| # taz.de -- Solidarität mit der Ukraine: Blau-gelbe Punkte | |
| > Im Juni 1969 stoppte die Bürgeraktion Roter Punkt die Fahrpreiserhöhung | |
| > für Busse. Sie könnte Vorbild sein für eine Bewegung der Solidarität mit | |
| > Kiew. | |
| Bild: Aktion „Roter Punkt“ gegen Fahrpreiserhöhungen im Oktober 1971 in Es… | |
| Es ist quälend, zwischen Moral und der Logik des Krieges hin und her zu | |
| pendeln: Der Blick auf Bilder drängt zu radikalen Maßnahmen, aber keiner | |
| kann mir sagen, ob die Folgen eines Gasboykotts so dramatisch wären, wie | |
| der BASF-Chef behauptet; ich weiß nicht, wozu deutsche Autofahrer fähig | |
| sind oder welche Folgen die Einstellung der Ammoniakproduktion hätte. | |
| Allenfalls beim Export von Ritter Sport und Metro-Würstchen habe ich eine | |
| klare Meinung, bei den Aufrufen zum Nato-Einmarsch von [1][jugendlichen | |
| Chefreporterinnen auf www.welt.de] oder bei der Befürchtung, der kranke | |
| Mann im Kreml könne bis zum Äußersten gehen. Und diesen Satz zu schreiben, | |
| kommt mir schon nach dem Punkt zynisch vor. Es ist furchtbar, in einer | |
| solchen Situation nur wählen zu können, wessen Urteilsvermögen und Kenntnis | |
| man vertraut. | |
| Und es ist regelmäßig zum Kotzen, wenn Wahlkämpfer oder Kolumnisten ihre | |
| alten Suppen mit Freiheitspathos aufmotzen. Man möchte was tun, aber was? | |
| [2][Viele helfen] auf Bahnhöfen und in Unterkünften, wer kann, stellt seine | |
| Wohnung zur Verfügung. Wir drehen die Heizung runter, wir spenden, wir | |
| folgen der verzweifelten Aufforderung von Wolodimir Selenski, auf die | |
| Straßen zu gehen. | |
| Können wir noch mehr tun, wir Nichtentscheidungsverpflichteten mit | |
| begrenzter Zeit, außer demonstrieren? Etwa so weit war es in einem dieser | |
| vielen Gespräche nach einer dieser vielen [3][Horrormeldungen]. „Man | |
| bräuchte“, sagte da einer der Älteren, „wieder so etwas wie den Roten | |
| Punkt.“ Der Rote Punkt, das war, 1969, eine Bürgeraktion gegen die Erhöhung | |
| der Fahrpreise im öffentlichen Nahverkehr in Hannover, von 70 auf 80 | |
| Pfennig. | |
| ## Der Rote Punkt funktionierte | |
| Es gab Proteste, die nützten nichts, Studenten blockierten die Gleise und | |
| Busdepots, die Polizei griff ein, es wurde weiter blockiert. Die Polizei | |
| kam mit Wasserwerfern, das erweckte den Unwillen von ganz stinknormalen | |
| Bürgern, die auf einmal Lust an Vergehen gegen den § 1 der StVO fanden und | |
| sich dazusetzten. Der Verkehr blieb lahmgelegt – eine Woche lang. Und | |
| trotzdem kamen fast alle pünktlich zur Arbeit, zur Schule, zum Arzt, und | |
| sogar komfortabler als sonst. | |
| Wegen des Roten Punktes. Der hatte zehn Zentimeter Durchmesser, | |
| sympathisierende Autofahrer konnten ihn aus Flugblättern ausschneiden oder | |
| aus den hannoverschen Zeitungen, denn auch die hatten sich der | |
| Volksstimmung angeschlossen, und hinter die Windschutzscheibe kleben. Die | |
| Stadtverwaltung selbst ließ 50.000 Rote Punkte drucken. Und immer mehr | |
| Motorisierte machten mit; freiwillige Lotsen winkten die Autos in die | |
| Haltestellenspuren der stillgelegten Straßenbahnen. | |
| Der Verkehr floss reibungslos, an den Knotenpunkten regelten Aktivisten den | |
| Verkehr so professionell wie Polizisten. Es machte allen Beteiligten einen | |
| Riesenspaß, es hätte ewig so weitergehen können. Und deshalb schwenkte die | |
| Stadtregierung nach einer Woche die weiße Fahne und sagte die | |
| Kommunalisierung der bis dahin privat betriebenen Hannoverschen | |
