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# taz.de -- Streit um Solarpark: Energiewende? Nicht auf meiner Koppel
> In Brandenburg soll ein riesiger Solarpark entstehen. In der Gemeinde
> gibt es aber Streit zwischen Befürwortern und Gegnern.
Ein drückend warmer Tag im Frühsommer, Juliane Uhlig hat sich extra auf
eine Bank gestellt, um in eine Landschaft zu blicken, die ihr nur allzu
vertraut ist: quietschgelber Raps, so weit das Auge reicht, am Horizont
begrenzt durch eine Reihe Baumwipfel. „Schön hier, oder?“, fragt sie und
steigt wieder runter.
Zusammen mit ihrem Lebensgefährten betreibt Uhlig in der brandenburgischen
Gemeinde [1][Sydower Fließ], inmitten von Rapsfeldern, einen Pferdehof. Die
langgezogene Graskoppel, auf der ihre Islandpferde stehen, ragt wie eine
Speerspitze in die Felder hinein. Kinder und Jugendliche können auf Uhligs
Pferdehof ihre Ferien verbringen, Schüler:innen der Gemeinde können
einen Teil ihres Sportunterrichts hier absolvieren und Reiten lernen, auch
Familienausflüge sind möglich.
Doch Uhlig, 47 Jahre alt, hat Angst um dieses Idyll. Geht es nach den
Landwirten, die die Felder um ihre Koppel bestellen, geht es nach der
Bürgermeisterin und nach zwei Energieunternehmen, dann wird hier in Zukunft
kein Raps mehr blühen.
In Tempelfelde, einem Ortsteil von Sydower Fließ, wenige Kilometer nördlich
von Berlin, soll einer der größten Solarparks Deutschlands entstehen.
100.000 Megawattstunden grüner Strom sollen hier in Zukunft jedes Jahr aus
Sonnenenergie gewonnen werden, 30.000 Haushalte könnten damit laut den
Unternehmen versorgt werden. Um das zu erreichen, haben die Firmen eine
Fläche gepachtet, die in etwa so groß ist wie der Tiergarten in Berlin: 225
Hektar, von denen weit über 100 Hektar mit Photovoltaik-Freiflächenanlagen
bebaut werden sollen. Investitionsvolumen: rund 100 Millionen Euro.
Auch ihr Pferdehof, sagt Uhlig, würde dann mit Solarzellen umzingelt sein.
Ihr Ausrittgebiet und viele Wanderwege würden fast nur noch an den Rändern
des Solarparks entlangführen. Tatsächlich schmiegt sich die
„Flächenkulisse“, also das Land, das die Unternehmen für ihr Vorhaben
gepachtet haben, regelrecht an die 900-Einwohner:innen-Gemeinde an. Auch
den Pferdehof von Juliane Uhlig umschließt sie fast vollständig. Es ist
eine Planung, die zwar rechtens ist, die Uhlig aber als übergriffig
empfindet. Auf die Idee, sie bei der Entscheidung einzubinden, sie oder
andere Anwohner:innen wenigstens nach ihrer Meinung zu fragen, sei
niemand gekommen, sagt sie.
Zusammen mit rund 20 Einwohner:innen hat Uhlig daher eine
Bürgerinitiative gegründet, die den Bau des Solarparks so nah an der
Gemeinde verhindern will. Sie sei nicht per se gegen einen Solarpark, sagt
Uhlig, die selbst zahlreiche Solarzellen auf ihrem Dach hat. Was Uhlig vor
allem stört, ist die Lage und die Größe des Solarparks. Sie sorgt sich um
den Freiraum in Tempelfelde – und um ihr Geschäft. „Wir leben von dem
bisschen Minitourismus hier vor Ort“, sagt sie. Die Attraktivität des Dorfs
sieht Uhlig durch das Vorhaben gefährdet.
Der Streit über den Solarpark Tempelfelde ist ein typisches und doch oft
wenig beachtetes Beispiel dafür, wie der Ausbau Erneuerbarer Energien auch
dann misslingen kann, wenn im Grundsatz alle dafür sind. Wenn keiner den
Klimawandel leugnet und die Notwendigkeit des Ausbaus Erneuerbarer Energien
anzweifelt. Wenn Geld, Flächen und Material vorhanden sind. Wenn man im
Grunde nur noch auf Sonnenschein warten muss.
Seit über einem Jahr kann man in Sydower Fließ beobachten, wie das Beharren
auf einer bräsigen und allzu formalen Bürgerbeteiligung die Akzeptanz der
Energiewende gefährdet. Aber auch, wie eine kleine und wütende
Bürgerinitiative eine Gemeinde vor sich hertreiben kann und sich dabei
selbst in Widersprüche verstrickt.
Hinter der scheinbaren Lokalposse verbirgt sich noch eine andere Frage –
eine, die entscheidend werden könnte für das Gelingen der Energiewende: Wie
umgehen mit der knappen Ressource Land?
