# taz.de -- Flüchtlinge zweiter Klasse in Polen: Tod oder Klaviermusik | |
> Polen bekommt für die Aufnahme ukrainischer Flüchtlinge viel Lob. Doch | |
> Menschen aus anderen Ländern müssen die Grenze fürchten. Zara will | |
> trotzdem helfen. | |
Bild: Technologie der Abweisung: Seit 2022 steht der hochgerüstete Zaun an der… | |
Mir wurde schwindelig, als ich den Zaun gesehen habe. Fünfeinhalb Meter | |
hohe Metallstäbe, darüber Natodraht. Das ist einfach ein unmenschlicher | |
Anblick.“ So erinnert sich Zara Grabowski an die Nacht im Februar, in der | |
sie trockene Kleidung, warmen Tee und Schlafsäcke in den polnischen Wald | |
brachte. Zara, Mitte zwanzig und Studentin aus Warschau, heißt eigentlich | |
anders, möchte ihren richtigen Namen aber aus Sorge um ihre Sicherheit | |
nicht öffentlich machen. Seit knapp einem Jahr verbringt Zara Grabowski | |
ihre Tage nicht an der Uni, sondern im polnisch-belarussischen Grenzgebiet. | |
Wir sitzen an einem Plastiktisch mit geblümter Tischdecke in einem kleinen | |
Kebab-Imbiss in der polnischen Kleinstadt Michałowo. Beim Falafelessen | |
berichtet Zara von ihrer letzten Intervention im polnischen Wald: Am | |
Nachmittag erreicht der Hilferuf einer Gruppe Schutzsuchender sie und ihre | |
Mitstreiter:innen. Sie schreiben, dass das Essen knapp ist. Sie frieren und | |
der Akku ihrer Smartphones geht zur Neige. | |
Dabei wollten sie ihre Kräfte für die Flucht durch Polen sammeln. Die | |
Gruppe ist vor dem Krieg im Jemen geflohen und möchte einen Asylantrag in | |
der EU stellen. Seit Monaten sind sie unterwegs. Mal in Bussen, mal auf | |
Ladeflächen von Transportern oder Lkw, meist jedoch zu Fuß. | |
In der Winternacht im Februar steht die Gruppe vor dem letzten physischen | |
Hindernis, das sie von der Europäischen Union trennt: dem meterhohen | |
Grenzzaun aus Stacheldraht. Zara und ihre Mitstreiter:innen möchten die | |
Schutzsuchenden in ihrem Kampf gegen das EU-Grenzregime unterstützen. | |
Deswegen ziehen sie in der kalten Februarnacht mit vollgepackten | |
Wanderrucksäcken durch den polnischen Urwald Białowieża, um die Hilfsgüter | |
abzuliefern. | |
## EU-Geld für Abschottung? | |
Das EU-Grenzregime zeigt sich an der polnisch-belarussischen Grenze in | |
seiner ganzen Hässlichkeit. Entlang der 186 Kilometer langen grünen Grenze | |
zwischen EU-Mitglied Polen und dem geografisch wie politisch russlandnahen | |
Belarus erstreckt sich der über fünf Meter hohe Hochsicherheitszaun, dessen | |
Anblick Zara erschaudern ließ. Neben der physischen Barriere ist die | |
östliche EU-Außengrenze mit seismischen Detektoren, Wärmebildkameras und | |
Bewegungsmeldern technologisch aufgerüstet und bewacht. | |
Immer wieder betonen Vertreter:innen der EU-Institutionen, dass sie | |
keine finanziellen Mittel für Grenzzäune und -mauern ausgeben. Das | |
entspräche nicht den humanitären Werten der Union. Kommissionspräsidentin | |
Ursula von der Leyen verweigerte 2022 auch Polen finanzielle Mittel zum Bau | |
des Grenzzaunes. Trotzdem ist die EU an der fortschreitenden | |
Militarisierung und Aufrüstung ihrer Außengrenzen beteiligt. | |
Wärmebildkameras, Drohnen und andere Technologien stellt die Union ihren | |
Außenstaaten bereitwillig zur Verfügung. | |
Die Ablehnung der EU, Grenzzäune zu finanzieren, scheint nun auch zu | |
schwinden. Nach einem [1][Sondergipfel zum Thema Flucht und Migration] am | |