| Verkehrsbetriebe zu. | |
| Weil nichts so überzeugend ist wie der Erfolg, gab es noch ein paar Jahre | |
| lang Rote-Punkt-Aktionen in einem Dutzend anderer Städte – und in Hannover | |
| leuchten bei den Älteren die Augen, wenn sie von der Aktion erzählen. | |
| Freilich auch davon, dass auch die schönsten Erfolge eine Halbwertszeit | |
| haben: Neun Monate später wurden die Preise doch erhöht. | |
| Kollektive Aktionen dieser Art und Größenordnung sind selten. In diesem | |
| Fall kam einiges zusammen: Es herrschte ganz allgemein ein Klima des | |
| Aufbruchs, es gab ein breites Bündnis, vor allem aber war die Aktion selbst | |
| sportlich und schaffte eine neue Gemeinschaft auf den Straßen: Gespräche | |
| kamen in Gang, man politisierte, lernte sich kennen, machte | |
| unvergleichliche Erfahrungen in fremden Autos. | |
| ## Bundesweit Nachahmer | |
| Man sagte nicht nur seine Meinung – in Chören und auf Transparenten –, | |
| sondern organisierte eine funktionierende Alternative. Und man tätigte | |
| einen körperlichen Einsatz, man setzte sich in Bewegung, wurde sichtbar für | |
| andere und andere für einen. Handeln verpflichtet, mehr als Worte. Die | |
| Bürgergesellschaft erlebte sich für eine Weile als Akteur. Der Krieg in der | |
| Ukraine geht weiter. Verzweifelt bittet der ukrainische Präsident Selenski | |
| auch uns Bürger, zu zeigen, dass wir solidarisch sind. | |
| Für einen Augenblick also stelle ich mir vor, dass wir nicht warten, bis | |
| irgendwann nach Ostern Benzinzuschüsse und ermäßigte Monatskarten verteilt | |
| werden, sondern dass jetzt schon Tausende von Autofahrern in allen Städten, | |
| in allen Landkreisen einen blau-gelben Punkt, 10 Zentimeter Durchmesser, | |
| hinter die Windschutzscheibe kleben, die Wartenden an den Haltestellen der | |
| Busse und Bahnen, an den Kreuzungen so einen Punkt hochhalten. | |
| Dass das um sich greift: etwas, wenn auch Kleines zu tun, um Putin und den | |
| Spekulanten ein wenig die Nachfrage abzudrehen, um Engpässen vorzubeugen. | |
| Und zur gleichen Zeit etwas gegen den ökologischen Wahnsinn, dass | |
| Hunderttausende morgens und abends allein in ihren Fahrzeugen mit | |
| Verbrennungsmotor sitzen, und drei Plätze sind frei. Es wäre auch eine | |
| kleine Revolte gegen den Individualismus des Konsums und des Verkehrs, an | |
| den wir uns so gewöhnt haben. | |
| Es würde Reibung erzeugen, und Wärme, und die Zahl der Begegnungen erhöhen. | |
| Wir würden uns als Gesellschaft erleben und uns vielleicht sogar während | |
| der Fahrt darüber streiten, ob die Annäherungspolitik richtig war, was | |
| eigentlich so schön daran ist, 30 Minuten allein mit sich im Auto zu | |
| sitzen, oder wie wir es mit Nackensteaks halten. | |
| Ich weiß, das ist ein romantischer Gedanke, und nostalgisch dazu. Man kann | |
| so etwas nicht voraussagen oder planen, aber es sind immer drei oder fünf | |
| oder fünfzig, die den Anfang machen. Und wo es klappt, verändert es etwas, | |
| so wie damals in Hannover. Ein Roter Punkt – das ist ja schließlich auch | |
| die Markierung auf der Landkarte, die den eigenen Standpunkt anzeigt – und | |
| oft den Beginn einer Wanderung. | |
| 7 Apr 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.welt.de/debatte/kommentare/plus237970757/Ukraine-Krieg-Militaer… | |
| [2] /Hilfe-fuer-Gefluechtete-aus-der-Ukraine/!5840684 | |
| [3] /Massaker-in-Butscha/!5843277 | |
| ## AUTOREN | |
| Mathias Greffrath | |
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