# taz.de -- Kulinarisch Reisen: Urlaub auf der Zunge | |
> Früher träumte unsere Autorin von einer Weltreise. Dann entdeckte sie, | |
> dass man sich mit Moussaka, Kimchi und Curry einmal um die Erde essen | |
> kann. | |
Vergangenes Jahr war ich zuerst in Äthiopien, dann in [1][Thailand.] Als | |
nächstes wollte ich in die Türkei, landete aber zufällig in Vietnam und | |
blieb. In Bolivien fand ich es besonders schön. In Griechenland bin ich | |
zwei Mal gewesen. | |
Mindestens zwölf Länder besuchte ich 2022. Meistens war ich alleine dort, | |
manchmal mit Freund*innen. Ein schlechtes Gewissen habe ich nicht gehabt, | |
denn ich bin nicht ein einziges Mal geflogen. Meine kulinarischen Reisen | |
fanden alle dort statt, wo ich zuhause bin: in Berlin. | |
Ich liebe es, mich dem Geschmack nach durch die Welt treibenzulassen. Vor | |
allem, wenn ich mich mit dem Essen aus der dunklen Jahreszeit wegträumen | |
kann. Ganz egal, ob das die [2][Pizza beim Italiener ist, das Moussaka beim | |
Griechen oder das Kimchi beim Koreaner.] | |
Mit etwas Fantasie und dem passenden Geschmack wird aus dem beschlagenen | |
Fenster ein Regenvorhang in Manaus. Und aus dem Nebel über den Baumwipfeln | |
der Rauch am Ufer des Amazonas, wo gerade die frisch geangelten Fische | |
gegrillt werden. Nach dem Genuss eines Feijoadas verwandelt sich der Schnee | |
unter den Schuhen plötzlich in den Sandstrand von Rio de Janeiro. Und | |
nichts verscheucht meine Melancholie besser als Wein und Tapas. Oder Sake | |
und Gyozas. | |
## Sonntags wird gegrillt | |
Während der Lockdowns, als die Großstadt plötzlich ganz klein wurde und | |
[3][die Restaurants schließen mussten], waren meine Ausflüge zwangsläufig | |
zu sehr kurzen Wochenendtrips geschrumpft. Jeden Freitagabend traf ich mich | |
mit zwei Freund*innen in Buenos Aires und Madrid, um mit ihnen gemeinsam | |
zu kochen – per Video. Reihum war jede*r einmal Küchenchef*in und | |
schickte eine Zutatenliste, die Gerichte kochten wir dann gemeinsam vor dem | |
Bildschirm. Für den Urlaub im Kopf wählten wir lokale Speisen: spanische | |
Tortillas, argentinische Empanadas und deutsche Rouladen. | |
Kulinarisch verreist bin ich aber schon vor mehr als 20 Jahren, in meiner | |
Heimatstadt Buenos Aires. Damals träumten eine Freundin und ich davon, eine | |
Weltreise zu machen. Wir redeten oft darüber, meistens, wenn wir uns zum | |
Kochen trafen. Kein Wunder: In Argentinien spielt Essen eine große Rolle. | |
Man isst viel und gerne, am liebsten gemeinsam – und vor allem Fleisch. Das | |
gehört zusammen mit Fußball und Tango quasi zum Nationalstolz. | |
Sonntags wird traditionell gegrillt. Dieses „Asado“ mit der Familie oder | |
mit Freund*innen fängt nach dem Frühstück an und kann bis zum Abend | |
dauern. Es gibt einen „Asador“, einen Feuermeister, der die Gäste mit | |
Köstlichkeiten vom Grill verwöhnt. Es gibt Salat und Pommes, dazu Rotwein | |
mit Sprudelwasser. Auch unter der Woche riecht es überall nach Fleisch: in | |
den kleinen Straßen San Telmos mit ihrer kolonialen Architektur, in Fancy | |
Palermo, zwischen Hipster-Cafés oder im Bankenviertel. Sogar Bauarbeiter | |
improvisieren in ihrer Pause oft einen Grill auf dem Bürgersteig. | |
Wer am Sonntag nicht grillt, isst Pasta. Ravioli oder Spaghetti mit | |
Tomatensauce und, natürlich!, Fleisch („Pastas con estofado“). Die große | |
Migrationsbewegung Anfang des 20. Jahrhunderts aus Italien hat unter | |
anderem den kulinarischen Charakter Argentiniens geprägt. Gute Pizzerien | |
und Pasta-Restaurants findet man überall. | |
Aber mit Anfang 20 hatten meine Freundin und ich das alles satt: Fleisch, | |
Pizza und Argentinien. Deshalb – und weil das Geld für eine große Reise | |
nicht reichte – besorgten wir uns eine Weltkarte, die wir in unserer Küche | |
aufhängten. Abwechselnd entschieden wir uns für ein Land oder eine Region, | |
die wir gerne bereisen würden, und wenn die eine „Philippinen“ sagte, | |
musste die andere ein philippinisches Restaurant finden. Zum Glück sind die | |
Lokale in Buenos Aires, dieser Megacity mit knapp 14 Millionen | |
Einwohner*innen, genauso kosmopolitisch wie die Stadt selbst. Nachdem wir | |
essen waren, markierten wir den Ort mit einem Kugelschreiber auf der Karte, | |
als ob wir wirklich da gewesen wären. | |
Die Restaurantbesuche waren nicht günstig für unsere Verhältnisse damals, | |
