# taz.de -- Gesundheitssystem in der Ukraine: Notfall von Dauer | |
> Der russische Vernichtungskrieg trifft das Land hart. Viele Krankenhäuser | |
> sind zerstört, Medikamente werden knapp, Infektionskrankheiten nehmen zu. | |
Bild: Ein zerstörter Krankenwagen in Hostomel vor den Toren Kyjiws | |
Silbergoldene Rettungsfolien glitzern in der Sonne. Dutzende Hände | |
verbinden an diesem Tag Ende Mai in künstliche Wunden, massieren Brustkörbe | |
und zerren an Venenstaubändern, um einen imaginären Blutfluss zu stoppen. | |
Zwei Männer beobachten das Vorgehen. Dann rufen sie: „Stopp, die Zeit ist | |
um!“ | |
Die fünfundzwanzig Teilnehmenden des Crashkurses in „taktischer Medizin“ | |
halten inne, legen die Erste-Hilfe-Materialien zur Seite und stellen sich | |
im Halbkreis auf. Frauen und Männer aller Altersklassen, mit und ohne | |
medizinische Vorbildung. Auf der Wiese im Hof der Medizinischen | |
Bohomolez-Universität haben sie gerade in einer simulierten | |
Gefechtssituation Soldaten mit Schusswunden und Explosionsverletzungen | |
versorgt − Infusionen legen üben sie an Puppen, Druckverbände an sich | |
selbst. Fünfzehn Minuten hatten sie Zeit. Auf dem Kampffeld muss alles | |
schnell gehen: „Nur minimale Stabilisierung“, sagt der Kursleiter. | |
Eine Teilnehmerin berichtet aufgeregt: „Ich war überfordert, hatte keinen | |
Überblick, wo ich helfen sollte. Alle um mich herum hatten zu tun. Dann hat | |
mich ein Kollege um Hilfe gebeten, wir haben zusammen den Verletzten | |
verbunden.“ Der Kursleiter beschwichtigt, sie habe alles richtig gemacht, | |
den anderen gut zugeredet, wie es in einer Gefechtssituation richtig | |
gewesen wäre: „Sie haben Vertrauen unter den Helfern aufgebaut. Sie haben | |
immer wieder zu ihnen gesagt: ‚Die Soldaten schützen uns. Sie decken uns.‘ | |
Das ist gut!“ | |
Dass sich Zivilist*innen in Crashkursen für medizinische Einsätze an | |
der Front ausbilden lassen, ist auch eine von vielen Folgen des russischen | |
Vernichtungsfeldzugs in der Ukraine: Hunderte Krankenhäuser wurden bereits | |
zerstört, Medikamente sind an vielen Orten im Land knapp, chronisch Kranke | |
unterversorgt, Infektionskrankheiten breiten sich aus. Und das ukrainische | |
Gesundheitssystem kämpft nicht mehr nur gegen die Auswirkungen der | |
Coronapandemie, sondern nun auch mit einer unvorhersehbaren Zahl an | |
komplizierten Operationen und mangelndem Personal. | |
Einer, der sich diesem Kampf verschrieben hat, ist Mychayl Schejko. Der | |
32-Jährige verfolgt aufmerksam den Notfallmedizin-Workshop. Schejko steht | |
aufrecht, spricht in kurzen, klaren Sätzen. Er erklärt: „Die Kurse sind für | |
alle. Mindestens zwanzig Leute müssen sich anmelden.“ Schejko ist | |
eigentlich Chef einer IT-Firma. Die Medizin-Uni war vor dem 24. Februar | |
einer seiner größten Kunden. Seit dem Angriffskrieg auf die Ukraine | |
organisiert er gemeinsam mit dem Vize-Rektor der Uni, Oleksandr Naumenko, | |
die Spendenlogistik für die Unikliniken. | |
Sie bearbeiten Hilfeanfragen aus der ganzen Ukraine, bringen – oft | |
persönlich – Lebensmittel, Hygieneprodukte und Basismedikamente wie | |
