# taz.de -- Tanzperformance „Navy Blue“: Der Blues war der Motor | |
> Mit ihrer neuen Choreografie „Navy Blue“ eröffnet Oona Doherty das | |
> Sommerfestival auf Kampnagel und tourt damit weiter nach Berlin. | |
Bild: Möchte ihr Stück „Hope Hunt“ gern in Gefängnissen aufführen: die … | |
Anmut? Ja, tatsächlich, es liegt etwas Anmutiges, etwas Verletzliches und | |
Zartes unter den rauen und abrupten Bewegungen, die Oona Doherty selbst | |
tanzt und für andere choreografiert. Sie schimmert durch wie etwas, das | |
versteckt und geschützt werden muss, um nicht gefährdet zu sein in jener | |
Welt, der ihre Charaktere ausgesetzt sind. | |
So kann man die irische Choreografin tanzen sehen in einem [1][Video in der | |
Tate Britain]. Dorthin hatte sie der [2][Videokünstler Mark Leckey] vor | |
drei Jahren für eine Performance in seine Ausstellung eingeladen, die einem | |
Ort seiner Jugend galt, einem Treffpunkt von Kids unter einer Brücke der | |
Autobahn M53. | |
Fliegen wollen und fallen, herumgeschleudert werden wie von einer Energie, | |
die größer ist als sie selbst, in den Flow kommen und abrupt herausgeworfen | |
werden: In Oona Dohertys Bewegungssprache in diesem Solo scheint sich die | |
Erfahrung sozialer Härte eingeschrieben zu haben, ein | |
Immer-wieder-ausgebremst-und-zurückgeworfen-Werden. | |
## Tanzperformance „Hope Hunt“ | |
Und so war es auch in einem ihrer bisher erfolgreichsten Stücke, „Hope | |
Hunt“. Im zugehörigen Video bildet eine Vorstadtstraße bei Tag und bei | |
Nacht die Kulisse für die Soli eines jungen Mannes und einer jungen Frau. | |
Die Kamera fokussiert auf ihre Verlassenheit, die Glieder schlenkern, die | |
Körper taumeln, Wut und Mangel sind im Spiel. Zwischen den Solos gibt es | |
eine lange Kamerafahrt über einen Schrottplatz, ein symbolisches und | |
ambivalentes Bild. | |
Kann es doch einerseits als Warnung verstanden werden, mit unserem | |
Ressourcen verschwendenden Lebensstil an ein Ende gekommen zu sein; und | |
andererseits ist der Rausch der Geschwindigkeit und das Abhauenwollen in | |
dem Bild gegenwärtig und damit womöglich genau das, wovon die jungen | |
Protagonisten in „Hope Hunt“ träumen. | |
2020 war sie mit „Hope Hunt“ auf Kampnagel in Hamburg zu Gast; dieses Jahr | |
wird sie dort am 10. August das Sommerfestival eröffnen mit „Navy Blue“, | |
einer Uraufführung. Eine Woche später ist sie damit zum Festival Tanz im | |
August in Berlin eingeladen. Denn seit die Nordirin letztes Jahr den | |
Silbernen Löwen der Tanzbiennale in Venedig erhielt, handelt man sie als | |
einen Jungstar der Tanzszene. | |
Wir sind in Hamburg verabredet, und auf dem kurzen Weg vom Probenraum auf | |
Kampnagel zu einem Café erzählt sie von ihrer kleinen Tochter, anderthalb | |
Jahre alt, die jetzt eine Woche von ihrem Freund, eine Woche von ihrer Mum, | |
eine Woche von einem Babysitter in Hamburg betreut wird, während Oona | |
Doherty mit ihrem Ensemble probt. | |
## Tanzperformance „Navy Blue“ | |
„Navy Blue“ ist ihre erste Show als Mutter. Aber nicht nur das. Es ist auch | |
ihre erste Produktion mit zwölf Tänzer:innen. Es erfüllt Doherty mit | |
Stolz, für zwei Jahre, während das Stück tourt, deren Arbeitgeberin zu | |
sein. Neu ist auch, dass sie in „Navy Blue“ klassischer Musik folgt, dem 2. | |
Klavierkonzert von Sergei Rachmaninow, vor mehr als 120 Jahren komponiert. | |
Dass Journalisten vor der Uraufführung bei Proben zuschauen oder | |
Ausschnitte sehen, möchte sie nicht. Aber sie erzählt bereitwillig über | |
ihren Weg zu „Navy Blue“. Wie sie in einer Phase der Vereinsamung und | |
Depression, als sie den Blues hatte, über die Farbe Blau zu recherchieren | |
anfing, um sich selbst eine Aufgabe zu setzen, mit der sie sich aus dem | |
Stimmungstief herausziehen wollte. | |
Wie die Geschichte der Farbe, des Handels mit den teuren Rohstoffen, das | |
Blau in der Kunst, aber auch das Blau des Meeres und das Blau in den | |
Uniformen der Navy, schließlich die Melancholie der „blauen Stunde“ sie in | |