aber günstiger als Flugtickets. Ungefähr einmal im Monat konnten wir uns | |
das leisten. Während des Abendessens liebten wir es, schon das nächste Ziel | |
festzulegen. „Sehen wir uns nächstes Mal in Ungarn?“– „Was hältst du … | |
Schweden?“ Die Weltkarte ist mit der Zeit verloren gegangen und ich kann | |
nicht mehr sagen, wie viele Länder wir bereist haben. Aber definitiv viel | |
mehr, als wir jemals in der Realität hätten schaffen können. | |
Und dann zog ich nach Münster. Im Gegensatz zu Buenos Aires war mein erster | |
Wohnort in Deutschland keiner, in dem es viele internationale Restaurants | |
gab. Also lebten mein damaliger Freund und ich unsere Reiselust in unserer | |
Wohnung aus. Wir liebten es, „exotisch“ zu kochen, und betrieben jedes Mal | |
einen großen Aufwand, um unser Zimmer so herzurichten, dass es aussah wie | |
ein Imbiss in Indien oder ein „Chiringuito“, eine spanische Strandbar. | |
Besonders gerne denke ich an ein [4][thailändisches Abendessen] zurück. | |
Dafür hatten wir extra Plastiktischdecken besorgt, ein Poster mit Palmen an | |
der Wand aufgehängt und ein altes Radio bei Ebay ersteigert und auf den | |
Tisch gestellt, da wir uns einbildeten, so sei es immer beim [5][Streetfood | |
in Thailand] (das Radio war allerdings nur Deko, die passende Musik fanden | |
wir im Internet). Plötzlich kam mir der Regen draußen tropisch vor, und ich | |
bekam Lust, mit einem Mototaxi herumzufahren. | |
Heute baue ich beim Kochen keine Kulisse mehr auf, und eine Weltkarte, auf | |
der ich Länder anpinne oder ankreuze, besitze ich auch nicht mehr. Ich bin | |
so geübt im kulinarischen Reisen, dass der Anblick eines Aperol reicht und | |
schon sitze ich auf einer Terrasse mit Meerblick, wo die Sonne die Haut | |
erwärmt. | |
Mein nächstes Reiseziel? Wer weiß. Seit fünf Jahren war ich schon nicht | |
mehr in Argentinien. Es wäre mal wieder Zeit, mein Herkunftsland zu | |
besuchen. Kulinarisch – oder vielleicht doch in echt. | |
3 Mar 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Insekten-als-Delikatesse/!5907696 | |
[2] /30-Jahre-Einheit-auf-dem-Teller/!5715534 | |
[3] /Corona-und-die-Berliner-Restaurants/!5827520 | |
[4] /Verbot-von-Street-Food-in-Bangkok/!5402709 | |
[5] /Verbot-von-Street-Food-in-Bangkok/!5402709 | |
## AUTOREN | |
Luciana Ferrando | |
## TAGS | |
Genuss | |
Argentinien | |
wochentaz | |
Essen | |
italienische Küche | |
Nudeln | |
Urlaub | |
Kolumne Hin und weg | |
Genuss | |
Genuss | |
Lifestyle | |
IG | |
Bangkok | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Debatte über „Pizza Hawaii“: Buon appetito? | |
Der berühmte Pizzabäcker Gino Sorbillo hat eines der kulinarischen | |
Grundgesetze Italiens gebrochen – und bietet nun Pizza mit Ananas an. Gut | |
so? | |
Billig-, Marken- und Edelpasta im Test: Spaghetti alla schlappi | |
Unsere Autorin hat Pastasorten auf Geschmack, Gefühl und die Bereitschaft, | |
sich mit der Sauce zu verbinden, getestet – und hat eine klare Siegerin. | |
Freundschaftsdienste in der Urlaubszeit: Die Blumen der Anderen | |
Freundschaften wollen gepflegt sein, Balkonpflanzen auch. Der eine bekommt | |
leuchtende Augen, wenn er in Vertretung gießen soll, die andere Panik. | |
Naturerleben jenseits der Erwerbslogik: Flamingos mit neuen Augen sehen | |
Tierspotting verlangt Leistung und macht die Natur zum Objekt. | |
Schmetterlinge oder Vögel lassen die Reisende aber auch spontanes Glück | |
erfahren. | |
Essen in Venedig: Wein, Cicchetti, Dolce Vita | |
In Venedig gibt es eine Spezialität, die Einheimischen ebenso schmeckt wie | |
Touristen: Kleine, üppig belegte Brothappen zum Aperitif. | |
FAQ zu Naturweinen: Das Vollkornbrot unter den Weinen | |
Naturweine werden immer beliebter. Doch kaum jemand kann genau sagen, was | |
sie ausmacht. Unsere Autorin klärt auf und probiert sich durchs Sortiment. | |
Ernährung im Gehen: Was der Kaffee to go verrät | |
Woher kommt die Angewohnheit, Essen auf die Straße hinauszutragen und im | |
Gehen zu verzehren statt zu verweilen? | |
Türkisch-deutsche Kulturgeschichte: Die Vermessung des Döners | |
Der Döner hat mehr für die Begegnung von Kulturen und Klassen geleistet als | |
so manche Initiative. Unser Autor hat ein neues Buch über ihn geschrieben. | |
Verbot von Street-Food in Bangkok: An der Straße schmeckt es besser | |
Die Stadtverwaltung in Thailands Hauptstadt Bangkok will Streetfood | |
verbieten. Das zerstört einen wichtigen Teil der Lebenskultur. |