Nasenspray, Schmerz- und Fiebertabletten in ausgebombte Orte. Neben | |
medizinischen Einrichtungen beliefern sie auch Armeeeinheiten oder Kinder- | |
und Seniorenheime. So versorgten sie vier Tage nach Abzug der russischen | |
Truppen Überlebende in Borodjanka, [1][Butscha] erreichten sie am zweiten | |
Tag nach der Befreiung. | |
Schejko ist seither viel am Telefon, mit Menschen im In- und Ausland. Die | |
meisten Spenden bekommt er von einem ehrenamtlichen Hilfskollektiv, dem | |
Ukraine Border Collective aus Brandenburg und Polen. Wenige Tage nach | |
Kriegsbeginn hatten sich dort spontan einige Privatleute vom Handwerker bis | |
zur Musikmanagerin zusammengetan. Ihr Ziel ist es, unbürokratische | |
Direkthilfe zu leisten, ohne Verwaltungs- und Personalkosten wie etwa bei | |
den großen Wohlfahrtsorganisationen. Es geht um möglichst schnelle Hilfe | |
dort, wo diese aktuell am dringendsten gebraucht wird. Ohne Wartezeiten, | |
ohne Organisationsschleifen. | |
Neben seiner neuen Arbeit als Logistikmanager trainiert Schejko seit | |
Kriegsbeginn auch für den Einsatz an der Front. „Natürlich will ich | |
kämpfen, mein Land verteidigen“, sagt er bestimmt. Aus gesundheitlichen | |
Gründen ist er in der ersten Mobilisierungswelle abgewiesen worden. Wegen | |
Rücken- und Magenproblemen. „Ich werde erst in der vierten Welle | |
eingezogen, dann für die letzten Kämpfe. Das wird schwer werden. Darauf | |
bereite ich mich vor. Aber ich hoffe sehr, der Krieg endet früher.“ | |
Ende Mai erscheint die Front weit weg von Kyjiw. Wenn die Sirenen heulen, | |
wird das weitgehend ignoriert, man vertraut auf die Luftabwehr. Doch die | |
entspannte Atmosphäre trügt, ein zweiter Sturm auf die Hauptstadt wird von | |
vielen befürchtet. An der kaum 60 Kilometer entfernten Grenze in Belarus | |
sollen sich wieder russische Truppen sammeln. | |
Bei Uni-Vize-Rektor Oleksandr Naumenko lässt das die Sorge vor erneuten | |
[2][Angriffen auf medizinische Institutionen] wachsen. Laut dem | |
wöchentlichen Ukraine-Lagebericht der Weltgesundheitsorganisation (WHO) | |
sind in den ersten drei Kriegsmonaten 256 Angriffe auf Einrichtungen, | |
Transportmittel und Personal der Gesundheitsversorgung dokumentiert. Allein | |
dabei wurden 59 Menschen verletzt, 75 getötet. | |
Zusätzlich gehen auch wehrfähige Männer aus medizinischen Berufen zur | |
Armee, viele medizinisch ausgebildete Frauen flüchteten mit ihren Kindern | |
ins Ausland. „Da mussten die Männer für sie mitarbeiten, im ersten | |
Kriegsmonat schliefen wir alle in den Kliniken“, erinnert sich Naumenko. | |
Im Computerseminarraum der Uni, wo am Morgen noch Online-Prüfungen | |
abgenommen wurden, sitzt der 56-Jährige an einem Gruppenarbeitstisch und | |
spricht laut über das Durchhaltevermögen und die Dienstbereitschaft seiner | |
Kolleg*innen: „Nach den ersten Wochen kamen viele Ärztinnen wieder zurück.�… | |
Denn medizinisches Personal gilt per Gesetz als Reserve − auch die Frauen − | |
und kann im Kriegsfall, der in der Ukraine seit dem 24. Februar gilt, zum | |
Dienst verpflichtet werden. | |
