| # taz.de -- Türkisch-deutsche Kulturgeschichte: Die Vermessung des Döners | |
| > Der Döner hat mehr für die Begegnung von Kulturen und Klassen geleistet | |
| > als so manche Initiative. Unser Autor hat ein neues Buch über ihn | |
| > geschrieben. | |
| Bild: Döner-Imbissbude steht 2006 in der Plattenbausiedlung Berlin-Marzahn | |
| Mein Lieblingsessen in Deutschland ist der Döner Kebap!“ Das gestand der | |
| Multimilliardär Elon Musk der Weltöffentlichkeit, als er gefragt wurde, was | |
| er an der deutschen Küche am meisten schätzt. | |
| Nur wenige Monate vor diesem Bekenntnis unterzeichnete der Tesla-Chef am | |
| 12. November 2019 im Berliner Hotel Adlon die Absichtserklärung, [1][seine | |
| Europafabrik vor den Toren Berlins] zu bauen. Auf seinen Döner musste Musk | |
| bei den Verhandlungen in Berlins edelstem Hotel nicht verzichten. Seit | |
| August 2018 führt das Adlon den „türkischen Klassiker“, wie es auf der | |
| Speisekarte heißt. Nicht als Tellergericht, sondern im Fladenbrot, ganz so | |
| wie ihn das Volk auf den Straßen Berlins verzehrt. | |
| Neu und kreativ ist der Döner Kebap allenfalls für die gehobenen Stände. | |
| Für die Ärmeren ist der Döner aufgrund seines sagenhaften | |
| Preis-Leistungs-Verhältnisses seit bald 50 Jahren eine feste Säule ihres | |
| mühsamen Überlebenskampfs. Oder wie es der Journalist Ömer Erzeren einmal | |
| drastisch formulierte: „Der Markt verlangte nach einer Ware für die | |
| Abfütterung der Deklassierten, Ausgegrenzten, der Sozialhilfeempfänger.“ | |
| Es ist eine spannende, mitunter auch gefährliche Reise, die der Döner Kebap | |
| in 50 Jahren von seinen Ursprüngen in Berlin-Kreuzberg bis zu seinem Einzug | |
| in das Hotel Adlon zurückgelegt hat. Man kann sich über die Suche der | |
| Wohlhabenden nach dem immer neuen, authentischen Kick lustig machen. Man | |
| kann sich aber auch darüber freuen, dass diese deutsch-türkische | |
| Innovation, die von einfachen, ungelernten Arbeitern in jahrzehntelanger | |
| schweißtreibender Arbeit entwickelt wurde, nun auch Eingang in die | |
| Hochkultur gefunden hat. Der Döner ist Punk und Rock ’n’ Roll. | |
| ## Die Dönerrecherchen beginnen in den 80er Jahren | |
| „Der Junge muss nun völlig abgedriftet sein! Gibt es denn keine wichtigeren | |
| Themen? Damit verpasst der uns Türken doch wieder nur dieses | |
| glitschig-fette Döner- und exotische Bauchtanz-Image.“ | |
| Zu Beginn meiner Dönerrecherchen in den Achtziger- und Neunzigerjahren | |
| erntete ich verständnislose Blicke. „Du wirst dir mit einer Reportage über | |
| den Döner Kebap schnell die Kritik der türkischen Intellektuellen | |
| einhandeln“, warnte eine türkische Gesprächspartnerin. | |
| Denn mit dem Dönerkonsum verhält es sich wie mit Bordellbesuchen: | |
| Hunderttausende tun es täglich, aber denen, die die Dienstleistung | |
| erbringen, wird die gesellschaftliche Anerkennung verwehrt. | |
| „Türkische Kultur ist mehr als Döner“, „Nicht nur Kebap und gekürzte | |
| Hosenbeine“, „Türkische Geschäftsleute haben mehr zu bieten als Döner | |
| Kebap“. So lauteten über viele Jahre die Schlagzeilen, wenn Deutsche | |
| aufgerüttelt und bei ihrer vermeintlichen kulturellen Ignoranz gepackt | |
| werden sollten, ein türkischer Kulturverein auf sein ambitioniertes | |
| Programm aufmerksam machen wollte oder eine Ausländerinitiative | |
| demonstrativ um Gehör für ihr politisches Anliegen bat. | |
| Das gebrochene Verhältnis der türkischen Akademiker zum türkischen | |
| Exportschlager Nummer eins lässt sich leicht erklären. Der Döner hat | |
| stärker als kulturelle Offensiven, Freundschaftsfeste und moralische sowie | |
| politische Appelle die interkulturelle Begegnung befördert. Das schmerzt, | |
| macht die eigene bescheidene Bedeutung deutlich, stellt die Kleiderordnung | |
| infrage. Nicht in den Volkshochschulkursen und an den Stätten der | |
| Hochkultur, sondern an der Imbissbude kamen Hans und Mustafa ins Gespräch, | |
| reiften die Pläne für die erste Türkeireise, wurden die ersten türkischen | |
| Worte gelernt. | |
| Das gilt für den Osten des Landes noch mehr als für den Westen. Wenn | |
| irgendjemand die Bürger der DDR nach 1990 lehrte, dass die | |
