Essen geladen. Ihm gehören | |
viele Wohnungen und Häuser in Fischerhude, mit seiner Firma ist er außerdem | |
der größte Arbeitgeber hier, befindet sich wegen seines Einflusses auf die | |
lokale Politik aber oft auch im Konflikt mit den Dorfbewohner:innen. | |
Lokalpolitische Dispute sind aber vorerst auf Eis gelegt, in der großen | |
Krise zieht der Großteil des Dorfes an einem Strang. In den Räumlichkeiten | |
des mittelständischen Unternehmens findet seit einigen Wochen von Montag | |
bis Donnerstag ein Deutschkurs für Ukrainer:innen statt. | |
Heute gibt es hier Bigos, einen polnischen Eintopf mit Sauerkraut und | |
Fleisch, der auch in der ukrainischen Küche beliebt ist. Als Koch Wilko | |
sich flüchtig verabschiedet, gibt es spontanen Applaus. Das Dinner, ein | |
kleines Stück Heimat für die Geflüchteten, ist so viel mehr als bloß | |
Verpflegung. | |
Das Abendessen ist nur eine der Veranstaltungen im Dorf, die Geflüchteten | |
das Ankommen erleichtern und für Vernetzung sorgen sollen. Ob beim | |
gemeinsamen Singen im Chor oder bei Grünkohl und Livemusik – den | |
Geflüchteten werden Angebote gemacht, im Dorf anzukommen. „Jeder gibt das, | |
was er am besten kann“, erzählt Thorsten Meyer, so entstehe eine starke | |
Gemeinschaft. | |
27 Apr 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Schwerpunkt-Krieg-in-der-Ukraine/!t5008150 | |
[2] /Schwerpunkt-Flucht/!t5201005 | |
[3] https://icanhelp.host/ | |
[4] /Kanada/!t5009910 | |
[5] https://www.fischerhude.com/index.html?& | |
## AUTOREN | |
Niklas Berger | |
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