10. Februar 2023 in Brüssel präsentierte von der Leyen einen neuen Plan | |
gegen „illegale Migration“. Es ist von mehr Abschottung und besserem | |
Grenzschutz, statt von mehr Achtung für Menschenrechte und Solidarität die | |
Rede. | |
Die Mitgliedstaaten vereinbarten ein Pilotprojekt, bei dem es um die | |
Sicherung der Grenze zwischen dem EU-Mitglied Bulgarien und der Türkei | |
geht. Auch dort erstreckt sich ein kilometerlanger Hochsicherheitszaun. | |
Nationale Mittel, Gelder im Rahmen des Solidaritätsmechanismus unter den | |
Mitgliedstaaten und EU-Haushaltsmittel sollen in Grenzinfrastruktur wie | |
Kameras, Wachtürme und Fahrzeuge investiert werden. So sieht es der Plan | |
des Pilotprojekts der EU vor. | |
## Pushbacks und Sperrgebiet | |
Ohne diese Infrastruktur würde kein Grenzzaun funktionieren, meint die | |
Kommissionspräsidentin, die Grenzzäune doch eigentlich nicht finanzieren | |
wollte. Nach dem Gipfel in Brüssel scheint es Einigkeit unter den | |
EU-Mitgliedstaaten zu geben. Sie wollen mehr Zäune und ein härteres | |
Vorgehen gegen sogenannte illegale Migration. | |
Im Sommer 2021 missbrauchte Lukaschenko, der belarussische Diktator, | |
Tausende Schutzsuchende aus dem Nahen Osten für sein politisches Kalkül. Um | |
Druck auf die EU aufzubauen, wurden Flüge aus Krisenregionen nach Belarus | |
gechartert und die Schutzsuchenden dann an die polnische Grenze getrieben. | |
Die EU ließ sich erpressen und antwortete auf die von Lukaschenkos verübte | |
Misshandlung ihrerseits mit Misshandlung der instrumentalisierten | |
Schutzsuchenden. Gewalt und „Pushbacks“ (illegale Rückführung, ohne Prüf… | |
des individuellen Schutzanspruchs) erwarteten die flüchtenden Menschen | |
vonseiten des Grenzschutzes. | |
Im Winter 2021/2022 rief die polnische Regierung [2][ein Sperrgebiet an der | |
Grenze zu Belarus] aus. Weder Aktivist:innen noch Vertreter:innen | |
von Menschenrechtsorganisationen oder Journalist:innen durften den drei | |
Kilometer breiten Grenzstreifen passieren. | |
## Schwer bewaffnet im Wald | |
Die Maßnahme wurde von Jurist:innen als undemokratisch und | |
verfassungswidrig kritisiert. Journalist:innen sahen die Pressefreiheit | |
angegriffen und Menschenrechtsaktivist:innen waren daran gehindert, | |
den vielfachen Rechtsbruch gegenüber Schutzsuchenden zu dokumentieren und | |
dagegen vorzugehen. | |
Nachdem die Anzahl der im Osten Polens ankommenden Schutzsuchenden im | |
Sommer 2022 wieder etwas gesunken war, wurde die Sperrzone aufgehoben. | |
Stattdessen sollen jetzt der Grenzzaun und regelmäßige Patrouillen von | |
Grenzschutzeinheiten Schutzsuchende abschrecken und am Betreten der EU | |
hindern. | |
Neben dem Zaun, den Kameras und dem Stacheldraht gehören in Polen die | |
Polizei, das Militär sowie eine spezielle Grenzschutzeinheit (Straż | |
Graniczna) und die sogenannte Territorialverteidigungsarmee (Wojska obrony | |
terytorialne) zum Grenzsicherungsapparat der EU. Sie patrouillieren schwer | |
bewaffnet im polnischen Grenzwald, um Schutzsuchende aufzuspüren. Gelingt | |
ihnen das, halten sie die Menschen fest und schieben sie auf die andere | |
Seite des Grenzzaunes, in den belarussischen Wald zurück. | |
Regelmäßig und systematisch werden die deutlich geäußerten Asylgesuche der | |
Menschen von den polnischen Beamt:innen ignoriert, die Rechte von | |