Naumenko ist HNO-Chirurg. Er lebt seit Kriegsbeginn in der Medizin-Uni. | |
Erst bezog er mit seiner damals im 8. Monat schwangeren Frau einen | |
Kellergang hinter der Mensa, ausgestattet mit Stromgenerator, mehreren | |
Sofas und einem großen Fernseher. An Evakuierung war in den ersten Wochen | |
nicht zu denken. „Im März fuhren hier russische Panzer vor den Fenstern auf | |
und ab“, erinnert sich Naumenko. Später, als es um Kyjiw ruhiger wurde, | |
gelang seiner Frau die Flucht nach Polen und Naumenko zog um, vom Keller in | |
sein Büro im zweiten Stock. Kurze Zeit später kam sein jüngstes Kind in | |
Polen zur Welt. Währenddessen operierte Naumenko Verwundete und | |
organisierte die Evakuierung ganzer Kliniken. | |
Naumenko sagt, die Medizin in der Ukraine habe sich in Friedenszeiten | |
zuletzt gut entwickelt. Jetzt aber sorgt er sich um die Zukunft der eigenen | |
Ärzteschaft. Aktuell sind 16.000 Studierende an der Bohomolez-Universität | |
eingeschrieben, von ihnen stammen 3.000 aus dem Ausland. Wegen der Pandemie | |
findet der Unterricht schon knapp zwei Jahre online statt, viele | |
Studierende sind deshalb zurück in ihre Heimatorte gezogen oder hatten sich | |
gar nicht erst etwas in der Hauptstadt gesucht. | |
Davon profitieren nun vor allem die medizinischen Einrichtungen außerhalb | |
der Ballungszentren. „Jetzt in Kriegszeiten arbeiten unsere Studenten an | |
allen Krankenhäusern des Landes. Manche sind auch in Polen oder weiter im | |
Westen. Nur einige Doktoranden sind noch hier.“ | |
Und müssen harte Arbeit leisten. „Vor dem Krieg konnten wir alle | |
Herausforderungen und Engpässe schrittweise lösen. Jetzt kann ich nur für | |
die Region Kyjiw sagen: Die medizinische Lage ist normal, aber nicht gut“, | |
sagt Naumenko. Seine Ärzt*innen behandeln Soldat*innen − aber auch | |
Zivilist*innen − mit Schusswunden, Brüchen, Erschütterungen und | |
Explosionsverletzungen. Viele haben Arme, Beine, Ohren oder Augen verloren. | |
In den ersten Wochen mussten einige Krankenhäuser schließen, besonders in | |
den umkämpften Gebieten mangelte es an Medikamenten – bis die ersten | |
Hilfsgüter und Spenden die Krankenhäuser erreichten und sich die russischen | |
Truppen aus einigen Gebieten wieder zurückzogen. | |
In Butscha und Hostomel konnten so die laut Naumenko vormals „auf | |
europäischem Niveau“ ausgerüsteten Kliniken eingeschränkt wieder öffnen. | |
Von der Partner-Uniklinik in Lübeck kam ein neues mobiles Röntgengerät an | |
die Kyjiwer Uniklinik. Von der WHO Impfstoffe und Insulin. Das | |
deutsch-polnische Hilfskollektiv brachte Anfang Mai einen Rettungswagen für | |
die Uniklinik der Hauptstadt. Das Uni-Kellerlager zur Verteilung im ganzen | |
Land befüllen sie regelmäßig mit Erste-Hilfe-Kästen, Verbandsmaterial, | |
Schilddrüsentabletten, Spritzen und Infusionsgerät. | |
Trotzdem kommt es zu Engpässen. An der Front werden am dringendsten | |
taktische Notapotheken und spezielle Druckbandagen gebraucht. Doch beides | |
ist in der Ukraine aktuell nicht mehr erhältlich, selbst in der EU muss man | |
sie Wochen im Voraus bestellen. Gleichzeitig verbreiten sich in den | |
