| # taz.de -- Grenzkonflikte in Osteuropa: Tear down this wall! | |
| > Die Grenze zwischen Polen und Belarus ist militärisches Sperrgebiet. | |
| > Geflüchtete sterben, sofern sie nicht aus der Ukraine kommen. Wie kann | |
| > das sein? | |
| Bild: 18. November 2022: eine polnische Grenzwache vor dem Zaun zu Belarus | |
| Vergangenen Donnerstag verbreitete der polnische Grenzschutz eine brisante | |
| Meldung: Eine deutsche Staatsbürgerin werde des Landes verwiesen und dürfe | |
| fünf Jahre lang polnischen Boden nicht mehr betreten. Die Ausweisung einer | |
| EU-Bürgerin ist ein Novum. | |
| Die polnischen Behörden werfen der Deutschen vor, den Streifen an der | |
| Grenze zu Belarus betreten und Pakete durch den dort errichteten Zaun | |
| gereicht zu haben. Das wollen sie unter allen Umständen verhindern. | |
| Humanitäre Hilfe für Geflüchtete soll ein krimineller Akt werden. | |
| Der Fall wirft ein Schlaglicht auf die Tragödie, die sich noch immer an der | |
| [1][Grenze zwischen Polen und Belarus] abspielt, aber aus den Schlagzeilen | |
| verschwunden ist. Als der belarussische Diktator Lukaschenko im Jahr 2021 | |
| Menschen aus dem Nahen Osten den Zugang zu einem Visum erleichterte, flogen | |
| Tausende nach Minsk, mit dem Plan, von dort aus die EU zu erreichen. | |
| Die Politik im Nachbarland Polen reagierte: Das sei ein Trick Lukaschenkos, | |
| um Europa zu zersetzen, dem man begegnen werde – mit allen Mitteln. | |
| Geflüchtete, die die polnische Grenze überqueren wollten, trafen auf Gewalt | |
| und Repression. Die Behörden zogen einen 186 Kilometer langen Zaun hoch. | |
| ## Unzählige Menschen stranden im Niemandsland | |
| Heute ist die Grenze mit allen Schikanen der Überwachungstechnik gesichert. | |
| Noch immer versuchen Tausende den Übertritt, doch immer weniger Menschen | |
| schaffen es. Zurück können sie nicht, denn die belarussischen Behörden | |
| lassen sie nicht zurück ins Land. So stranden unzählige Menschen im | |
| Niemandsland, wo sie verhungern, verdursten, erfrieren oder an den | |
| Verletzungen sterben, die ihnen polnische oder belarussische Grenzbeamte | |
| zugefügt haben. | |
| Denn laut vielen Berichten ist der polnische Grenzschutz [2][an illegalen | |
| Pushbacks] beteiligt. Polnische Behörden behaupten, die Grenzübertritte | |
| seien widerrechtlich. Doch das sind sie nicht. Laut Genfer | |
| Flüchtlingskonvention und EU-Recht ist es jedem Menschen erlaubt, Asyl zu | |
| beantragen. Es gibt Berichte, dass Menschen mit Schildern auf Grenzbeamte | |
| zugehen, auf denen auf Polnisch steht: „Ich möchte Asyl beantragen.“ | |
| Trotzdem werden sie zurück über die Grenze gebracht. | |
| Oft verprügeln die Beamten die Geflüchteten, spritzen sie bei Minusgraden | |
| mit Wasserwerfern ab oder werfen sie mit gebrochenen Knochen in den Wald. | |
| Davor nehmen sie ihnen all ihre Habseligkeiten ab, ihre Telefone, | |
| Wasserflaschen, Essen. Laut der Hilfsorganisation [3][Grupa Granica] sind | |
| von August 2021 bis Februar 2023 mindestens 37 Menschen an der Grenze | |
| gestorben, mehr als 300 werden vermisst. Sie sind fast sicher tot. Immer | |
| wieder werden Leichen im Wald gefunden. | |
| ## Wegen des Krieges in der Ukraine aus dem Blick geraten | |
| Damit starben an der polnisch-belarussischen Grenze in weniger als zwei | |
| Jahren mehr Menschen als an der Grenze zwischen der DDR und der BRD in fast | |
| 50 Jahren. Man muss es klar sagen: Beamte, die Menschen zurück ins Meer | |
| oder in den winterlichen Wald stoßen, sind Mörder. Politiker, die Pushbacks | |
| anordnen, sind Mörder. Und eine Gesellschaft, die das zulässt, ist eine | |
| Gesellschaft von Mördern. | |
| Diese desaströse Situation und die krassen Menschenrechtsverletzungen des | |
| polnischen Staats sind [4][durch den Krieg in der Ukraine aus dem Blick | |
| geraten]. Geflüchteten aus der Ukraine helfen Polen und Europa gerne und | |
| brüsten sich mit ihrer Großzügigkeit und Solidarität. Andere Geflüchtete | |
| töten sie. Ukrainer:innen können für diese schreiend ungerechte | |
| Ungleichbehandlung nichts, sie verdienen Schutz und Hilfe. Doch zeigt sich | |
| die ganze Scheinheiligkeit Europas dicht beieinander. An einer Grenze | |
| präsentieren wir ein freundliches Gesicht, an der anderen eine hasserfüllte | |
| Fratze. | |
| Woher diese Ungleichbehandlung? Der offensichtlichste Grund ist Rassismus: | |
| Ukrainer:innen sind (meistens) weiß und christlich. Über Belarus | |
| versuchen vor allem Menschen aus dem Nahen Osten nach Europa in Sicherheit | |
| zu kommen. Doch es gibt auch einen anderen Grund. Am Krieg in der Ukraine | |
| ist ganz klar Russland schuld, an der Misere des Nahen Ostens jedoch nicht | |
| zuletzt wir selbst. Es ist schwieriger, den Opfern der eigenen Untaten in | |
| die Augen zu blicken als den Opfern eines ohnehin verhassten Gegners. | |
| ## Polen sieht sich mit seinen Taten konfrontiert | |
| Viele derjenigen, die über die Grenze kommen wollen, um in Europa Asyl zu | |
| beantragen, stammen aus Afghanistan oder dem Irak. Damit ist Polen mit den | |
| Konsequenzen seiner Taten konfrontiert. Denn Polen war ein begeisterter | |
| Partner der USA bei ihren völkerrechtswidrigen Angriffen auf den Irak und | |
| auf Afghanistan. Polen hat mitgeholfen, diese Länder zu zerstören und den | |
| ganzen Nahen Osten zu destabilisieren. | |
| Es ist nicht die einzige bittere Erfahrung: Ein Land, das 50 Jahre hinter | |
| dem Eisernen Vorhang verschwunden war, hat nun selbst einen Vorhang | |
| heruntergelassen: eine militärisch gesicherte unpassierbare Grenze, | |
| tödlicher als das Original. Viele Pol:innen verehren Ronald Reagan dafür, | |
| genau diesen Eisernen Vorhang eingerissen zu haben. In Warschau steht sogar | |
| ein Denkmal für ihn. Doch vom Geist seines berühmtesten Ausspruchs scheint | |
| wenig geblieben zu sein. Darum in seinen Worten: „Andrzej Duda, tear down | |
| this wall.“ | |
| 6 Mar 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Caspar Shaller | |
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