ihren Bann zogen. Es geht um eine Farbe, aber die Kontexte, in denen sie | |
Bedeutung erlangt, sind vielfältig, reichen in die Geschichte und in die | |
Konflikte der Gegenwart. | |
Weiter erzählt die Choreografin über die allmähliche Entwicklung einer | |
Stückidee, wie sie während eines Lockdowns – allein im Studio, vieles war | |
abgesagt – wenigstens für sich trainieren wollte, Ballett alter Schule, und | |
sich dabei in die Musik von Rachmaninow verliebte. Und dann noch entdeckte, | |
dass der Komponist dieses Konzert nach einer Schaffenskrise und depressiven | |
Phase geschrieben hatte. Da schien was aufeinander zuzulaufen. | |
## Tänzer:innen aus Paris, London und Dublin | |
Für „Navy Blue“ arbeitet sie mit Tänzer:innen, die sie in Paris, London u… | |
Dublin gecastet hat, High-Level-Professionals, die ihr, das sagt sie | |
zumindest, etwas Angst machen. Also entwickelte sie die Szenen des Stücks | |
in den meisten Zügen schon vor den Proben, um dort dann zu wissen, wie | |
agiert werden soll. Denn drei Wochen Probenzeit sind nicht viel. | |
Um solch ein Projekt zu stemmen, sind viele Partner nötig, vier Festivals | |
sind beteiligt und weitere Produzenten und Förderer. Das Überleben als | |
Choreografin ist nicht einfach, auch nicht für eine angesagte Künstlerin | |
wie Oona Doherty. | |
Wegen Rosaria, ihrer kleinen Tochter, will sie demnächst gerne ein Jahr | |
Pause machen, aber wie das ökonomisch ausgeht, ist noch fraglich. Und sie | |
zweifelt auch, ob sie in Nordirland, nahe Belfast, wohnen bleiben wird. | |
Denn mit dem Brexit, den Einschnitten in der Kulturförderung sei es noch | |
schwieriger geworden in einem Land, das keine eigene Tanzschule, keine | |
Bühne für Tanz, keine eigene Company hat. | |
## Sozialer Realismus | |
Dass Oona Doherty auch in „Navy Blue“ mit einem sozialen Realismus spielt, | |
für den ihre bisherigen Arbeiten bekannt waren, kann ich dann doch noch an | |
einem kleinen Ausschnitt sehen, der für den Trailer geprobt wird. | |
Zu einem bedrängenden Sound hört man eine Stimme eine Liste vorlesen, die | |
Kalkulation des Budgets der Show, wie viele Tausend Euro für Equipment, | |
Technik, Techniker, Kostüme, Tänzer:innen, Reisekosten, Unterbringung, | |
und so weiter veranschlagt werden, man hört die Zahlen in die Höhe | |
klettern, während der Kameramann nah vor den Tänzer:innen beginnt und | |
sich langsam von ihnen entfernt. Deren Bewegungen beginnen auf engem, | |
bedrängtem Raum in der Beklemmung und schaffen sich langsam da raus, ins | |
Weite und Offene. | |
Unter großer Anspannung stehen die Körper in diesen Soli, es kostet sie | |
Kraft, etwas abzuwehren, jenseits dessen sie sich erst entfalten können. | |
## Working-Class-People | |
Eines der Dinge, die Oona Doherty umtreiben, ist die Frage, wie sie den | |
Raum des Tanzes weiten kann, wie sie aus der Insider-Bubble kommt. | |
Interessieren sich die Abgehängten, die Working-Class-People, deren Posen | |
und Gestus sie in zurückliegenden Stücken beschäftigten, für Tanz? Oder | |
überhaupt für Theater? | |
Ein Weg, diese Frage zu bearbeiten, ist, ihr Stück „Hope Hunt“ auch zur | |
Aufführung in Gefängnissen anzubieten. Das hat schon mal geklappt, aber | |
nicht ausreichend; sie würde es gern mit Workshops und einem nachhaltigen | |
Angebot für die dort Festsitzenden kombiniert wissen. Vielleicht gelingt | |
das nächstes Jahr in Mailand in einer Vollzugsanstalt, die dem Theater | |
gegenüber aufgeschlossen ist – auch das ist noch eine Frage des Budgets. | |
Aber jetzt erst mal die Premiere bestehen von „Navy Blue“. Es sei wichtig | |
für sie und aufregend zu erleben, was bei der Premiere passiert, was die | |
Leute empfinden und denken, die ja alle ihre eigenen Erwartungen, ihre | |
eigene Vergangenheit mitbringen. | |
6 Aug 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://www.youtube.com/watch?v=2oizmGmZGIM | |
[2] /Portraet-Mark-Leckey/!5171778 | |
## AUTOREN | |
Katrin Bettina Müller | |
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