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# taz.de -- Geflüchtete aus Ukraine mit Behinderung: Voller Barrieren
> Unter den Geflüchteten sind auch viele Menschen mit Behinderung. Ohne
> Ehrenamtliche würde das System in Deutschland längst zusammenbrechen.
Bild: Flüchtende besteigen am 4. März einen Evakuierungszug in Odessa
Ihre größte Sorge auf der Flucht ist es, ihre fünfjährigen Zwillinge zu
verlieren. „Die beiden können nicht sprechen. Sie haben Autismus“, erzählt
Olena Polishchuk der taz am Telefon. Den Zwillingen Ustym und Yarema wurde
die Diagnose im Alter von zwei Jahren gestellt. „Sie sind sehr aufgeweckt
und rennen überall rum. Ich habe auf der Flucht an jeder Station kleine
Zettel mit meinen Kontaktdaten hinterlassen, falls die beiden verschwinden
sollten“, sagt die zweifache Mutter.
[1][Drei Tage dauerte die Flucht] von Kiew nach Deutschland. „Auf dem Weg
wurden wir oft seltsam angeguckt. Das Verhalten meiner Söhne ist auffällig.
Viele verstehen nicht, dass es auch [2][Behinderungen gibt, die nicht
sofort sichtbar sind.“] In Berlin angekommen werden sie von ihrer Freundin
Nadja in Empfang genommen, die sie noch aus Kiew kennt. Nadja möchte in
diesem Text nur mit Vornamen vorkommen. Sie können einige Tage bei ihr
unterkommen. Ein Glück, denn eine Sammelunterkunft kommt für die Familie
nicht infrage. In der Regel sind diese nicht inklusiv. Nadja zieht
ebenfalls ein Kind mit Autismus groß und wohnt schon seit einigen Jahren in
Deutschland. „Wir hatten Glück, dass wir Nadja kennen und sie uns hilft“,
so Polishchuk.
Doch für die meisten Geflüchteten mit Behinderung verläuft die Ankunft in
Deutschland nicht so barrierefrei. Das kritisiert auch Anja Köhne: „Für
queere Menschen und für Menschen of Colour gibt es am Berliner Hauptbahnhof
Empfangsstellen. Das ist richtig und wichtig. Es gibt allerdings keine
Anlaufstellen für Menschen mit Behinderung. Die Menschen kommen an und sind
erst mal verloren.“ Köhne ist selbst Mutter eines pflegebedürftigen Kindes
und setzt sich seit Jahren ehrenamtlich für die Belange von Menschen mit
Behinderung ein. Bereits vor dem Krieg in der Ukraine waren die
Betreuungsstrukturen für Menschen mit Behinderung restlos überstrapaziert,
beklagt Köhne.
„Die Leute kommen in Deutschland in einem System an, das in sich
zusammenfällt. Es wird zu 80 Prozent von ehrenamtlichen Strukturen
getragen, der kleine Rest sind staatliche Träger.“ Auch Familie Polishchuk
erhält Unterstützung von einem privaten Träger, zu dem Nadja vor der
Ankunft der Familie Kontakt aufgenommen hatte. Die Sputniks e. V.
organisieren eine Unterkunft für ein paar Tage für die kleine Familie in
einem Kindergarten in Berlin-Charlottenburg.
Die Sputniks sind derzeit der einzige russischsprachige Verein in ganz
Deutschland, der Kinder mit Behinderung unterstützt. Die Ehrenamtlichen
stammen selbst aus der ehemaligen Sowjetunion und haben Kinder mit
Behinderungen. Sie wissen genau, vor welche Herausforderungen die deutsche
Bürokratie und das Sozialsystem Neuankömmlinge wie Familie Polishchuk
stellt. Es sind Sprachbarrieren, lange Wartezeiten und fehlende
Betreuungskapazitäten, die viele erst überwinden müssen. Dabei stößt der
Verein, der bereits seit 2009 aktiv ist, derzeit selbst an seine Grenzen.
