# taz.de -- Geflüchtete aus Ukraine mit Behinderung: „Sie landen schnell bei… | |
> Der Verein Die Sputniks kümmert sich um russischsprachige Familien mit | |
> behinderten Kindern. Aktuell sind das vor allem aus der Ukraine | |
> geflüchtete. | |
Bild: Ein Kind wartet an der ukrainisch-rumänischen Grenze auf Weitertransport | |
taz: Frau Dengler, Ihr Verein berät und vernetzt russischsprachige Eltern | |
mit behinderten Kindern. Hatten Sie jemals so viel zu tun wie seit der | |
Ankunft der ukrainischen Geflüchteten? | |
Natalia Dengler: Schon seit Gründung im Jahr 2017 hatten wir einen | |
gigantischen Zulauf, erst aus Berlin und dann aus ganz Deutschland. Es war | |
wie die Büchse der Pandora, die wir geöffnet haben. Wir haben aktuell 2.700 | |
Anfragen von Familien, die wir noch nicht bearbeitet haben, weil unsere | |
Leute das nicht schaffen. | |
Woher kommt dieser große Bedarf? | |
Laut Statistik gibt es 100.000 russischsprachige Familien mit behinderten | |
Kindern oder Jugendlichen in Deutschland. In Berlin sind es etwa 6.000 | |
Familien. Fast alle von ihnen waren allein auf sich gestellt. Viele, auch | |
die, die seit 20 Jahren hier leben, kennen ihre Rechte nicht. Die | |
Informationen zu Pflegeleistungen, Therapien, Medikamenten, Hilfsmitteln, | |
Schule und Kita – das ist nichts, was sie irgendwo gesammelt in | |
verständlicher Sprache finden. Das haben wir alles über Jahre mühsam | |
zusammengesucht und in einfache russische Sprache übersetzt. | |
Es gibt solche Foren, in denen sich Eltern mit behinderten Kindern | |
vernetzen und gegenseitig beraten, bereits seit vielen Jahren in deutscher | |
Sprache. Warum ist ein Angebot in russischer Sprache so wichtig? | |
Wir bekommen tatsächlich regelmäßig den Vorwurf von Ämtern und auch von der | |
organisierten Selbsthilfe: Warum sprechen Sie Russisch und nicht Deutsch? | |
Wir würden eine monokulturelle Parallelgesellschaft befördern und nicht die | |
Integration. | |
Und was erwidern Sie dann? | |
Ich bin immer wieder entsetzt über das geografische und geschichtliche | |
Verständnis dieser Menschen. Als gäbe es nur ein russischsprachiges Land! | |
Manche wissen nicht einmal, dass zum Beispiel in der Ukraine fast alle | |
Menschen Russisch verstehen und meistens auch sprechen können, so wie in | |
allen postsowjetischen Republiken. Unsere Familien kommen aus 28 Ländern | |
und Republiken, aus verschiedenen Kulturen und Religionen. Wenn diese | |
Familien mit einem behinderten Kind in Deutschland ankommen, muss die | |
Situation des Kindes erst stabilisiert werden, bevor überhaupt an | |
Deutschlernen zu denken ist. | |
Vor dieser Herausforderung stehen jetzt auch die geflüchteten ukrainischen | |
Familien. | |
[1][Wenn ukrainische Eltern mit behinderten Kindern], die flüchten wollen | |
oder geflüchtet sind, auf Ukrainisch oder Russisch nach Informationen | |
suchen, dann landen sie ganz schnell bei uns. Ohnehin kam ein Drittel | |
unserer Familien schon vorher aus der Ukraine. So sind wir erste | |
Ansprechpartner geworden. Wir hatten vom ersten Tag des Krieges an Hunderte | |
Anfragen. | |
Wie genau helfen Sie? | |
Mit einem Kind mit Muskelatrophie kannst du dich nicht in einen überfüllten | |
Zug kämpfen. Einige Kinder können nur liegend transportiert werden. Viele | |
Eltern haben Angst, dass sie die Reise gar nicht schaffen mit ihrem Kind. | |
Sie rufen uns dann aus dem Keller an, in dem sie sitzen. Manchen gehen die | |