Gas- und Ölimporte hatten lange nicht nur den vermeintlichen Vorteil, dass
sie billig sind. Vergessen wird oft, dass eine Pipeline, eine unterirdische
zumal, so gut wie keine Fläche verbraucht. Der Ausbau Erneuerbarer Energien
wird das Landschaftsbild im Vergleich dazu massiv verändern. Weit weniger
zwar als der Abbau von Braunkohle im Tagebau, aber doch mehr als der Import
fossiler Energieträger. Die Energiewende verstärkt die Flächenkonkurrenz.
Das birgt Potenzial für Konflikte, die so komplex und kleinteilig sind,
dass sie es oft nicht in die großen Debatten schaffen.
Auf dem Pferdehof in Tempelfelde ist inzwischen Harald Höppner zu Juliane
Uhlig gestoßen. Höppner, groß gewachsen und braun gebrannt, ist Mitglied
bei den Grünen und beim Naturschutzbund (Nabu), 2015 initiierte er das
Seenotrettungsprogramm Sea Watch. Er ist, so kann man das sagen,
kampagnenerfahren. Höppner und Uhlig sind die treibenden Kräfte hinter der
Bürgerinitiative, übernehmen einen Großteil der Organisation und
Kommunikation.
„Wenn das so kommt, können wir uns hier nur noch an den Rändern eines
Solarparks bewegen“, sagt Höppner. „Es gibt hier keine Kinos, keine
Theater, am Wochenende fährt der Bus einmal am Tag. Das Einzige, was wir
hier haben, ist der Freiraum.“
Für Höppner ist das in etwa der Deal: wenig Kultur und Infrastruktur,
dafür Natur und Freiheit. Wenn das Land seinen Freiraum nun für den hohen
Energiebedarf der Städte aufgeben soll, geht dieser Deal für ihn nicht mehr
auf.
„Warum schraubt man nicht auf jedes Dach in Berlin eine Solarzelle, bevor
man hier Flächen verbaut?“, fragt Höppner. Und auch Uhlig hat bei der
Gelegenheit noch Alternativvorschläge für die Standortauswahl: eine alte
Mülldeponie etwa im Ort oder jene Flächen, auf denen ohnehin bereits
Windräder stehen. Höppner und Uhlig wollen, dass die Gemeinde und
Unternehmen auch andere Flächen prüfen – „ergebnisoffen“.
Tatsächlich gibt es Gemeinden in Deutschland, die so verfahren, wie Uhlig
und Höppner sich das wohl gewünscht hätten. Eine Gemeinde entscheidet, dass
sie einen Solarpark will, initiiert vielleicht eine Energiegenossenschaft
oder kooperiert mit einer bestehenden. Zusammen sucht man nach geeigneten
Flächen, sucht sich Partner, die bei der Umsetzung helfen.
Oft funktioniert es aber auch so wie in Sydower Fließ. Investoren suchen
nach geeigneten Flächen, schließen Pachtverträge mit den
Grundstückseigentümern ab und treten damit an die Gemeinde heran, um einen
entsprechenden Bebauungsplan (B-Plan) zu erwirken. Gerade bei Großprojekten
wird häufig so verfahren.
Auch das kann funktionieren. Die Gemeinden profitieren durch
Gewerbeeinnahmen und oft durch billigeren Ökostrom, formal können sich
Bürger:innen und Interessenverbände an einem B-Plan-Verfahren
beteiligen. In vielen Fällen führt dieser Weg aber auch zu Konflikten. Die
Beteiligung der Bürger:innen ist keine ergebnisoffene Debatte, in der
gemeinsam am Plan gefeilt wird. Einwände müssen nur dann berücksichtigt
werden, wenn jemand darlegen kann, dass seine persönlichen Rechte durch das
Vorhaben beeinträchtigt sind oder der Plan gegen Gesetze oder Vorschriften
verstößt. Viele weichen daher auf andere Druckmittel aus.
Die Geschichte des Streits um den Solarpark Tempelfelde beginnt bereits vor
zwei Jahren. Am 20. August 2020 stellen die deutschen Energieunternehmen
Boreas und Notus ihre Pläne erstmals öffentlich in der Gemeindevertretung
vor. Die Pläne stoßen bei den Vertreter:innen auf Zustimmung. Am 28.
Januar 2021 stimmt die Gemeinde einstimmig dem Aufstellungsbeschluss zur
Änderung des Flächennutzungsplans und dem Bebauungsplan zu. Ein
„Aufstellungsbestellungsbeschluss“ ist eine Art Absichtserklärung der
Gemeinde, der erste Schritt eines Bauvorhabens. Eine Skizze des geplanten
Solarparks wird veröffentlicht und unter anderem im Schaukasten der
Gemeinde gezeigt. Erst da, so erzählen es Höppner und Uhlig, seien sie
überhaupt auf den Solarpark aufmerksam geworden – und waren schockiert über
sein Ausmaß.
Nicht nur sie, auch andere Anwohner:innen fühlen sich bei der Planung
übergangen. Uhlig und Höppner organisieren im März 2021 eine Demonstration,
zu der etwa 100 Menschen kommen. Auf einem Transparent steht: „Solarenergie
JA – direkt vor der Haustür NEIN“.