Geflüchteten missachtet. Die EU-Außengrenze wird rechtswidrig abgeschottet. | |
„Wir wissen von Fällen, wo Menschen sich extra ein Schild mit der | |
Aufschrift,Ich möchte Asyl' auf Polnisch um den Hald gehängt hatten. | |
Trotzdem wurden sie einfach abgeschoben“ erzählt Zara entrüstet. | |
## „Sie hassen auch uns“ | |
Sie hat ihre Falafeltasche aufgegessen und steht auf. Sie will das Gespräch | |
lieber draußen weiterführen. Eine Gruppe junger Männer ist vor einigen | |
Minuten in den Imbiss gekommen. Während sie auf ihre Bestellung warten, | |
schauen sie immer wieder zu unserem Tisch. Zara fühlt sich nicht mehr wohl | |
damit, hier über ihren Aktivismus und ihre politische Meinung zu sprechen. | |
Viele Anwohner:innen sind ihr und ihren Mitstreiter:innen nicht | |
wohlgesinnt. Immer wieder treffen Zara, die aufgrund ihrer Kleidungswahl | |
aus der Masse der lokalen Bevölkerung heraussticht und als linke Aktivistin | |
zu erkennen ist, böse Blicke im Supermarkt. „Viele Menschen haben Angst vor | |
Schutzsuchenden. Die Propaganda der Regierung wirkt leider. Deswegen hassen | |
sie auch uns.“ | |
Zara seufzt und bezahlt ihre Mahlzeit. Wir treten nach draußen auf die | |
matschige Straße. Wochenlang lag im Grenzgebiet Schnee. Nun ist Tauwetter. | |
Wir laufen durch die Straßen von Michałowo und Zara fährt fort: „Die bösen | |
Absichten der polnischen Beamt:innen, die den politischen Willen der EU | |
ausführen, werden durch die systematischen Pushbacks klar und deutlich.“ | |
[3][Schätzungen zufolge] hat Polen seit 2021 Zehntausende illegale | |
Pushbacks nach Belarus durchgeführt. Oftmals gehen die Pushbacks mit | |
Anwendung von physischer und psychischer Gewalt einher. Schutzsuchende | |
werden geschlagen, erniedrigt sowie rassistisch und islamfeindlich | |
beleidigt. Die verübten Misshandlungen und die Gewaltexzesse haben für die | |
polnischen Beamt:innen so gut wie nie Folgen. Die Betroffenen befinden | |
sich nach dem Rechtsbruch wieder in Belaus, also außerhalb der EU. Von dort | |
haben sie kaum Möglichkeiten, gegen den polnischen Grenzschutz vorzugehen. | |
## Helfer werden kriminalisiert | |
Auch Zara hat mit den Grenzschutzeinheiten Erfahrungen gemacht. Immer | |
wieder werden die Autos der Aktivist:innen an Posten des Grenzschutzes | |
(Straż Graniczna) angehalten, durchsucht und die Identität der | |
Aktivist:innen wird festgestellt und festgehalten. „Wir wollen | |
humanitäre Hilfsgüter an Menschen liefern, die bei Minusgraden und ohne | |
Verpflegung im Wald ausharren, und haben Angst, dafür verhaftet zu werden.“ | |
Zara ist fassungslos und wütend. Die Studentin hat vor ungefähr einem Jahr | |
ihr Studium unterbrochen und verbringt seitdem fast jeden Tag an der | |
polnisch-belarussischen Grenze. Sie ist Vollzeitaktivistin, weil sie den | |
Zustand an der Grenze unerträglich findet. Weil sie nicht tatenlos | |
mitansehen kann, wie Menschen von Beamt:innen ihres Landes verprügelt | |
und gequält werden. Weil sie die Abschottung Europas nicht widerstandslos | |
hinnehmen will. | |
Deswegen nimmt sie die mögliche Kriminalisierung in Kauf und riskiert | |
Bußgelder und eine strafrechtliche Verurteilung für ihren aktivistischen | |
Einsatz. | |
Über zwanzig Menschen wurden seit Herbst 2021 wegen solidarischer Aktionen | |
in Polen verhört, angeklagt, in Gewahrsam genommen oder zu einem Bußgeld | |