Gefechtsgebieten, in Schutzkellern, Evakuierungsbussen und Notunterkünften | |
teilweise hoch ansteckende Infektionskrankenheiten wie Cholera, Masern, | |
Diphtherie, Covid-19 oder Polio. Und auch die Behandlung nicht | |
übertragbarer Krankheiten wie Krebs, Diabetes, Herzkreislauf- und | |
Atemwegserkrankungen sowie chronischer Beschwerden verschlechtert sich. | |
Laut WHO sind die meisten der circa 50.000 erwachsenen | |
Krebspatient*innen in der Ukraine geblieben. Sie könnten immerhin | |
eingeschränkt weiter versorgt werden, da sich die größten Spezialkliniken | |
in sichereren Regionen befinden. | |
Für Naumenko kommt die Behandlung dieser Erkrankungen im Krieg an zweiter | |
Stelle, wichtiger sei die Handlungsfähigkeit der Armee. „Es geht ja nicht | |
um einen Krieg um Territorien, sondern um unser Recht, ukrainisch zu sein. | |
Russland will uns nicht erobern, sondern vernichten. Wir müssen erst die | |
Ursache bekämpfen, dann können wir die Folgen behandeln“, sagt Naumenko. | |
Und wie diese Folgen aussehen werden, kann kaum jemand vorhersagen. Julia | |
Melnyk aber ahnt, dass ein altes Problem der Ukraine sich drastisch | |
verschärfen wird – die HIV-Epidemie. Melnyk, Ende 20, eine zurückhaltende | |
Frau, arbeitet seit acht Jahren als Sozialarbeiterin mit HIV-positiven | |
Menschen mit oft kritischem Drogenkonsum im HIV-Zentrum des Kyjiwer | |
Stadtkrankenhauses. Das wiederum wird von Naumenkos Uniklinik und dem | |
Ukraine Border Collective mit Spenden für die stationäre und ambulante | |
Behandlung, eine anonyme Testeinrichtung und die Hepatitis- und | |
Entzugsstationen versorgt. | |
In ihrer Mittagspause sitzt Melnyk vorm Klinikgebäude auf einer | |
Spielplatzbank und erzählt davon, wie sich ihr Arbeitsalltag seit | |
Kriegsbeginn verändert hat. In ihrem Beruf sei sie es eigentlich gewohnt, | |
Distanz zu halten, routiniert zu beraten, ohne viele Emotionen. Doch seit | |
dem 24. Februar habe sich auch das verändert. Sie muss nun häufiger weinen. | |
Die Ukraine ist das Land mit der zweitgrößten HIV-Epidemie in Europa − nach | |
Russland. Rund 250.000 Menschen sind HIV-positiv, mehr als die Hälfte wird | |
mit antiretroviralen Medikamenten behandelt. Seit Jahren läuft ein | |
intensives Aufklärungs- und Präventionsprogramm. | |
Vor dem Krieg betreuten Melnyk und ihre sieben Kolleg*innen täglich bis | |
zu 200 Menschen, die zum Testen kommen, um Medikamente abzuholen oder eben | |
zu Beratungsgesprächen. Melnyk begleitet die Menschen über Wochen und teils | |
Jahre vom ersten HIV-Test durch alle Stationen: von ärztlichen | |
Untersuchungen, medikamentöser Behandlung zu Problemen mit Partner*innen | |
oder Familie. | |
Die Ukraine, sagt Melnyk stolz, sei heute eines der loyalsten Länder | |
gegenüber Menschen mit HIV: Betreuung sowie Tabletten gebe es kostenfrei, | |
sogar ohne Krankenversicherung oder ukrainische Papiere. Wenn auch Generika | |
anstatt von Markenprodukten − das koste den Staat nur 20 statt 120 Dollar | |
pro Monat und Person. Die Medikamentenausgabe, so Melnyk, sei im Krieg dank | |
