# taz.de -- Ukrainische Schüler in Deutschland: Ihr Blick geht nach vorne | |
> Denys und Illia sind Cousins. Sie sind aus der Ukraine geflüchtet. Der | |
> eine besucht eine Willkommensklasse, der andere nimmt am Fernunterricht | |
> teil. | |
Bild: Illia Horshkov will sein ukrainisches Abi via Fernunterricht machen | |
BERLIN taz | Die Entscheidung, ihren 13-jährigen Sohn nach Deutschland zu | |
schicken, treffen Oksana und Andrii Slipchenko, als sie den Einschlag | |
russischer Raketen zum ersten Mal mit eigenen Ohren hören. An einem Freitag | |
Ende Februar steht plötzlich der Flughafen ihrer Heimatstadt Rivne unter | |
Beschuss. | |
In dem Moment wird den Slipchenkos bewusst: Der Krieg wird sie auch hier, | |
rund 300 Kilometer westlich von Kiew, nicht verschonen. Sie selbst wollen | |
bleiben, wegen der Großmutter. Ihr Sohn Denys aber soll sich in Sicherheit | |
bringen – bevor es zu spät ist. Am 6. März macht er sich zusammen mit | |
seiner Tante und seinem Cousin auf den Weg zur polnischen Grenze. | |
Drei Wochen später sitzt Denys – kurze Haare, Sportklamotten – auf einer | |
Ledercouch in einem spärlich eingerichteten Berliner Wohnzimmer. | |
Ein schwarzer Tisch, ein paar Stühle, in der Ecke eine vertrocknete | |
Zimmerpflanze. Im Fenster hängt eine ukrainische Fahne. Die Morgensonne | |
wirft einen blau-gelben Lichtstreifen an die Wand. Denys' Onkel hat die | |
Wohnung vergangenes Jahr im Herbst gefunden, als er in Deutschland eine | |
Stelle angenommen hat. Während Tante Natalia die Details erzählt, sieht | |
Denys zu Boden. | |
Er ist ein stiller Teenager mit kindlichem Gesicht und einem kräftigen, | |
fast bulligen Körper. Bis vor kurzem durfte er noch als Torwart im | |
Nachwuchszentrum des ukrainischen Erstligaklubs Veres Rivne mitkicken. | |
„Fußball vermisse ich am meisten“, sagt Denys in gutem Englisch. „Und | |
natürlich meine Familie.“ | |
## 41.170 Kinder und Jugendliche sind gekommen | |
Dennoch ist dem Jungen anzumerken, dass er auch erleichtert ist. Darüber, | |
dass sein Vater mit 60 Jahren zu alt ist, um in der ukrainischen Armee | |
kämpfen zu müssen. Darüber, dass die russischen Kampfjets bisher meist über | |
seine Heimatstadt hinwegdüsen, ohne sie anzugreifen. | |
Aber auch darüber, dass er sich seit Kurzem endlich vom Krieg ablenken | |
kann: in der Schule. Seine erste Unterrichtswoche an einem Berliner | |
Gymnasium hat er gerade hinter sich. „Ich lerne Deutsch“, sagt Denys, | |
dieses Mal auf Deutsch. Er lächelt. | |
Auch Illia muss lächeln, Denys' Cousin. Bisher hat er dem Gespräch | |
schweigend gelauscht. Illia ist ein schlanker, fast zarter 17-Jähriger, er | |
trägt ein kariertes Hemd und eine Hornbrille. Auch Illia lernt in Berlin | |
Deutsch – und doch gehen die beiden Jugendlichen beim Thema Unterricht und | |
Schulbesuch sehr unterschiedliche Wege. Auch ihre Zukunftspläne | |
unterscheiden sich. | |
Mitte März gehört Denys noch zu den ersten ukrainischen Schüler:innen, die | |
nach ihrer Flucht in Deutschland zur Schule gehen. Ende März sind es | |
mindestens 20.205 Kinder und Jugendliche, wie eine Umfrage unter den | |
zuständigen Ministerien zeigt – in dieser Woche zählten die | |