verurteilt. Das geht aus einem Ende Januar 2023 [4][veröffentlichten | |
Bericht des Szpila-Kollektivs und der Helsinki Foundation for Human | |
Rights] hervor. | |
## EU-weite Repressionen | |
Anfang März wurde erstmals eine deutsche Staatsbürgerin, die vom polnischen | |
Grenzschutz verdächtigt wurde, sich dem Grenzzaun genähert zu haben, | |
[5][des Landes verwiesen], berichtete die taz. Mit der Ausweisung von | |
Aktivist:innen soll humanitäre Hilfe kriminalisiert werden. Es ist eine | |
weitere Eskalation der Repressionen gegen solidarische Menschen. | |
Auch in anderen EU-Staaten werden Helfer:innen und Aktivist:innen, die | |
sich für die Rechte von Schutzsuchenden einsetzten, kriminalisiert und | |
schikaniert. In Griechenland werden humanitäre Helfer:innen und | |
Aktivisti:innen mitunter wegen Menschenschmuggels angeklagt. | |
Die italienische Regierung weist Schiffen der zivilen Seenotrettungsflotte | |
seit einigen Monaten Häfen im Norden des Landes zu. Die Schiffe müssen | |
kilometerweit fahren, um die aus Seenot geretteten Schutzsuchenden an Land | |
zu bringen. Das kostet sie viel Geld und auch Zeit, welche sie nicht im | |
Einsatz in der Rettungszone sein können. | |
Die Februarnacht, in der Zara den schwindelerregend hohen Zaun sah, dauerte | |
für sie und die anderen Aktivist:innen noch bis in die frühen | |
Morgenstunden. Die wachhabenden Grenzbeamt:innen wurden auf die | |
Aktivist:innen aufmerksam. Insbesondere der Grenzstreifen wird stark | |
und lückenlos überwacht. Regelmäßige Patrouillen der Grenzschutzeinheiten | |
und Kameras an Weggabelungen machen es fast unmöglich, unbemerkt das | |
Grenzgebiet zu betreten. | |
## Schikane von taz-Reporterin | |
Als ich mich für die Recherche dem Zaun näherte, kamen jedes Mal nach | |
wenigen Minuten Beamt:innen der Straż Graniczna. Sie fragten, was ich an | |
dem Zaun zu suchen hätte, und nahmen meine Personalien auf. | |
Auch Zara und ihre Mitstreiter:innen wurden in der Nacht, in der sie | |
die Hilfsgüter abliefern wollten, von den Grenzbeamt:innen aufgehalten. | |
„Sie kamen vermummt, schwer bewaffnet, mit drei Geländefahrzeugen aus | |
mehreren Richtungen“, berichtet Zara. Man hört kaum Angst in ihrer Stimme. | |
Sie spricht klar und besonnen von den Ereignissen dieser Nacht. Nur selten | |
kocht Wut in ihr hoch. Dann wird ihre Stimme lauter und fängt leicht an zu | |
zittern. | |
Sie fährt sich durch die mittellangen blonden Haare und fährt fort: „Die | |
Beamt:innen waren total aggressiv und beleidigten uns. Wir sollen doch | |
lieber Rotwein trinken und Sushi essen anstatt dreckigen Migrant:innen | |
zu helfen. So ekelige Sachen haben sie zu uns gesagt.“ | |
Mehrere Stunden lang wurden die jungen Aktivist:innen von den | |
Grenzschützer:innen im Wald festgehalten. Angeblich um ihre Identität | |
zu klären. Zara und ihre Mitstreiter:innen verweigerten ein | |
Schuldbekenntnis, sich widerrechtlich verhalten zu haben. | |
## Immer mehr Leichen im Wald | |
Zwar ist es eine Ordnungswidrigkeit, sich auf 15 Meter dem Grenzzaun zu | |
nähern, Zara und andere Aktivist:innen lehnen diese Strafe jedoch aus | |
politischen Gründen ab. Sie verweigern jegliche Aussage und Kooperation mit | |
den Beamt:innen. „Wir machen nichts Falsches, nichts Verwerfliches. | |
Nichts, wofür man uns bestrafen sollte“, meint Zara. | |
Auf die Entschlossenheit der jungen Aktivist:innen reagierten die | |