| Wiedervereinigung nicht nur die Deutschen in Ost und West betrifft, sondern | |
| auch die zwei, drei Millionen Einwanderer aus der Türkei, dann waren es | |
| eben jene einfachen Kebapcı, die Dönerverkäufer. Sie waren die | |
| Kundschafter. Sie wagten sich, kaum war die Mauer gefallen, in den Wilden | |
| Osten vor. Sie, und nicht die staatlich subventionierten und verbeamteten | |
| Integrationsspezialisten, bauten in der Gluthitze des Dönergrills Brücken | |
| der Verständigung. Tagtäglich stellten sie sich den neugierigen und immer | |
| gleichen Fragen ihrer Kundschaft: „Mehmed, wie ist das eigentlich bei euch | |
| da unten?“ – „Heinz, glaubst du wirklich, dass wir da noch im Eselskarren | |
| durch die Gegend gurken? Fahr mal nach Antalya. So einen Urlaub, wie du ihn | |
| dort verbringen kannst, hast du noch nicht erlebt.“ | |
| Die Kebapverkäufer sind die wahren, da allgegenwärtigen Botschafter der | |
| türkischen Kultur. Für die deutsch-türkische Beziehung haben sie mehr | |
| geleistet als zum Beispiel wir, die Journalisten. 1996, als ich mit | |
| „Aufgespießt. Wie der Döner über die Deutschen kam“ eine erste | |
| Kulturgeschichte des Döner Kebaps vorlegte, habe ich die Entwicklung | |
| positiv gesehen. Es waren die Jahre fünf und vier nach den Terroranschlägen | |
| in Mölln und Solingen. Den Brandanschlägen fielen 1991 und 1992 türkische | |
| Familien zum Opfer. Acht Menschen, darunter Kinder, starben, dreißig wurden | |
| zum Teil schwer verletzt. Es war der vorläufige Höhepunkt einer langen | |
| Serie antitürkischer Gewalttaten. | |
| Das Buch sollte einen Beitrag dazu leisten, die völkische Offensive im Zuge | |
| der Wiedervereinigung mit einer neuen Erzählung zu überwinden und ein neues | |
| Kapitel im Verhältnis zwischen Deutschen und Türken aufzuschlagen. Die | |
| Deutschen adoptierten den Döner Kebap, und er wurde ihr beliebtestes Fast | |
| Food – vor der Pizza, vor der Currywurst und vor dem Hamburger. | |
| Diese Liebe kann doch nicht folgenlos sein, lautete die Botschaft. Oder um | |
| es in den Worten der Historikerin Maren Möhring einmal etwas akademischer | |
| auszudrücken: „Die besondere Bedeutung des Essens für die | |
| Identitätskonstruktion liegt darin begründet, dass die Nahrung in den | |
| eigenen Körper aufgenommen wird und damit im materiellen Sinne ein Teil des | |
| eigenen Selbst wird.“ Der Optimismus schien berechtigt. Mit dem Antritt der | |
| rot-grünen Bundesregierung im Herbst 1998 bekannte sich Deutschland endlich | |
| zu dem, was nicht mehr zu leugnen war: Wir sind ein Einwanderungsland! Mit | |
| der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts im Jahr 2000 wurden die | |
| Verhältnisse vom Kopf auf die Füße gestellt. Deutschsein war von nun an | |
| nicht mehr allein an Abstammung und das Blut gebunden. Deutsche und | |
| Deutscher konnte nun werden, wer in diesem Land geboren wurde | |
| beziehungsweise dieses Land zum Lebensmittelpunkt für sich gemacht hatte. | |
| Es gab vor 25 Jahren viele Gründe, hoffnungsfroh in die Zukunft zu blicken. | |
| Das in der Dönerindustrie akkumulierte Kapital ermöglichte soziale | |
| Aufstiege. Mehr und mehr Kinder der „Gastarbeiter“ studierten. Manche | |
| wurden erfolgreiche Anwälte, andere Journalisten und wieder andere | |
| entwickelten als Betriebswirte oder Veterinäre die Dönerproduktionen und | |
| Fast-Food-Imbisse ihrer Eltern weiter. Andere folgten den Fußstapfen ihrer | |
| Eltern und arbeiteten im Niedriglohnsektor. | |
| 35 Jahre nach ihrem Beginn im Oktober 1961 entwickelte sich die | |
| Einwanderung aus der Türkei zu einem Erfolgsmodell. Etwas Neues entstand | |
| mit dem Döner Kebap. Er war nicht mehr türkisch und er war nicht deutsch, | |
| er war etwas Hybrides. | |
| Zeitgleich mit dem Buch „Aufgespießt. Wie der Döner über die Deutschen kam… | |
| betrat Feridun Zaimoglu mit „Kanak Sprak“ die Bühne und mischte von da an | |
| die deutschsprachige Literaturszene mit mutigen Romanen und spektakulären | |
| Theateraufführungen auf. Im gleichen Jahr wurde aus Şermin Özel Shermin | |
| Langhoff und etwas später die [2][Intendantin des Maxim Gorki Theaters], | |
| welches sich unter ihrer Leitung zum Epizentrum der postmigrantischen | |