Tausende Familien aus der Ukraine haben sich bei ihnen gemeldet, sagt die
Geschäftsführerin Natalia Dengler. Die Organisation mobilisiert seit Tagen
ihre letzten Ressourcen, um den ankommenden ukrainischen Menschen zu
helfen.
## Es fehlt an Geld
Ehrenamtliche des Vereins lotsen virtuell mithilfe von Ortskräften
betroffene Familien aus ihrer Stadt im Krieg über die Grenze bis zu ihrem
vorläufigen Aufenthaltsort in Deutschland. Dort nehmen die Sputniks die
Familien in Empfang und leisten Hilfe bei bürokratischen Anliegen und
vermitteln privat Unterkünfte. Doch damit hört die Arbeit nicht auf. „Die
Menschen haben unzählige Fragen, zum Beispiel wie und wo ihr Kind
medizinisch versorgt werden kann“, sagt Dengler.
Seit Jahren beklagt Dengler die fehlende Finanzierung für ihren Verein. In
der Vergangenheit wurden bereits mehrmals Förderanträge abgelehnt.
Begründet würde das damit, dass der Verein sich nur auf die
russischsprachige Gemeinschaft fokussiere und sich dadurch kulturell
verschließe. Das geht auch aus Ablehnungsschreiben hervor, die der taz
vorliegen. Dabei bildet die russischsprachige Gemeinschaft mit drei
Millionen Menschen die zweitgrößte Einwanderungsgruppe in Deutschland. Die
Sputniks betreuen laut eigener Aussage Menschen aus insgesamt 28 Nationen,
deren Gemeinsamkeit die russische Sprache ist. Der ehrenamtliche Verein
leistet seit Jahren die Arbeit, die das überlastete deutsche Sozialsystem
nicht mehr bewältigen kann. Das macht sich jetzt in der aktuellen
Krisensituation besonders bemerkbar.
Auch die Behindertenbeauftragten von Bund und Ländern appellieren in einem
gemeinsamen Schreiben an die amtierende Regierung. Die Situation von
Geflüchteten mit Behinderung in Deutschland sei derzeit katastrophal. Sie
fordern die „unmittelbare Bereitstellung dringend erforderlicher
Hilfsmittel“ und eine „bedarfsgerechte Unterbringung, möglichst außerhalb
von Sammelunterkünften“. Es mangelt an Fachkräften, freien Betten,
Informationen in Gebärdensprache und Dolmetscher*innen.
Täglich kommen Tausende Geflüchtete in Deutschland an. Darunter viele, die
auf spezielle Hilfe angewiesen sind. Laut der Lebenshilfe haben in der
Ukraine offiziell mehr als 261.000 ukrainische Menschen eine Behinderung,
unter ihnen 159.000 Kinder. „Die Menschen, die hier ankommen, sind schwer
traumatisiert. Sie haben spezielle Bedürfnisse, die gerade jetzt beachtet
werden müssen. Dafür fehlen die Kapazitäten“, sagt die ehrenamtliche
Helferin Köhne. „Einige haben zum Beispiel einen Therapiehund, für den ist
dann kein Platz im Heim.“
## Stundenlanges Warten und zerstörte Fluchtwege
Für viele Menschen mit Behinderung ist eine Flucht eigenständig nicht
möglich. Die Fluchtrouten und Transportmittel sind nicht barrierefrei.
Hinzu kommen stundenlange Wartezeiten an den Grenzübergängen und durch den
Krieg zerstörte Fluchtwege. Unvorstellbar für jene, die eingeschränkt sind
in ihrer Mobilität.