Bildungsminister:innen bereits 41.170 Kinder und Jugendliche, die an | |
deutschen Schulen aufgenommen worden sind. | |
Es werden bald noch mehr sein: Sie rechneten mit einer Million Geflüchteter | |
aus der Ukraine, sagt Karin Prien, die Vorsitzende der | |
Kultusministerkonferenz (KMK). Davon, schätzt Prien, sind 40 bis 50 Prozent | |
Kinder und Jugendliche. Und für die wollen die Bildungsminister:innen | |
so schnell wie möglich einen Schulbesuch ermöglichen. Darauf hat sich die | |
KMK Anfang März bei ihrer Sitzung in Lübeck verständigt. | |
„Die Kultusministerinnen und Kultusminister stellen sich der Verantwortung, | |
geflüchtete Schülerinnen und Schüler unbürokratisch an den Schulen | |
willkommen zu heißen und eine Beschulung sicherzustellen“, heißt es in der | |
Abschlusserklärung. Nicht nur hätten die Kinder ein Recht auf Bildung und | |
Betreuung, Schule sei auch ein geschützter Raum, der verlässliche | |
Strukturen gebe und Austausch mit Gleichaltrigen ermögliche. | |
Traumatisierte Minderjährige sollen über die Schulen entsprechende Hilfe | |
bekommen. Um die Details soll sich eine Taskforce kümmern, in der alle | |
Bundesländer vertreten sind. Etwa um die Frage, wie ukrainische Lehrkräfte | |
im Unterricht eingesetzt werden können, ob überall ausreichend digitale | |
Endgeräte für die neuen Schüler:innen zur Verfügung stehen oder | |
inwieweit der Bund die Länder in dieser „historischen Ausnahmesituation“ | |
(Prien) finanziell unterstützt. | |
Doch wie der Unterricht für ukrainische Schulkinder genau aussehen soll, da | |
gehen die Meinungen auseinander. Die Generalkonsulin der Ukraine, Iryna | |
Tybinka, fordert, die geflüchteten Kinder weiter nach ukrainischem Lehrplan | |
zu unterrichten. | |
Sie sorgt sich um die nationale Identität der geflüchteten Jugendlichen, | |
wenn diese in das deutsche Schulsystem integriert würden. Aus ihrer Sicht | |
sei das ohnehin das falsche Ziel, da die ukrainischen Kinder nur | |
„vorübergehend“ in Deutschland bleiben würden. Deutsche | |
Schulpolitiker:innen halten das für Wunschdenken. | |
## Umstrittenes Konzept | |
Alles hängt davon ab, wie lange Russland den Krieg in der Ukraine | |
fortführt. Und wie zerstört das Land nach Ende des Krieges ist. Man müsse | |
sich darauf vorbereiten, dass die Kinder und Jugendlichen länger bleiben, | |
sagt die Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP). Die | |
Integration in das deutsche Schulsystem sei deshalb „sehr wichtig“. | |
Wie die Schulen das konkret umsetzen, ist von Bundesland zu Bundesland | |
verschieden. Niedersachsen, Mecklenburg-Vorpommern, Rheinland-Pfalz, das | |
Saarland und Thüringen stecken die Kinder und Jugendlichen sofort in die | |
Regelklassen, Hamburg die Erst- und Zweitklässler:innen. | |
Im Rest der Republik kommen sie zunächst in so genannte Willkommens- oder | |
Vorbereitungsklassen, die viele Bundesländer bereits 2015 eingerichtet | |
haben. Die Idee: Die Kinder werden so lange separat unterrichtet, bis sie | |
gut genug Deutsch können, um dem normalen Unterricht zu folgen. | |
Das Konzept ist allerdings nicht unumstritten. | |
Integrationsforscher:innen der Humboldt-Universität Berlin haben | |
kritisiert, dass es für die Willkommensklassen teils keinen festen Lehrplan | |