| Kulturszene entwickelte. | |
| 1998 gründete sich Kanak Attak, ein Zusammenschluss von klugen und | |
| selbstbewussten Menschen, die sich in ihrem Manifest ausdrücklich als „kein | |
| Freund von Mültikültüralizm“ bezeichneten. Sie kritisierten den dominanten | |
| Einwanderungsdiskurs um Multikultur als rassifizierend und | |
| identitätspolitisch als tendenziell rassistisch. Und mit Cem Özdemir saß | |
| der erste Abgeordnete mit türkischem Hintergrund im Deutschen Bundestag. | |
| Deutschtürken konnten von jetzt an alles sein: Steuerberater, Arbeiter, | |
| Unternehmer, Arbeitslose, Spekulanten, Kriminelle, Sozialhilfebezieher, | |
| Politiker, Künstler, Prostituierte, Eltern, Alleinerziehende, Schwule, | |
| Lesben, Schönheitsköniginnen, Gottlose, Muslime, Aleviten, Sunniten, | |
| Christen, Juden, Lasen, Kurden, Assyrer, Yeziden, Handwerker, Putzfrauen, | |
| Istanbuler, Anatolier, Dumme und Kluge, Eiferer und Pragmatiker, Mörder und | |
| Polizisten, Schriftsteller und Analphabeten – und auch | |
| Dönerimbissbetreiber. Nicht mehr und nicht weniger. | |
| Das war vor dem 11. September 2001. Bevor aus den uns Altdeutschen immer | |
| ähnlicher werdenden Deutschtürken plötzlich in den medialen Diskursen | |
| gefährlich fremde Muslime wurden. Das alles geschah, bevor der Begriff | |
| „Döner-Morde“ von der Gesellschaft für deutsche Sprache zum Unwort des | |
| Jahres 2011 erklärt wurde. Zur Erinnerung: Sieben Jahre lang, zwischen 2000 | |
| und 2006, ermordeten Mitglieder des terroristischen | |
| „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU) acht türkische und einen | |
| griechischen Kleinunternehmer und eine Polizistin, zündeten eine Nagel- und | |
| mindestens zwei Rohrbomben. | |
| Die Polizei vermutete bis zum 4. November 2011 Killer aus dem türkischen | |
| Drogenmilieu hinter diesen Morden und verbreitete diese Legende. 2005 | |
| prägte sie den Begriff „Döner-Morde“, der von der Presse übernommen wurd… | |
| Das alles fußte auf keinerlei Fakten, wie wir heute wissen, sondern allein | |
| auf rassistische Vorurteilsstrukturen in Polizei und Presse. | |
| Die Morde der Terrorgruppe NSU richteten sich gezielt gegen | |
| Gewerbetreibende, die als türkisch markiert wurden. Das ist kein Zufall, | |
| sondern politische Strategie, denn ihre Lebensmittelläden und Dönerimbisse | |
| sind der sichtbarste Beweis der Auflösung der ethnischen Homogenität durch | |
| Migration. Sie und ihre Familien sollten terrorisiert werden. Die Täter | |
| verzichteten auf Bekennerschreiben, sie wussten: Anders als die Behörden | |
| und die Vertreter der Mehrheitsgesellschaft verstehen die potenziellen | |
| Opfer, also die Angehörigen der türkischen Minderheit, die Intention ihrer | |
| Taten auch so – die Verbreitung von Verunsicherung, Angst und Terror. Das | |
| perverse Kalkül der Terroristen ging auf. | |
| Die Terroristen des NSU folgten damit bereits in den Nullerjahren einer | |
| Strategie, die der rechtsextreme französische Philosoph Renaud Camus, ein | |
| Vordenker der rechtsextremen Front National, seit 2010 in seiner Schrift | |
| und Theorie des „Großen Austauschs“ und der „Auflösung der Völker“ | |
| propagiert – einem Bestseller in der rechtsextremen Identitären Bewegung | |
| Österreichs und Deutschlands. Camus fordert genau dies: Den Migranten das | |
| Leben, notfalls mit Gewalt, so unbequem wie möglich zu machen, um sie zum | |
| Verlassen des Landes zu zwingen. | |
| Auch der rechtsextreme Attentäter von Christchurch in Neuseeland, dem 51 | |
| Menschen zum Opfer fielen, und der Attentäter auf die Synagoge und den | |
| „Kiez-Döner“ in Halle, Stephan Balliet, bezogen sich auf Renaud Camus. | |
| Ein unbeschwertes Reden über den Döner Kebap ist nach den „Döner-Morden“ | |
| und der medialen Inszenierung einer „Döner-Mafia“ nicht mehr möglich. | |
| Dennoch sollten wir uns dagegen wehren, dass unsere Narrative von den | |
| Rechten diktiert werden. | |
| Der vorliegende Text ist ein gekürzter und bearbeiteter Auszug, der mit | |
| freundlicher Genehmigung des Verlags gedruckt wurde. | |
| 26 Feb 2022 | |
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| Eberhard Seidel | |
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