Auch Olena Polishchuk zögert, bevor sie mit den Zwillingen das Land
verlässt. Kiew ist ihr Zuhause. Hier wohnt die Familie, hier haben sie ein
Haus, Arbeit und Struktur. Zwei Wochen lang verstecken sich Polishchuk und
ihre Familie im Keller ihres Einfamilienhauses. Auf engstem Raum, mitten in
Kiew, gemeinsam mit ihrem Ehemann, den Zwillingen und den Großeltern. Sie
schlafen bei 15 Grad, zwischen eingelegtem Gemüse in den Regalen und
Schießereien am Rande der Stadt. Nur für kurze Spaziergänge wagen sie sich
raus an die frische Luft. Sobald der Luftalarm über Kiew ertönt, müssen sie
zurück in den Schutzraum. Vor allem für Yarema und Ustym ist das eine
enorme Belastung. „Für die Kinder wurde es nach einer Zeit schwieriger. Ihr
psychischer und körperlicher Zustand hat sich im Keller verschlechtert.“
Die Zwillinge müssen rund um die Uhr betreut werden. „Es gibt kaum
Unterstützungsangebote für autistische Kinder in der Ukraine, viele sind
privat und teuer“, erzählt Polishchuk. Nur die wenigsten können sich das
leisten. Polishchuk und ihr Mann hatten Glück. Die beiden haben einen Platz
in einem staatlichen Kindergarten für ihre Söhne gefunden. Doch der
Kindergarten hat seit Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine
geschlossen. Die wöchentliche Sprach- und Physiotherapie der Brüder findet
nicht mehr statt. An einen Alltag ist nicht mehr zu denken. Für die
Zwillinge bricht damit ihre überlebenswichtige Routine weg. Viele Menschen
im autistischen Spektrum nehmen ihre Umwelt oft als unvorhersehbar und
chaotisch wahr. Sie haben Schwierigkeiten damit, sich neuen Situationen
anzupassen. Feste Abläufe im Alltag helfen ihnen dabei, sich im Chaos
zurechtzufinden.
Nadja überredet Olena schließlich dazu, zu fliehen. „Sie hatten die Wahl
zwischen Krieg und Keller oder der mühsamen Flucht in die Sicherheit“, sagt
Nadja. Der Keller ist auf Dauer keine Option mehr, auch weil die Bedrohung
durch die russischen Streitkräfte näher rückt. Familie Polishchuk bricht am
späten Abend Mitte März Richtung Lwiw auf. Die Großeltern kommen vorerst
nicht mit. Ihr Ehemann kann sie nur bis zur Grenze nach Polen begleiten.
[3][Als Mann im wehrpflichtigen Alter muss er zurückbleiben.] Den Kindern
erzählen sie auf dem Weg, sie spielen ein Spiel. Wie in dem Film „Das Leben
ist schön“, sagt Olena später. „Auf der Flucht habe ich versucht, mir kein
Fünkchen Angst, keine Trauer anmerken zu lassen. Das Spiel sollte nicht
auffliegen.“ Die Flucht belastet die Zwillinge trotzdem psychisch. Sie
fallen wieder zurück in ihrer Entwicklung, sind unruhig, machen ins Bett
und in die Hose.
Mithilfe der Sputniks und Nadja konnte Familie Polishchuk mittlerweile in
einer Kleinstadt in Niedersachsen in einem leerstehenden Haus mit Hof
untergebracht werden. Dort kann sich die Familie erholen. Ganz in der Nähe
gibt es ein Therapiezentrum für Kinder mit Autismus. „Wir warten derzeit
noch darauf, dass der Unterricht für die beiden beginnen kann. Ich versuche
so lange, meine Deutschkenntnisse aus der Schule aufzufrischen. Die
Einwohner kümmern sich rührend um uns. Ich bin sehr dankbar“, sagt
Polishchuk. Für die Zwillinge kehrt damit erst langsam wieder ein Stück
Alltag ein, auch wenn die gewohnte Routine nie wieder dieselbe sein wird.
Und damit ist der Fall von Familie Polishchuk noch eine positive Ausnahme,
viele Geflüchtete mit Behinderung warten weiterhin auf eine barrierefreie
Unterbringung.
6 Apr 2022
## LINKS
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## AUTOREN
Sonja Smolenski
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