| # taz.de -- Ukrainische Geflüchtete in Polen: Aufnahme – aber kein polnische… | |
| > In Polen leben Hunderttausende geflüchtete Kinder aus der Ukraine. Doch | |
| > der polnische Staat unternimmt wenig, um sie ins Schulsystem zu | |
| > integrieren. | |
| Bild: Ukrainische Mädchen in der Schule | |
| Warschau taz | Die schwarze Rakete traf das Haus am Donnerstag. Alle | |
| anderen Wochentage hat die kleine Ania bunt und fröhlich gemalt – wie die | |
| Zweige eines Baumes. Doch der Donnerstag muss ohne bunte Farben auskommen. | |
| Er ist schwarz, und die Rakete löst Angst aus. Dass sie möglicherweise Tod | |
| und Verderben mit sich bringt, ist nicht zu sehen. Doch die Kinderzeichnung | |
| wirkt, als könnte die Rakete demnächst wieder einschlagen. Schon am | |
| nächsten Donnerstag vielleicht. | |
| „Manchmal kommen die Kriegstraumata der Kinder bei eigentlich harmlosen | |
| Aufgaben oder Spielen heraus. Wir hängen die Bilder dann auch hier im | |
| Treppenaufgang oder in den Schulfluren auf“, sagt Antonina Michałowska, die | |
| stellvertretende Direktorin der Warszawska Szkoła Ukraińska (SzkoUA) – der | |
| ukrainischen Schule in Warschau. „Das erleichtert es den Kindern, über ihre | |
| Erlebnisse offen zu reden. Wir haben auch eine Psychologin.“ | |
| ## 800.000 schulpflichtige Kinder | |
| Hier, in der Warschauer Privathochschule für Ökologie und Verwaltung, | |
| lernen zurzeit [1][240 ukrainische Kinder] von der ersten bis zur elften | |
| Klasse. Nach dem Ende des Schuljahres am 30. Juni werden die Elftklässler | |
| ihre Abiturprüfungen ablegen, so wie sie dies in Friedenszeiten auch in der | |
| Ukraine getan hätten. | |
| Allein in Polen leben Schätzungen zufolge 800.000 schulpflichtige Kinder, | |
| die aus der Ukraine geflohen sind. Doch bislang gehen von ihnen nur 160.000 | |
| auf polnische Schulen. Alle anderen nehmen sich eine längere Auszeit von | |
| der Schule, lernen online – oder gehen auf ukrainische Schulen in Polen, | |
| wie die SzkoUA | |
| „Wir hatten mit dem Gebäude großes Glück“, berichtet deren | |
| Vize-Schulleiterin Michałowska. Der Betrieb der Privathochschule wurde mit | |
| Beginn der Coronapandemie auf Online-Lehre umgestellt, deshalb steht das | |
| Gebäude momentan leer. Das Haus, ein langgestreckter Kasten aus der Zeit | |
| des kommunistischen Plattenbaus, liegt an einer vierspurigen Straße im | |
| Stadtteil Ochota. Doch direkt vor der Tür fahren auch Busse und | |
| Straßenbahnen, die einen in einer halben Stunde ins Stadtzentrum bringen. | |
| Mit Beginn des neuen Semesters im September sollen die Studentinnen und | |
| Studenten zurückkommen, aber eventuell nur am Abend und am Wochenende. Dann | |
| könnte die ukrainische Schule, die eigentlich nur drei Monate lang | |
| existieren sollte, das zweistöckige Gebäude tagsüber weiter nutzen. | |
| Unterstützung von der polnischen Regierung erhält die Schule nicht: „Der | |
| Staat zahlt keinen Zloty hinzu. Ohne Großsponsoren wie die Stiftung Save | |
| the Children International, die die Miete und Personalkosten trägt, wären | |
| wir heute nicht da, wo wir sind“, kritisiert Antonina Michałowska und lässt | |
| ihren Blick durch das Lehrerinnen-Zimmer schweifen. Doch niemand nickt | |
| zustimmend oder lächelt ihr zu. Denn von den insgesamt zwanzig ukrainischen | |
| Lehrerinnen, die allesamt nach dem Überfall Russlands auf das Nachbarland | |
| in den Westen geflohen sind, spricht kaum jemand Polnisch. Das gilt auch | |
| für die dreizehn Fachkräfte, die die Schule technisch am Laufen halten. | |