großer Vorräte und Spenden gesichert, werde aber strenger kontrolliert. Vor | |
dem Krieg wurden Tabletten für drei Monate ausgegeben, jetzt nur für einen. | |
Krieg ist ein Faktor, der die erreichten Erfolge − reguläre Tests, | |
regelmäßige Behandlung und sinkende Infektionszahlen – schnell zunichte | |
machen kann. | |
In den ersten Kriegstagen kamen in Melnyks HIV-Zentrum in Kyjiw vor allem | |
Positive, die sich freiwillig zum Militärdienst melden wollten und dafür | |
Nachweise über Krankheitsverlauf und Tablettenschema benötigten. Später | |
neue Patient*innen aus den Kampfgebieten, wo HIV-Zentren zerstört | |
wurden. Die Zahl der Hilfebedürftigen stieg bald an, von den täglichen 200 | |
im Februar auf rund 350 Personen am Tag im März und April. | |
Kyjiw ist einer der HIV-Hotspots in der Ukraine. Aber auch in Donezk, | |
Luhansk, Dnipro und Saporischschja im Osten und Süden sind die Zahlen hoch. | |
Das hat mit dem Krieg im Donbass zu tun, dessen Folgen sich nun auch im | |
aktuellen Krieg abzeichnen. „Unsere Erfahrung vom Krieg im Donbass ist, | |
dass HIV-Infektionen stark zunehmen“, sagt Melnyk. Statistiken des | |
ukrainischen Gesundheitsministeriums belegen das: Nach 2014 stiegen die | |
Infektionszahlen, nach abnehmendem Trend in den Vorjahren, deutlich an, | |
obwohl die Bevölkerung in den von Russland damals schon besetzten Gebieten | |
wie der Krim nicht mehr mitgezählt wurde. Gründe für die Infektionszunahme | |
damals wie heute seien, so Melnyk, die mangelnde Hygiene im Kampfgebiet, | |
aber auch sexuelle Gewaltverbrechen. | |
Mit Letzterem hat auch Melnyk nun mehr zu tun: „Wir haben jetzt viele Opfer | |
sexueller Gewalt, die zu uns kommen. Vor dem Krieg waren das Einzelfälle.“ | |
Melnyk betreut nun auch Vergewaltigungsopfer aus Butscha und Irpin. | |
Vor dem Krieg betreute sie auch etwa zwanzig Patient*innen aus | |
Russland, die regelmäßig nach Kyjiw kamen. „Diese Menschen haben mir am 25. | |
Februar als erste geschrieben. Nie etwas Schlechtes“, sagt Melnyk. Woher | |
sie jetzt ihre Medikamente bekommen, wisse sie nicht. | |
Der Krieg und der mit ihm wachsende blinde Hass – auch pauschal gegen alle | |
Leute mit russischem Pass − machen Melnyk traurig. Während sie erzählt, | |
weint sie ein wenig. | |
Während der Notfallmedizinkurs in der Bohomolez-Universität weiter das | |
Gelernte auswertet, ist im Hinterhof das Spendenverteilteam startklar: Zehn | |
Männer und Frauen zwischen 30 und 40, aus Polen, Deutschland und der | |
Ukraine haben unter Mychayl Schejkos Anleitung über 200 Tüten und Kartons | |
mit Tabletten, Damenbinden und Babywindeln in einen gelben Transporter | |
verladen. Sie warten auf Uni-Vize-Rektor Naumenko. | |
Während des Luftalarms schauen sie fragend in die weißen Schäfchenwolken am | |
blauen Himmel. Die nichtukrainischen Helfenden nehmen den Sirenenklang mit | |
ihren Handys auf. Als Naumenko dann vom Termin im Ministerium zu ihnen | |
eilt, geht es los: mit dem Transporter und zwei Pkws nach Moschtschun, | |
einem Dorf im Bezirk Butscha, keine dreißig Autominuten von Kyjiw entfernt. | |
Nach dem russischen Überfall war der Ort wie Dutzende weitere über einen | |
