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# taz.de -- Kampnagel-Festival trotz Corona: In Hamburg kommt Stimmung auf
> Die Eröffnung des Kampnagel-Festivals ist wichtig – auch um den
> Künstler:innen ein Signal zu geben, dass es trotz Corona weitergeht.
Bild: Fiktive Gespräche mit dem dementen Vater: Szene aus der Performance von …
Gewöhnungsbedürftig ist dieses Jahr zum Beginn des Internationalen
Sommerfestivals auf [1][Kampnagel in Hamburg] vieles. Als eines der ersten
seiner Art seit Corona hat es vergangenen Mittwoch Eröffnung gefeiert, mit
abgespecktem, immer wieder umgeworfenem und neu geplantem Programm,
angepasst an Abstands- und Quarantäneregeln.
Bis auf eine Position stand im März eigentlich das ganze Programm. Viel
lang Geplantes musste dann aber abgesagt werden, Künstler:innen konnten
nicht reisen, Stücke nicht mehr entwickelt werden. Aber aufgeben wollte
Festivalleiter [2][András Siebold] nicht, auch, um Künstler:innen ein
Signal zu geben, dass es irgendwie weitergeht. Ein Viertel des geplanten
Programms konnte in veränderter Form nun noch im „Special“ landen.
Tatsächlich kommt bei strahlendem Sonnenschein zur Eröffnung
Festivalstimmung auf. Trubelig ist es, aber das Kulturzentrum am Kanal
bietet im Außengelände genug Platz, sich zu verlaufen. Der schon
traditionelle „Avant-Garden“ hinter dem Gebäude ist nun umzäunt, Ein- und
Austritt werden an einer Kasse geregelt.
Rund um das „Migrantpolis“-Holzhaus sind dort Gartenbereiche abgetrennt,
wer sich auf die Stühle vor den Bühnen setzt, checkt mit einer App ein. Auf
dem Platz vor dem Foyer auf der anderen Seite des Gebäudes stehen unter
einer großen Plane Tische und Bänke rund um eine Bar und ein DJ-Pult.
Auf den Bühnen drinnen gibt es ein reduziertes Programm und genug Abstand
zwischen bis zu zehn Menschen großen Besuchergruppen. Wer allein kommt,
sitzt allein. Gerade mal ein Drittel der Plätze waren am Mittwoch zum
Auftakt mit Florentina Holzingers „Tanz“ in der großen Halle besetzt. Aber
vor allem gibt es ein erweitertes Programm draußen auf drei Bühnen auf und
rund um das Gelände, dazu Videowalks oder künstlerische Stadtführungen in
Innenstadt oder Hafencity.
## Mit quietschenden Reifen
So hat die irische Choreografin Oona Doherty ihre Choreografie „Hope Hunt
and The Ascension into Lazarus“ kurzerhand für zwei Bühnen in der
Nachbarschaft adaptiert. Auf einem großen Sandplatz zwischen Wohnhäusern,
direkt an einer Brücke über den Kanal, stellt sich am Donnerstag das
Publikum sauber gereiht an Punkten auf dem Boden vor einer Bühne auf.
Von hinten braust mit lauter Musik aus einer Riesenbox auf dem Rücksitz ein
Golf auf die Kehre vor dem Platz, ein junger Mann in Trainingsanzug und
Käppi steigt aus und spielt mit typischen Gesten auf der Straße den Harten.
Dann wirft er die Tänzerin Mufasa aus dem Kofferraum auf den Boden und rast
mit quietschenden Reifen davon.
## Typisches Mackerverhalten
Mufasa rennt ihm hinterher, dann bahnt sie sich mit ähnlichen Gesten einen
Weg zur Bühne. Den „maskulinen Kern der Arbeiterklasse Europas“ will
Doherty mit der Performance sezieren, immer wieder wiederholt Mufasa
dieselben Bewegungen, Sprechmuster und/oder Fangesänge, variiert sie
leicht. Es sind Gesten von der Straße, aus der Kneipe, aus dem Stadion,
Anmachsprüche, typisches Mackerverhalten, Konfrontationssituationen.
Dazwischen mischen sich aber auch leisere Töne und klassischer Tanz. Immer
wieder stolpert Mufasa, fällt in sich zusammen, bricht mit neuen Gesten
wieder auf. Traurig wirkt das Wesen, das bei dieser fragilen
Zusammensetzung all dieser ausgestellten Härte schließlich herauskommt:
zerrissen zwischen Brachialität und Zärtlichkeit, Überschwang und
Niedergeschlagenheit.
Nur sich darauf zu konzentrieren fällt im Trubel ringsum nicht leicht. Es
herrscht reger Standpaddlerverkehr, Familien setzen sich auf die Wiesen um
den Platz, junge Männer tanzen mit ganz ähnlichen Bewegungen auf der Brücke
– und wenn sie weitergehen, sieht es aus, als gingen sie vor der Bühne noch
mal betont männlicher am Publikum vorbei.
Klassisch auf der Bühne in der Halle wiederum zeigt der britische Comedian
und Performer Kim Noble seine surreale Dokumentation seiner, nun ja,
Beziehungen mit einer Made und einem Eichhörnchen, und zwar einem grauen.
Denn die, das lässt Noble seinen – aus einem echten überfahrenen toten
Grauhörnchen gebastelten – Partner Nigel sagen, sind in Großbritannien
bedroht: Menschen jagen und töten sie, weil die [3][Einwanderer aus
Amerika] die einheimischen roten Eichhörnchen verdrängen.
## Eine Made in Großaufnahme
Nicht nur das erstaunlich lebendig wirkende sprechende tote Eichhörnchen
ist an diesem Abend gewöhnungsbedürftig. Denn auch Johnny, die Made, deren
Erziehung Kim Noble übernommen hat, ist live auf der Bühne, quicklebendig,
in Videogroßaufnahme im Glas und zwischen Kim Nobles Fingern.
Und überhaupt spielt Noble, wenn er seine versponnene, aber auch ganz
aufrichtig zärtliche Geschichte von der Liebe zwischen den Menschen und den
Tieren, vom Leben und Sterben erzählt, immer wieder mit
Grenzüberschreitungen.
Ganz nah rückt er mit der Kamera seinem sterbenden dementen Vater, spricht
fiktive Gespräche mit ihm. Später wird eine Fuchswarnanlage, die Noble
bastelt, um Kontakt mit den Tieren aufnehmen zu können, am Hodensack
befestigt. Er zeigt, wie er für einen Putzjob in einer Versicherung nackt
auf den Tischen tanzt, persönliche Dinge fotografiert und von ihm
versteckte Kameras von den Mitarbeitern entdeckt werden.
Und obwohl nicht weniges in dieser sehr eigenwillig erträumten
Mensch-Tier-Liebe-Collage aus kleinen Filmchen und Liveperformance auf den
ersten Blick verstörend sein mag, steckt darin eben doch eine traumhaft
zärtliche und ganz und gar ernst gemeinte Utopie: Was, wenn es eben doch
geht, gemeinsam? Und damit ein schöner Auftakt für ein Festival, das andere
Wege sucht.
17 Aug 2020
## LINKS
[1] /Kultur-Standortpolitik-in-Hamburg/!5643877
[2] /Dramaturg-Andras-Siebold-uebers-Sommerfestival/!5036327
[3] /Verbot-von-invasiven-Tierarten/!5328912
## AUTOREN
Robert Matthies
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