lebensnotwendigen Medikamente für ihre Kinder aus. | |
Können Sie diesen Familien auch aus der Ukraine heraus helfen? | |
Für die Versorgung, den Transport und die Verteilung haben wir ein Netzwerk | |
aufgebaut mit Hilfsorganisationen in der Ukraine, in Polen, in der Schweiz | |
und in Schweden. Wir haben bis jetzt rund 1.000 Familien herausgelotst und | |
untergebracht. Wir haben auf die Schnelle ein improvisiertes digitales, von | |
uns begleitetes Forum aufgebaut, in dem sich momentan Hunderte von | |
betroffenen Familien aus der Ukraine austauschen. | |
Welche Unterstützung brauchen die Familien dann hier vor Ort? | |
Aktuell geht es vor allem um die Unterbringung. Ein Kind mit starken | |
körperlichen Beeinträchtigungen können Sie nicht im vierten Stock | |
unterbringen. Und dann kommen erstaunlich viele Familien mit autistischen | |
Kindern. Nach dem Stress der Flucht verschlechtert sich deren psychische | |
Situation, sie werden zum Teil aggressiv. Es gab dramatische Probleme mit | |
Menschen, die solche Familien bei sich aufgenommen haben und nicht wussten, | |
was das bedeutet. Oder autistische Kinder, die sich in Sammelunterkünften | |
in jedes Bett legen und nicht zu bremsen sind. Da müssen wir passende | |
Angebote finden und aufklären. | |
Wie ist das mit Hilfsmitteln wie Pflegebetten oder Badeliegen, die konnten | |
ja auf der Flucht gewiss nicht alle mitgenommen werden… | |
Einige bekommen wir als Spenden aus Sanitätshäusern und von | |
Herstellerfirmen, und unsere Eltern spenden Hilfsmittel, die zu klein | |
geworden sind. In den ersten Wochen war auch die Versorgung in | |
Krankenhäusern und bei Ärzten schwierig, es gab ein chaotisches Vakuum, wir | |
haben dann mit einzelnen Ärzten kooperiert. Das ist aber inzwischen viel | |
besser geworden. | |
Wer macht denn diese ganze Arbeit gerade bei Ihnen, wenn Sie sagen, es gab | |
schon vorher zu viele Anfragen, als zu schaffen waren? | |
Wir haben unsere Basisarbeit faktisch eingestellt, da gibt es nur noch eine | |
Notbetreuung. Alle aktiven Kräfte arbeiten gerade mit geflüchteten | |
Familien. Ich will nicht lügen, aber das bringt unsere Ehrenamtlichen | |
wirklich an ihre Grenzen. Es gibt auch negative Situationen, in denen | |
Menschen Ansprüche stellen und aggressiv werden, wenn sie nicht erfüllt | |
werden. In denen behauptet wurde, ein Kind sei krank, und dann ist es gar | |
nicht so. In denen eine Wohnung als unpassend empfunden wird, weil der | |
Fernseher zu klein ist oder die Bettwäsche nicht überall das gleiche Muster | |
hat. In denen unsere Helfer beschimpft werden, weil sie nur Russisch | |
sprechen und kein Ukrainisch. Für unsere Familien, die ja auch behinderte | |
Kinder zu Hause haben, die diese Hilfe zum Teil in der Nacht erfüllen, ist | |
das schwer. Wir werden auch müde. | |
Hilft Ihnen Ihre Arbeit in der Flüchtlingskrise, mehr Gehör als | |
russischsprachiger Verein zu finden? | |
Wir sind bekannter geworden, das stimmt. Man hört uns jetzt auch von | |
politischer Seite mehr zu. Wir haben schon vor einem Monat an | |
Sozialsenatorin Katja Kipping geschrieben, dass wir uns klar sein müssen, | |
was Beratung und Begleitung von heutigen Geflüchteten für die Zukunft | |
bedeutet. Jetzt ist eine Notsituation, da ist alles etwas anders, die | |
Anfragen sind andere, und die Ehrenamtlichen arbeiten über ihre Kräfte | |
hinaus. Aber irgendwann werden die ganz regulären Anfragen kommen, und zwar | |