gibt und es damit komplett von den Lehrkräften – die oft | |
Quereinsteiger:innen seien – abhängt, was die Kinder lernten. Zudem | |
fehlten sprachliche Vorbilder. | |
Um schnell Deutsch zu lernen, brauche es auch Kinder in der Klasse, die | |
Deutsch sprechen. Die Ständige Wissenschaftliche Kommission, ein | |
KMK-Beratergremium mit 16 Bildungsexpert:innen, hat soeben empfohlen, | |
ukrainische Kinder im Grundschulalter und den anschließenden | |
Jahrgangsstufen möglichst schon in die Regelklassen zu nehmen. | |
Tybinka, die ukrainische Generalkonsulin, lehnt die Willkommensklassen | |
vehement ab: Für ukrainische Kinder würden sie „eine Wand des | |
Unverständnisses, das Gefühl der Minderwertigkeit und des geringen sozialen | |
Schutzes bedeuten“, sagte sie auf der KMK-Sitzung in Lübeck. | |
Am Berliner Lessing-Gymnasium – der neuen Schule von Denys Slipchenko – ist | |
von diesen Vorbehalten wenig zu beobachten. Das hat auch mit Arberi Veselaj | |
zu tun, der Lehrerin der Willkommensklasse. Die 30-Jährige ist selbst als | |
Flüchtlingskind in einem fremden Land aufgewachsen. Ihr Vater wurde im | |
Kosovo politisch verfolgt. Vor 30 Jahren dann kam er nach Deutschland. Die | |
ersten fünf Jahre ihres Lebens hat Veselaj in einer Flüchtlingsunterkunft | |
in Bochum verbracht. | |
Ihren 13 Schüler:innen, deren Herkunftsorte Kiew, Odessa, Rivne oder | |
Donbass lauten, bringt Veselaj deshalb jede Menge Verständnis und Empathie | |
entgegen – auch beim Frust mit der deutschen Sprache: Bis zur Grundschule | |
hat sie kein Wort gesprochen, später Deutsch studiert. | |
2015 assistierte sie bereits in einer Willkommensklasse. Veselaj weiß also, | |
wie es sich anfühlt, im Alltag ständig mit mangelnden Deutschkenntnissen | |
konfrontiert zu werden. Und wo die Tücken beim Erlernen der deutschen | |
Sprache liegen. | |
## Einst Flüchtlingskind, heute Lehrerin | |
Ein Mittwoch Ende März, zweite Schulstunde. Arberi Veselaj ist gut | |
vorbereitet. Auf der digitalen Tafel hinter ihr ist eine Tabelle zu sehen. | |
In der obersten Zeile stehen die Verben: mögen, spielen, zeichnen, singen, | |
tanzen, schreiben. In der Spalte auf der linken Seite die Personalpronomen: | |
ich, du, er/sie, wir, ihr, sie. Dann ruft sie Kirill nach vorne, mit 17 | |
einer der Ältesten – er soll die Verben konjugieren und die Formen in die | |
Tabelle eintragen. | |
Kirill, ein hochgeschossener Junge mit Mittelscheitel, setzt sich vor den | |
Laptop neben dem Whiteboard und beginnt zu tippen. Die ganze Klasse muss | |
laut mitsprechen. Ich mag, du magst, … Nach und nach ruft Veselaj alle | |
Schüler:innen auf: Yuliana, Maria, Ibrash, Artem, Nikolai. Die meisten | |
können die Verben richtig beugen, auch Denys. Manchen bereitet noch die | |
Aussprache Mühe. | |
Veselaj, die im Unterricht knallige Laufschuhe trägt, zieht dann die | |
FFP2-Maske unter das Kinn und spricht das Wort so lange vor, bis die | |
Aussprache passt. | |
Einundzwanzig Stunden Deutsch stehen bei Denys und seinen | |
Klassenkamerad:innen pro Woche auf der Stundentafel, dazu drei | |
Stunden Englisch und drei Stunden Sport. Nach Ostern kommen noch Mathe und | |