Grenzschützer:innen im Wald mit erhöhter Aggression und mit | |
Einschüchterungsversuchen. Durchgefroren, müde und erschöpft verließen die | |
Aktivist:innen nach insgesamt über acht Stunden den polnischen | |
Grenzwald. | |
Anfang März telefoniere ich mit Zara. Die Vorfälle im Wald beschäftigen sie | |
noch sehr. Der Anblick des Zaunes, aber auch das aggressive Verhalten der | |
Grenzschützer:innen haben sie verstört. „Wenn sie das mit uns machen, | |
was machen sie dann mit denen, die nicht weiß sind, die keinen europäischen | |
Pass haben?“, fragt sich Zara. „Wie können Menschen so hasserfüllt sein? | |
Und wie kann unsere Gesellschaft ein so menschenverachtendes Grenzregime | |
aufbauen und aufrechterhalten? Wie kann das irgendjemand rechtfertigen?“ | |
Am Morgen des 26. Februar 2023, einige Tage nach dem Falafelessen mit Zara, | |
stehe ich vor einer kleinen katholischen Kirche in Michałowo. Auf einer | |
Anzeigentafel, die ein kleines Dach vor Schnee und Regen schützt, flattert | |
eine Traueranzeige: „Wir bedauern den Tod von Ahmed Hamed Al Zabhawi. Am | |
19. September 2021 wurde sein Leichnam im Wald in der Nähe des polnischen | |
Dorfes Frącki gefunden. Der Verstorbene war 29 Jahre alt und kam aus dem | |
Irak. Ahmed war gelernter Ökonom. Er hinterlässt eine Ehefrau und eine | |
zweijährige Tochter.“ | |
## Anonyme Bestattungen | |
Hunderte weitere Traueranzeigen flatterten an diesem Morgen an schwarzen | |
Brettern und öffentlichen Informationstafeln in grenznahen Dörfern und | |
Städten. Auf den Plakaten sind die Namen und, wenn bekannt, die | |
Todesursache und einige weitere persönliche Informationen von Menschen zu | |
lesen, die seit 2021 ihr Leben auf der Flucht durch Polen verloren haben. | |
Insgesamt sind es mindestens 34 Asylsuchende, die seit 2021 in polnischen | |
Wäldern gestorben sind. So die Daten, die das Bündnis [6][Grupa Granica] | |
(Grenzgruppe) intern sammelt. Die Dunkelziffer ist wohl deutlich höher. | |
Einige Schutzsuchende starben an Hypothermie, andere an Erschöpfung oder | |
sie sind im Grenzfluss ertrunken. Vielfach ist die Todesursache jedoch | |
ungeklärt. | |
Genauso ungeklärt ist häufig die Identität der gefundenen Toten. | |
Schutzsuchende haben selten einen Identitätsnachweis bei sich. Außerdem | |
liegen ihre leblosen Körper oft wochen- oder monatelang im Wald, bis sie | |
gefunden werden. Eine Identifikation der menschlichen Überreste ist dann | |
nur noch schwer möglich. | |
Immer wieder müssen unbekannte Tote begraben werden, bestätigt Zara. Seit | |
sie im Grenzgebiet aktiv ist, war Zara schon bei einigen Beerdigungen von | |
verstorbenen Schutzsuchenden, die auf dem muslimischen Friedhof in Bohoniki | |
beerdigt wurden. | |
## Rassistische Motive | |
„Wir wollen die lokale Bevölkerung wachrütteln. Sie sollen mitbekommen, was | |
in ihrer Umgebung passiert. Vielleicht tun sie dann etwas gegen dieses | |
Unrecht vor ihrer Haustür“, erklärt eine Bewohnerin, die an der nächtlichen | |
Protestaktion im Februar beteiligt war. In der Woche zuvor wurden vier | |
Leichen von Schutzsuchenden gefunden. | |
Am 12. Februar wurde die Leiche einer Frau aus Äthiopien im Wald in der | |
Nähe der ostpolnischen Kleinstadt Hajnowka von Anwohner:innen entdeckt. | |
Vier Tage später fand ein Suchtrupp bestehend aus Anwohner:innen und | |
