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# taz.de -- Ukrainische Geflüchtete in Deutschland: Mit Anschluss an die Famil…
> Viele Geflüchtete aus der Ukraine sind privat untergekommen. Ein Besuch
> in einer ungewöhnlichen Wohngemeinschaft in Brandenburg.
Bild: Jörg Schmidt-Wottrich und Anissja Wottrich (rechts) mit ihren Mitbewohne…
Dieser Text ist Teil einer freundlichen Übernahme. Die [1][taz
Genossenschaft] wird in diesem Jahr 30 Jahre alt. Zum Feiern haben 18
unserer über 22.200 Eigentümer*innen eine eigene taz gemacht. Die
ganzen 16 Seiten gibt es am 2./3. Juli am Kiosk oder [2][hier].
Der Wald ist dicht und grün hier. Das ist Lena Kasjanova gleich
aufgefallen, als sie am 8. März mit ihrer Tochter Mascha in der
brandenburgischen Kleinstadt Falkensee am Rande von Berlin angekommen ist.
Fünf Tage vorher hatte sie eine Reisetasche gepackt in Saporischschja in
der Ostukraine und ihre Heimat verlassen. Untergeschlüpft ist sie bei Jörg
Schmidt-Wottrich und Anissja Wottrich. „Wir waren völlig schockiert über
den Einmarsch der Russen in die [3][Ukraine] und hatten ein starkes
Bedürfnis, etwas zu tun“, berichtet Jörg Schmidt-Wottrich.
Sie hatten im Souterrain ein Zimmer mit separatem Bad frei. Früher wohnten
dort Au-Pairs, darunter auch zwei Ukrainerinnen, später eine
Austauschschülerin aus Kalifornien. Jetzt sind Mutter und Tochter aus der
Ukraine dort untergekommen. Für Jörg, von Beruf Rechtsanwalt, und Anissja,
Fachärztin für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, ist das eine
unproblematische Wohngemeinschaft. „Wir kochen zusammen, wir essen
zusammen“, sagt er. Weil er von zu Hause aus arbeitet, kann er die Gäste
gut im Alltag unterstützen.
Die Verständigung läuft über den Übersetzungscomputer im Handy, den
„Perevodchik“, wie er auf Russisch heißt. Die 39-jährige Lena Kasjanova,
die als Tochter eines sowjetischen Militärangehörigen bis zum zweiten
Geburtstag in der DDR gelebt und später in der Schule etwas Deutsch gelernt
hat, versteht aber auch schon viel ohne das Gerät. Sie hat Mühe, auf Hilfe
angewiesen zu sein, denn in der Ukraine stand sie immer auf ihren eigenen
Beinen, hatte eine kleine Produktion von Kinderkleidung.
## Sie näht wieder
In ihrem Zimmer im Souterrain stehen zwei Nähmaschinen. Sie näht wieder
Kleider, vielleicht kann sie auch in ihrem erlernten Beruf als medizinische
Fachangestellte in einer russischsprachigen Zahnarztpraxis in Berlin
anfangen. „Das Wichtigste ist für mich, dass meine Familie bei mir ist“,
sagt sie und meint die neunjährige Mascha, die mit dem Fahrrad in die nahe
Grundschule fahren kann, aber auch ihren Mann, mit dem sie täglich per
Videotelefonat Kontakt hat. „Er passt auf das Haus auf“, sagt sie. Die
Frontlinie ist nah, seine Baufirma steht seit Kriegsbeginn still.
Mehr als 850.000 Menschen aus der Ukraine sind seit Ende Februar nach
Deutschland geflüchtet. Im Landkreis Havelland, zu dem Falkensee gehört,
wurden 1.500 aufgenommen, davon allein 1.200 privat in Familien, berichtet
Jörg Schmidt-Wottrich, der auch in der örtlichen Willkommensinitiative
aktiv ist. Die Hilfsbereitschaft ist groß, auch Deutschunterricht und
Unterstützung bei Behördengängen wird durch die Initiative organisiert.
Solche Hilfsbereitschaft für Geflüchtete ist nicht selbstverständlich, sagt
Wilhelm Heitmeyer, Soziologe an der Universität Bielefeld. Wenn es um die
Solidarität mit notleidenden Menschen gehe, gingen eher wenige mit einem
universalistischen Ansatz heran, der alle gleichwertig zu behandeln
versuche. „Andere legen eurozentristische oder ethnonationale Kriterien
an“, sagt Heitmeyer. Solidarität für Menschen mit europäischem Hintergrund
oder für Deutsche falle also leichter.
Als 2015 [4][Kriegsflüchtlinge aus Syrien] kamen, habe es zwar zunächst
aufgrund der Bilder vom Krieg eine große Hilfsbereitschaft gegeben, es sei
dann aber bald eine Gegenbewegung eingetreten. „Das Wort von der
Willkommenskultur war damals ein gefährlicher Begriff“, sagt der Soziologe.
Er habe die Aufnahme der Flüchtlinge idealisiert und gleichzeitig
signalisiert, dass es sich um eine dauerhafte Aufnahme handle.
Das habe eine Abwehr provoziert, insbesondere im rechten Spektrum mit
ethnisch-nationalen Solidaritätsvorstellungen bis hin zur Gewalt. Außerdem
seien anfangs teilweise falsche Bilder verbreitet worden, von Familien mit
Frauen und Kindern in kleinen Booten auf dem Mittelmeer. In den
Aufnahmezentren hätten dann aber vielfach junge Männer dominiert. „Oft
wurde den Flüchtlingen eine Einwanderung in die Sozialsysteme unterstellt,
ohne verfolgt zu sein“, sagt Heitmeyer.
Geflüchtete aus der Ukraine hätten es heute leichter, es gebe weniger
Abwehr. Sie würden oft als Teil der europäischen Familie und nicht als
Flüchtlinge aus fremdem Kulturkreis empfunden. Eine Rolle spiele auch, wie
sich Entscheidungsträger positionierten. Menschen aus der Ukraine würden
von Politik und Behörden willkommen geheißen, zumal vor allem Frauen mit
Kindern geflüchtet seien.
Jörg Schmidt-Wottrich und Anissja Wottrich haben schon 2015 kurzzeitig eine
afghanische Familie aufgenommen und waren kontinuierlich an Hilfen für
Geflüchtete, etwa aus Syrien, beteiligt. Dass jetzt die Solidarität noch
größer ist, hat aus ihrer Sicht auch mit dem Bedrohungsgefühl zu tun, das
der Krieg in der Ukraine hier auslöse, im Unterschied etwa zu den ebenfalls
sehr nahen Jugoslawienkriegen der 1990er Jahre. Deutschland sei mit
Waffenlieferungen involviert und von den Russland-Sanktionen betroffen. Den
Wunsch ihrer Mitbewohnerin können beide unterschreiben. „Solidarität wäre
für mich“, sagt Lena Kasjanova, „wenn die Menschen friedlich
zusammenleben.“
3 Jul 2022
## LINKS
[1] /Genossenschaft/!p4271/
[2] /Projekt/static/Genoausgabe.pdf
[3] /Schwerpunkt-Krieg-in-der-Ukraine/!t5008150
[4] /Rassismus-auf-der-Flucht/!5856677
## AUTOREN
Ulrich Nettelstroth
## TAGS
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Solidarität
Geflüchtete
Schwerpunkt Flucht
Serie Flucht aus der Ukraine
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