Kunst dazu. In anderen Bundesländern ist das ähnlich. | |
## Eine Willkommensklasse, mehr geht nicht | |
Für den Übergang in die Regelklasse gibt es jedoch kein verbindliches | |
Datum. Wer soweit ist, kann wechseln. Auch das ein regelmäßiger Kritikpunkt | |
von Bildungsforscher:innen. Oftmals bleiben die Kinder zu lange unter sich | |
und finden so schwer Anschluss. Wie lange also bleiben die ukrainischen | |
Kinder separiert? | |
Nach Veselajs Deutschstunde empfängt Schulleiter Michael Wüstenberg in | |
seinem geräumigen Büro und wagt eine Prognose. Nach spätestens sechs | |
Monaten dürften die ukrainischen Schüler:innen so weit sein, die | |
Stärkeren schon früher. Wüstenberg, ein drahtiger Mann mit angegrautem | |
Haar, kennt die Kritik an den Willkommensklassen. | |
Dennoch hält er die Alternative, geflüchtete Kinder sofort ins kalte Wasser | |
zu schmeißen, für wenig sinnvoll. „Es ist doch eine Illusion, dass | |
Jugendliche ohne Sprachkenntnisse bei Physik oder Geschichte mitkommen“, | |
sagt er. In der Grundschule mag das gut klappen, nicht aber bei 14- oder | |
17-Jährigen. | |
Man müsse auch daran denken, dass diese Schüler:innen dann ständig wegen | |
ihrer mangelnden Sprachkenntnisse bloßgestellt seien. „Das will ich ihnen | |
nicht antun.“ Aus seiner Sicht ist die Willkommensklasse auch ein wichtiger | |
Schutzraum. | |
Überhaupt hat sich Wüstenberg – 60 Jahre, weißes Hemd und Sakko – viele | |
Gedanken um das Wohl seiner neuen Schüler:innen gemacht. Wie er sie | |
schnell mit anderen Schüler:innen zusammenbringen kann (über | |
Patenschaften mit einer 8. Klasse). | |
Wie er Deutschlehrerin Veselaj auch im kommenden Schuljahr den Rücken für | |
die Willkommensklasse freihält (indem er sich bei der Schulaufsicht sofort | |
um eine zusätzliche Planstelle für Deutsch gekümmert hat). Wie er die | |
möglicherweise traumatisierten Kinder und Jugendlichen von Beginn an gut | |
begleitetet (indem die zwei Schulsozialarbeiterinnen abwechselnd mit im | |
Unterricht sitzen). Mit der Willkommensklasse war Wüstenberg in Berlin | |
deshalb früh dran. | |
Er erklärt sein Engagement mit der humanitären Pflicht, die er angesichts | |
zerbombter Städte spüre – aber auch mit dem „super Schulklima“. Eltern | |
hätten angeboten, den ukrainischen Familien bei Behördengängen zu helfen. | |
Die Schülervertretung hat Geld für Schulbücher und andere Anschaffungen | |
gesammelt. Auch die Vermittlung der ukrainischen Familien durch die | |
Koordinierungsstelle der Schulaufsicht im Bezirk Mitte laufe bestens. | |
Die zuständige Kollegin im Sprachförderzentrum wisse, dass am | |
Lessing-Gymnasium auch Russisch unterrichtet werde und viele seiner 740 | |
Schüler:innen „Wurzeln östlich der Oder“ haben, wie Wüstenberg es nennt. | |
Er rechnet damit, bald genügend Anfragen für eine zweite Willkommensklasse | |
auf dem Schreibtisch zu haben. Und dennoch sagt der Schulleiter: „Mehr als | |
eine Willkommensklasse können wir hier nicht dauerhaft stemmen“. | |
## Brauchen wir jetzt 15.000 neue Lehrer:innen? | |
Der Vorsitzende des Deutschen Lehrerverbandes, Heinz-Peter Meidinger, hält | |
einen „zweistelligen Milliardenbetrag“ für Personal an Kitas und Schulen | |