Monat von russischen Truppen besetzt, zwei Wochen lang wurde es, so | |
erzählen es die Bewohner*innen, von Mehrfachraketenwerfern, Flugzeugen und | |
Hubschraubern beschossen. Manche Menschen harrten die gesamte Zeit in ihren | |
Kellern aus. Andere konnten entkommen und kehren nun zum Aufräumen und | |
Aufbauen zurück. Strom und Gas gibt es nur unregelmäßig. Der Dorfladen ist | |
zerbombt. Benzin für Privatpersonen limitiert und mit umgerechnet knapp | |
zwei Euro pro Liter kaum bezahlbar − nur Rettungswagen und Armee bekommen | |
unbegrenzte Mengen Treibstoff. | |
Umso erstaunter blicken die Moschtschuner*innen, als sie die Freiwilligen | |
auf ihrer Dorfstraße vorfahren sehen. Schejko und Naumenko weisen dem | |
Transporter den Weg. Rund zwei Drittel der Häuser hier sind zerstört. Wo | |
sie Menschen zwischen den Ruinen erkennen, halten sie an. Steigen aus, | |
sprechen kurz über das Erlebte, verteilen Spendentüten und fragen, wo sie | |
weitere Bedürftige finden − vor allem ältere und weniger mobile Leute. | |
Eine 87-jährige Frau überlebte im Vorratskeller ihren zweiten Herzinfarkt. | |
Eine junge Mutter lebt jetzt mit ihrer Tochter in einem Zelt neben den | |
Grundmauern ihres abgebrannten Hauses und sucht Hilfe für ihre verletzte | |
Katze. Ihre Nachbarin bittet um Nierentabletten, aber die dürfen die | |
Freiwilligen nicht ohne ein ärztliches Rezept herausgeben. Nur eine | |
83-jährige Frau pfeift auf Medizin: „Ich habe noch nie Tabletten genommen, | |
ich brauche nichts.“ Sie freut sich über die Nudeln und hofft darauf, dass | |
bald der Strom zum Kochen wieder angestellt wird. | |
Gute drei Stunden später kommt das zehnköpfige Hilfsteam wieder im Zentrum | |
der Hauptstadt an. Um sich dem größten neuen Problem zu widmen: dem | |
Benzinmangel. Die WHO warnt: Treibstoffmangel könnte die Lieferung und | |
Verteilung medizinischer Hilfsgüter bremsen. Eine Lkw-Fahrt von der | |
polnischen Grenze nach Kyjiw kostet aktuell bereits mehrere Hundert Euro. | |
Vor Kriegsbeginn gab es in der Ukraine einen Liter Benzin für weniger als | |
umgerechnet einen Euro, jetzt kostet er schon über zwei. Wenn es überhaupt | |
Treibstoff gibt, die meisten Tankstellen sind geschlossen. | |
Das Ukraine Border Collective hat die jüngsten Transporte bereits in Teilen | |
per Schiene nach Kyjiw gebracht, immer abhängig von der Kulanz der | |
Zugbegleitenden. Schejko, Naumenko und das Team aus Polen und Deutschland | |
sammeln nun also Ideen: Ob sich Sponsoren für eigene Zugwaggons finden | |
ließen? Oder ein Zwischenlager im Westen der Ukraine, um mit kleineren, | |
sparsameren Fahrzeugen fahren zu können? | |
Als das Kollektiv dann am Abend wieder Spenden am Kyjiwer Bahnhof abholt, | |
heulen mitten im Wolkenbruch die Sirenen. Zwei Gefahren sitzen den | |
Helfenden im Nacken: dass der Benzinmangel die Versorgungsketten kappt – | |
und dass Russland einen neuen Sturm auf Kyjiw startet. Eine gute Woche | |
später, am 5. Juni 2022, schlagen erneut Raketen in Kyjiw ein. | |
10 Jun 2022 | |
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