| Gerade mal zwei Personen, Michałowska und ein Kollege aus dem Warschauer | |
| Klub der Katholischen Intelligenz (KiK), helfen bei Kontakten zu polnischen | |
| Behörden, Firmen, Nachbarn oder Stiftungen. | |
| ## Finanzielle Hilfe kommt von privaten Stiftungen | |
| Die Schule ist auch auf Unterstützung aus der polnischen Privatwirtschaft, | |
| etwa von Firmen-Stiftungen, angewiesen. „Ohne die ginge hier nichts“, | |
| erklärt Michałowska. „Das fängt beim schnellen Internet an. Denn wir haben | |
| ja kaum Schulbücher und müssen viele Übungen und Lehrmaterial von | |
| ukrainischen Internetseiten beziehen.“ Sie lächelt. „In der | |
| Corona-Hochphase wurden die ukrainischen Internet-Lernplattformen stark | |
| ausgebaut. Das kommt uns jetzt zugute. Manchmal fordern wir sogar die | |
| Kinder auf, ihre Smartphones aus der Tasche zu ziehen, sodass sie Aufgaben | |
| auf ukrainischen Websites lösen können.“ | |
| Überhaupt, das Internet: Die meisten Ukrainerinnen suchen Informationen im | |
| Internet und finden auch die Schulen für ihre Kinder über ukrainisch- und | |
| russischsprachige Webseiten. Zentrale Anlaufstelle für sie ist die Stiftung | |
| „Ukrainisches Haus“. Es gibt aber auch Infopunkte vor allem an den | |
| Bahnhöfen und landesweite Telefon-Hotlines, wo sich die Geflüchteten | |
| Unterstützung holen können. | |
| Polens Bildungsminister Przemysław Czarnek hatte kurz nach dem russischen | |
| Einmarsch in der Ukraine behauptet, dass es an polnischen Schulen rund eine | |
| halbe Million Plätze für ukrainische Flüchtlingskinder gäbe. Bis auf ein | |
| paar Willkommensklassen mit intensivem Polnisch-Unterricht sind allerdings | |
| kaum spezifische Angebote entstanden. Das schlechte Angebot führt dazu, | |
| dass [2][ukrainische Kinder ihre Schulzeit] in Polen mit frustrierenden | |
| Erfahrungen wie schlechten Noten und Sitzenbleiben beginnen müssen. | |
| Das gehe völlig an den Bedürfnissen von kriegstraumatisierten Eltern und | |
| Kindern vorbei, stellte Warschaus Oberbürgermeister Rafał Trzaskowski | |
| kürzlich fest: In Warschau gehen ihm zufolge lediglich 20 Prozent aller | |
| registrierten ukrainischen Schulkinder auf eine polnische Grundschule oder | |
| ein zum Abitur führendes Lyzeum. Den Eindruck hat Michałowska auch: | |
| „Tatsächlich scheinen die meisten ukrainischen Kinder hier in Polen | |
| entweder online an ihren alten Schulen weiterzulernen oder aber gar nichts | |
| zu tun. Für ein paar Monate auf eine polnische Schule zu gehen, wo die | |
| Kinder kaum etwas verstehen, vergrößert nur ihren Stress.“ | |
| ## Dutzende ukrainische Privatschulen sind entstanden | |
| In ganz Polen gibt es zurzeit wohl einige Dutzend ukrainischer | |
| Privatschulen, die nach Kriegsausbruch schnell aus dem Boden gestampft | |
| wurden und nun neben dem polnischen Schulsystem existieren: Sie sind nicht | |
| der polnischen Schulbehörde, sondern der ukrainischen Schulaufsicht in Kiew | |
| unterstellt. „In unserem konkreten Fall ist es so, dass die Kinder formal | |
| auf Schulen der Gemeinde Dawidow bei Lwiw gehen, in Wirklichkeit aber hier | |
| sind“, erklärt Vize-Direktorin Michałowska. Das unterscheide sich aber von | |
| Schule zu Schule. | |
| Einen anderen Weg mit gleichem Ziel ist etwa die ukrainische Juristin | |
| Larysa Zhygun gegangen. Nach ihrer Flucht aus Kiew hat die junge Frau | |
| zusammen mit Freunden und Bekannten die Stiftung „Unzerstörbare Ukraine“ | |
| gegründet, die mit dem ukrainischen Bildungsministerium eng | |
| zusammenarbeitet. Auf die drei ukrainischen Schulen, die seit Mai von der | |