notwendig, um die Aufgabe gut zu meistern. Tatsächlich ist unklar, wie die | |
Schulen bei dem derzeitigen Fachkräftemangel noch hunderttausende | |
zusätzliche Kinder angemessen unterrichten und betreuen sollen. | |
60 Lehrkräfte pro 1.000 Schüler:innen, so rechnen die | |
Bildungsminister:innen. Bei einer Viertelmillion geflüchteter Kinder und | |
Jugendlicher wären das 15.000 neue Lehrer:innen – Erzieher:innen und | |
Schulsozialarbeiter:innen sind da noch gar nicht mitgerechnet. | |
Einige Länder, darunter Sachsen, Bayern oder Nordrhein-Westfalen, wollen | |
nun pensionierte Lehrkräfte anschreiben, andere bauen auf | |
Lehramtsstudierende oder Vertretungskräfte. | |
Und natürlich auf die ukrainischen Lehrkräfte. Manche Bundesländer haben | |
schon die [1][Einstellung erster ukrainischer Kolleg:innen] vermeldet. | |
Hunderte Bewerbungen werden derzeit geprüft. Man bemühe sich, auch Angebote | |
nach ukrainischem Lehrplan und in ukrainischer Muttersprache zu machen, | |
heißt es in den Ministerien. Die meisten Bundesländer aber legen den Fokus | |
auf die Integration ins deutsche Schulsystem. Ein paralleles ukrainisches | |
Schulsystem bauen sie nicht auf. | |
Eine Ausnahme ist da Sachsen: Bildungsminister Christian Piwarz (CDU) will | |
ukrainische Kinder zweisprachig unterrichten – vormittags auf Deutsch, | |
nachmittags auf Ukrainisch. Aus Rücksicht auf die Forderungen aus der | |
Ukraine. | |
## Neun Stunden Mathe die Woche | |
Das wünschen sich auch viele ukrainische Familien. In Denys' | |
Willkommensklasse etwa sagen fast alle, dass sie nach wie vor dem | |
Online-Unterricht ihrer alten Schule folgen, so gut das eben geht bei ihrem | |
Stundenplan. Andere ukrainische Schüler:innen bevorzugen gleich den | |
Unterricht nach ukrainischem Lehrplan, wie ihn beispielsweise das Berliner | |
Kinderhilfswerk Arche anbietet – oder tausende Lehrer:innen in der | |
Ukraine. | |
Denn [2][im Vergleich zu Deutschland] hat die Ukraine die pandemiebedingte | |
Umstellung auf Online-Unterricht bravourös gemeistert. Selbst mitten im | |
Krieg schaffen es viele Schulen, ihre Schüler:innen nach Stundenplan zu | |
unterrichten und auf Abschlussprüfungen vorzubereiten. Auch wenn die im | |
Exil leben wie Illia Horshkov, der Cousin des 13-jährigen Denys. | |
An einem Freitag im April klappt Illia in dem kargen Berliner Wohnzimmer | |
seinen Laptop auf und startet das Programm, mit dem ganze Schulklassen am | |
Live-Unterricht teilnehmen können. Vor ihm auf dem Tisch steht ein | |
schwarzes Pultmikrofon, von der Art, wie sie auch auf Pressekonferenzen | |
verwendet werden, und ein Heft für Notizen. | |
„Heute ist Geometrie dran“, sagt Illia, während auf dem Bildschirm nach und | |
nach seine Klassenkamerad:innen aus Rivne auf dem Bildschirm | |
erscheinen. Maksym, Ivan, Polina, Stanislav, Victoria. 17 der 19 | |
Schüler:innen der Abschlussklasse sind anwesend. Sie alle belegen an | |
ihrem Gymnasium den mathematischem Zweig. Neun Stunden Mathe die Woche | |
stehen für sie auf dem Stundenplan. Mittlerweile findet der Unterricht in | |
vollem Umfang online statt. Lediglich die Dauer der Schulstunde wurde von | |
45 auf 35 Minuten gekürzt. Manchmal muss der Unterricht wegen Flugalarm | |