in einem noch gigantischeren Ausmaß als vorher schon. Es ist ein | |
Trugschluss zu glauben, dass dies mit den bestehenden Beratungsstrukturen | |
auch hier in Berlin zu schaffen sei. Selbst wenn man da ein bisschen | |
aufstockt. | |
Was braucht es, um die Situation bewältigen zu können? | |
Wir machen uns seit Jahren für eine russischsprachige Beratungsstelle für | |
Menschen mit Behinderung stark. Das gibt es für türkisch- und | |
arabischsprachige Menschen. Aber auf Russisch: fast null, erst recht nicht | |
speziell für Kinder. Die existierenden Beratungsstellen haben einzelne | |
russischsprachige Berater oder arbeiten mit Sprachmittlern. Aber die sind | |
überlaufen, es dauert, bis man einen Termin bekommt. Und sie erreichen nur | |
wenige russischsprachige Menschen, weil sie keinen Zugang zu dieser | |
Community haben. Die Migrationsberatungen und Integrationslotsen haben | |
vielleicht Zugang, aber sie sind nicht spezialisiert auf die Bedarfe von | |
Menschen mit Behinderung, erst recht nicht die von Kindern. | |
Was wäre Ihr Vorschlag? | |
Wir haben einen großen Pool an Peer-Beratern, das ist die Struktur der | |
Zukunft. Wir begleiten in Berlin aktuell rund einhundert ukrainische | |
Familien, viele davon beraten wir in Gruppen durch Peers, bei denen wir | |
mehrere Stunden zusammensitzen und unser Wissen weitergeben. Wir initiieren | |
niedrigschwellige Anlaufstellen. Aber für all das bräuchten wir wenigstens | |
eine finanzierte Fachkraft, die unsere Peers betreut. | |
Ist Berlin eigentlich überhaupt ein guter Ort für Eltern mit behinderten | |
Kindern? | |
Nein. Du bekommst keinen Kinderarzt, weil die völlig überlaufen sind. Du | |
wartest vier Monate auf Therapien und sechs bis neun Monate auf einen | |
Termin im sozialpädiatrischen Zentrum. Schulen und Kindergärten sind | |
genauso überlaufen. Das weiß jeder. | |
Stimmt die Vorstellung etwa nicht, dass es Menschen mit Behinderung in | |
Ländern wie der Ukraine oder Russland schlechter geht? | |
Es klingt vielleicht ein bisschen lustig, wenn man aus einem Land kommt, in | |
dem wenig funktioniert, und dann hier die Situation kritisiert. Deutschland | |
ist im Vergleich gut, weil die soziale Absicherung gut ist. Auch bei | |
komplizierten Erkrankungen wird man hier viel besser versorgt. Aber es ist | |
ein Unterschied, was man hier theoretisch alles bekommen könnte und was man | |
in der Realität bekommt. Die Regelversorgung ist schlecht, und das ist | |
besonders bei Kindern mit Behinderung dramatisch, weil die ersten Jahre | |
entscheidend sind. Hier musst du um alles kämpfen, und das kostet Zeit und | |
Kraft. | |
Und das ist in der Ukraine anders? | |
Dort gibt es private Reha-Einrichtungen, die gut sind. Die kosten Geld, | |
aber das kann man sich leisten, wenn man in der Ukraine Arbeit hat. Die | |
Familien flüchten jetzt nach Berlin und sagen: Unser Kind hat zu Hause | |
sechs Therapien in der Woche bekommen, wo bekomme ich das jetzt hier? Und | |
wir müssen sagen: Wir können dich unterstützen bei Hilfsmitteln, der Arzt- | |
und Therapeutensuche. Aber es dauert dann trotzdem meist Monate, ehe du | |
überhaupt einen Termin bekommst. Neu angekommene Migranten, besonders die | |
vom Krieg traumatisierten, benötigen unbedingt Unterstützung in ihrem Kampf | |
um Standardversorgung. Das machen wir. | |
27 Apr 2022 | |
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## AUTOREN | |
Manuela Heim | |
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