Aktivist:innen die Leiche einer weiteren Person im Wald, die Schutz | |
gesucht hatte. Am selben Tag teilte der polnische Grenzschutz mit, dass | |
zwei weitere [7][Leichen in der Nähe des Flusses Switslatsch] aufgefunden | |
wurden. | |
Als Antwort auf diese vier neuen Leichenfunde, aber auch in Gedenken an die | |
anderen im polnischen Grenzgebiet verstorbenen Schutzsuchenden, | |
organisierten Aktivist:innen und Anwohner:innen die Protest- und | |
Aufklärungsaktion am 25. Februar. | |
„Seitdem wir gesehen haben, wie Polen mit weißen, christlichen Geflüchteten | |
aus der Ukraine umgeht, wird das rassistische Motiv des Grenzschutzes an | |
der Ostgrenze noch mal deutlicher“, analysiert Zara. Im Südosten teilt | |
Polen eine 526 Kilometer lange Grenze mit der Ukraine. Seit Beginn des | |
russischen Angriffskriegs wurden rund 8,5 Millionen Grenzübertritte zu Fuß, | |
per Bus, im Auto oder mit dem Zug nach Polen registriert. | |
## Zwei-Klassen-Flüchtlinge | |
Ukrainische weiße Staatsbürger:innen dürfen ohne Weiteres nach Polen | |
und in andere EU-Staaten einreisen. Sie werden nicht zurückgeschoben, | |
geschlagen und gedemütigt, so wie die Menschen an der | |
polnisch-belarussischen Grenze. Hilfskonvois dürfen die Grenze passieren, | |
freiwillige Helfer:innen werden als Held:innen gefeiert und die | |
Flüchtenden teils mit Klaviermusik empfangen. | |
Während seines Besuchs in Warschau Mitte Februar lobte US-Präsident Joe | |
Biden die Bemühungen und die Aufnahmebereitschaft Polens gegenüber | |
Schutzsuchenden. [8][1,5 Millionen Menschen aus der Ukraine] hat der | |
östliche Nachbar Deutschlands seit Beginn des russischen Angriffskriegs | |
aufgenommen und eine legale Bleibemöglichkeit geboten. Ein löbliches | |
Beispiel staatlicher und zivilgesellschaftlicher Solidarität, findet Biden. | |
Zu der systematischen Misshandlung Schutzsuchender an der | |
polnisch-belarussischen Grenze schwieg er. | |
Die Realität an den Außengrenzen der EU ist seit Jahren menschenverachtend | |
und gewalttätig. Hochsicherheitszäune, Pushbacks, physische und psychische | |
Gewalt sind zur gängigen Grenzpraxis der Europäischen Union geworden. Eine | |
Änderung der migrationspolitischen Ausrichtung der EU oder ihrer | |
Mitgliedstaaten ist nicht absehbar. „Eigentlich wird alles schlimmer“, sagt | |
Zara während des Telefongesprächs am Anfang des Monats frustriert. | |
Die migrationspolitischen Entwicklungen in Europa und in Polen bereiten ihr | |
Sorge. Die polnische Regierung möchte die Befugnisse der | |
Grenzschutzeinheiten ausweiten. Sie plant eine Änderung des | |
Ausländergesetzes. Diese Änderung würde die Straż Graniczna dazu befugen, | |
final über Ausreisepflicht, Duldung und Einreiseverbot für Schutzsuchende | |
zu entscheiden – ein Verstoß gegen das Grundrecht auf eine faire, | |
unabhängige Anhörung. | |
17 Mar 2023 | |
## LINKS | |
[1] /EU-Gipfel-zu-Migration/!5914972 | |
[2] /Grenze-zwischen-Polen-und-Belarus/!5816565 | |
[3] /Grenze-zu-Kaliningrad/!5892804 | |
[4] https://hfhr.pl/en/news/report-on-the-anti-repression-activities-of-the-Gru… | |
[5] /Grenzkonflikte-in-Osteuropa/!5916160 | |
[6] https://www.facebook.com/grupagranica/ | |
[7] https://oko.press/smierc-na-granicy | |
[8] https://www.n-tv.de/ticker/Bereits-mehr-als-1-5-Millionen-Ukrainer-nach-Pol… | |
## AUTOREN | |
Marita Fischer | |
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