unterbrochen werden. | |
Viktoriia Krasavina eröffnet die Stunde. Auf Illias Laptop erscheint eine | |
Frau in Strickjacke und schwarzen Haaren. Neben dieser unterrichtet | |
Krasavina auch zwei 5. und eine 9. Klasse online. Wie immer hat sie sich | |
aus ihrem Wohnzimmer zugeschaltet. Als Einstiegsaufgabe postet Krasavina | |
die Abbildung eines Fußballs. Die Schüler:innen sollen berechnen, wie | |
viel Leder man braucht, um die Oberfläche des Balls vollständig zu | |
bedecken. „Leicht“, sagt Illia und fängt an, etwas in sein Heft zu | |
kritzeln. | |
## Der eine will bleiben, der andere zurückgehen | |
Für Ende April und Anfang Mai waren in der Ukraine Abiturprüfungen | |
vorgesehen. Doch wann sie tatsächlich stattfinden und welche Fächer geprüft | |
werden, ist noch nicht entschieden. Ein Vorschlag aus dem Ministerium für | |
Bildung und Wissenschaft sieht vor, dass nur Mathe, Ukrainische Sprache und | |
Ukrainische Geschichte geprüft werden, in einer zusammengelegten Prüfung. | |
Wo Abiturient:innen im Ausland die Tests mitschreiben können, steht | |
noch nicht fest. Aus Illias Klasse betrifft das drei Schüler: Die beiden | |
anderen leben jetzt in Polen und Tschechien. | |
Was Illia macht, wenn er seinen ukrainisches Abi in der Tasche hat, weiß er | |
noch nicht. „Entweder gleich Mathe studieren oder vielleicht das deutsche | |
Abitur nachholen“, sagt er. Schon jetzt darf er als Gastschüler an einem | |
Berliner Gymnasium am Unterricht teilnehmen, wenn er möchte. Illia nutzt | |
das vor allem, um Deutsch zu lernen. | |
Bis zum Ende des Schuljahres hat er Zeit sich zu überlegen, ob er dort auch | |
zwei Jahre Oberstufe inklusive deutschem Abitur dranhängen möchte. Gerade | |
hat er für solche Zukunftsfragen aber keinen wirklichen Kopf: „Ich | |
konzentriere mich auf meine Abschlussprüfungen“. Eines kann Illia aber mit | |
Sicherheit sagen: | |
Er wird auf jeden Fall die nächsten paar Jahre in Deutschland bleiben. | |
Schließlich sind seine Eltern hier. Und er hat große Lust, in Deutschland | |
Mathematik zu studieren. „In Berlin gibt es gute Universitäten.“ | |
Anders bei Denys. „Ich will zurück in die Ukraine“, sagt er. Jeden Tag ist | |
er mit seiner Familie in Kontakt. Vor allem um seine Großmutter sorgt sich | |
Denys. Die wohnt im fünften Stock, einen Aufzug gibt es nicht. Bei | |
Flugalarm bleibt sie in der Wohnung. Ob er aber wirklich bald zurück kann? | |
Für Rivne in der Westukraine mag das wahrscheinlicher klingen als für | |
andere Landesteile. | |
Die nächste Zeit wird aber auch Denys in Berlin bleiben, sagt seine Tante. | |
Ob das zwei Monate sind oder zwei Jahre? Niemand weiß es. Gut möglich, dass | |
Denys bis dahin in Deutschland angekommen ist – und gar nicht mehr zurück | |
möchte. | |
Viktoriia Krasavina, die Mathelehrerin aus Rivne, formuliert es so: „Für | |
die Ukraine ist es natürlich schlimm, wenn die jungen Leute das Land | |
verlassen. Ich hoffe, dass die meisten nach dem Krieg zurückkehren. Wir | |
brauchen sie, das Land wieder aufzubauen“. | |
Mitarbeit: Kateryna Kovalenko (Dolmetscherin) | |
9 Apr 2022 | |
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Ralf Pauli | |
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