| Stiftung finanziert werden, gehen zurzeit über 600 geflüchtete Kinder aus | |
| der Ukraine: 289 in Krakau, 244 in Breslau und 83 in Warschau. | |
| „Zuerst wollten wir einfach nur, dass die Kinder ihr Schuljahr nach dem | |
| gewohnten Curriculum in der Ukraine beenden können, doch jetzt wollen wir | |
| den Status einer ‚Internationalen Schule‘ erreichen, an der die Kinder das | |
| polnische und das ukrainische Abitur erwerben können“, so Zhygun. In der | |
| Ukraine arbeitete sie für karitative Stiftungen und sammelte Spenden und | |
| Zuschüsse von Ministerien und Firmen. „Wie gesagt, ich bin keine Lehrerin“, | |
| betont sie: „Ich bin Juristin.“ Als solche fand sie eine vergleichbare | |
| Lösung wie auch die SzkoUA. Ihre Stiftung schloss mit der Stadt | |
| Saporischschja in der Ostukraine einen Vertrag, demzufolge die Kinder | |
| offiziell dort die Schule besuchen, ihre Prüfungen aber als Externe in | |
| Polen ablegen. | |
| Auch die drei Schulen der Stiftung „Unzerstörbare Ukraine“ wurden zunächst | |
| durch Spenden finanziert, die in ihrem Fall vor allem von ukrainischen | |
| Firmen und NGOs kamen. Seit einiger Zeit sind aber mehrere internationale | |
| Organisationen Großsponsoren für die Einrichtungen. | |
| An der Warszawska Szkoła Ukraińska läutet die Pausenglocke, beinahe | |
| übertönt vom lauten Rufen und Schreien der Kinder. Alle Türen gehen auf. | |
| Eine Erstklässlerin mit Brille und Pferdeschwanz stürmt mit ihrem | |
| Schreibheft nach draußen. Sie will gelobt werden für zwei Seiten | |
| Schönschrift in ukrainischer Sprache. Ein Mitschüler, der das beobachtet, | |
| schnappt sich auch sein Heft, rennt auf den Flur und umarmt die | |
| Englischlehrerin. | |
| ## Das Gehalt der Lehrerin reicht nicht zum Leben | |
| Natalia unterrichtet in fünf Klassen Englisch. Sie ist mit zwei Kindern aus | |
| Tschernihiw in der Ostukraine nach Polen gekommen. Die 38-jährige | |
| Ukrainerin möchte nicht mit Nachnamen genannt werden und auf keinen Fall | |
| über den Krieg sprechen. „Ich fange sonst gleich wieder an zu weinen“, sagt | |
| sie. Sie sei froh, dass ihre achtzehnjährige Tochter und ihr siebenjähriger | |
| Sohn mit ihr in Polen seien, erzählt Natalia, und freue sich, auch in Polen | |
| ukrainische Kinder unterrichten zu können. Aber: Das Geld reiche vorne und | |
| hinten nicht. | |
| Die Miete für eine kleine Wohnung sei zu hoch. „Also habe ich drei | |
| Schlafplätze in einem Hostel gemietet. Aber ich muss ja jeden Tag drei | |
| Personen durchbringen“, klagt sie. Zusätzlich zu den Vormittagsstunden in | |
| Warschau arbeitet sie deshalb noch abends und unterrichtet Kinder online, | |
| die in Tschernihiw geblieben sind. „Ich vermisse sie sehr!“, ruft sie und | |
| merkt nach einer kleinen Pause in bestimmtem Ton an: „Ich muss aber auch | |
| sagen, dass meine Kinder sehr tapfer und tatkräftig sind.“ | |
| So habe ihre Tochter ohne jede Polnisch-Kenntnisse einen Job bei McDonald’s | |
| gefunden und unterstütze die kleine Familie finanziell. Der Sohn gebe sich | |
| viel Mühe an der Schule in Warschau. „Ich bin sehr stolz auf meine | |
| Kinder!“, so Natalia. Sie lernten jetzt alle Polnisch, denn niemand wisse, | |
| wie lang sie noch in Polen bleiben müssten. Nach Westen weiterreisen will | |
| sie auf keinen Fall: „Nein, da wären wir ja noch weiter von unserer Heimat | |
| entfernt. Wir wollen doch so schnell wie möglich zurück.“ | |
| 28 Jun 2022 | |
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| Gabriele Lesser | |
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