Die Bild-Zeitung wird auf den Konflikt aufmerksam. „Wenn die Energiewende
ein Dorf zerreißt“, titelt sie. Darin vergleicht die Zeitung den Konflikt
mit dem Roman „Unterleuten“ von Juli Zeh, in dem sich ein brandenburgisches
Dorf über einen geplanten Windpark zerstreitet. Die [2][Verfilmung des
Romans] wurde in Sydower Fließ gedreht. Spricht man heute mit
Anwohner:innen darüber, sind diese zwar genervt von dem Vergleich, für
völlig aus der Luft gegriffen hält ihn aber kaum jemand.
Sowohl Gegner:innen als auch Befürworter:innen bezichtigen sich in
dieser Zeit gegenseitig der Lüge und Einschüchterung. Einem der
Landverpächter wird eine offensichtlich gefälschte Anzeige zugeschickt, in
der ihm vorgeworfen wird, illegal Müll zu verbrennen. Bürgermeisterin
Simone Krauskopf, eine Verfechterin des Projekts, wird – erfolglos – wegen
Machtmissbrauch bei der Kommunalaufsicht angeschwärzt. Sie selbst
veröffentlicht einen Text mit dem Titel „Betoniert im Kopf, den Blick im
Tunnel“. Darin wirft sie der Initiative vor, sich von der Kohle- und
Atomlobby vereinnahmen zu lassen. Die Bürgerinitiative hatte sich zuvor auf
Argumente des Anti-Windkraft-Vereins Vernunftkraft bezogen, der sich für
„echten Naturschutz“ und Kohle- und Atomenergie starkmacht.
Schnell wird klar, dass es bei dem Konflikt längst nicht mehr nur um die
Lage des Solarparks geht. Noch heute bezeichnen Uhlig und Höppner die
Unternehmen als „Heuschrecken“, die sich „am Buffet der Gemeinde bedienen…
würden. Auch Lokalrivalitäten spielen eine Rolle. Die zehnköpfige
Gemeindevertretung wird dominiert von Einwohner:innen aus Grüntal, dem
anderen Ortsteil der Gemeinde Sydower Fließ. Diese würden nun die Flächen
von Tempelfelde verscherbeln, so der Vorwurf. Und auch folgendes Geraune
findet seinen Weg in die Medien: Zwei Großbauern, die außerdem im
Gemeinderat sitzen, würden sich mit der Verpachtung eine goldene Nase
verdienen.
Die Unternehmen Boreas und Notus bemühen sich in dieser Zeit um
Schadensbegrenzung. Sie verweisen darauf, dass nicht die gesamte gepachtete
Fläche von 225 Hektar bebaut wird, wie von der Bürgerinitiative
kommuniziert wird, dass ein Abstand von 400 Meter zu Wohnhäusern
eingehalten wird und Sichtschutzvorkehrungen geplant sind. Vor allem pochen
sie darauf, dass die formale Beteiligung der Öffentlichkeit noch anstehe.
Doch es hilft nichts, der Druck der Bürgerinitiative wirkt: Am 18. November
2021 scheitert das Projekt vorerst. Der nächste Schritt auf dem Weg zum
Solarpark, die Bewilligung des Vorentwurfs des Bebauungsplans, wird durch
ein Patt in der Gemeindevertretung verhindert. Vier stimmen dafür, vier
dagegen. Kurz zuvor hatten Uhlig und Höppner ein rechtliches Gutachten des
städtebaulichen Vertrags zwischen der Gemeinde und den Unternehmen in
Auftrag gegeben. Solche Verträge sind bei Großprojekten zwischen Kommunen
und Unternehmen üblich, um Rechte und Pflichten beider Seiten festzuzurren.
Der beauftragte Anwalt kam zu dem Schluss, dass der Vertrag „an mehreren
Stellen deutliche Mängel und Defizite“ aufweist, „die mit rechtlichen und
wirtschaftlichen Risiken zulasten der Gemeinde behaftet sind“.
Doch mit dem Patt in der Gemeinde ist das Projekt noch nicht tot.
Vorgesehen ist für diesen Fall ein Aufschub von sechs Monaten. Dann können
die Unternehmen einen neuen Anlauf nehmen, um einen Bebauungsplan zu
erwirken.
Fünfeinhalb Monate später, an einem Samstag Ende April 2022 haben die
Unternehmen Notus und Boreas einen weißen Pavillon auf dem Sportplatz der
Gemeinde – eine kleine Wiese, auf der zwei schiefe Fußballtore stehen –
aufgebaut. Sie haben Schautafeln, Getränke und Grillwürste mitgebracht,
aber vor allem eine neue Strategie: Bevor sie ihren überarbeiteten Entwurf
noch mal in die Gemeindevertretung einbringen, wollen sie ihn mit den
Bürger:innen diskutieren.
Auch Höppner und Uhlig sind gekommen. Uhlig ist extra um 5 Uhr morgens aus
Nürnberg losgefahren, wo sie gerade eine Ausbildung im Systemischen
Konsensieren macht – eine Form der Entscheidungsfindung, die nicht auf
Mehrheitsprinzip, sondern auf Kooperation und Ausgleich setzt.
Uhlig und Höppner sind nicht zufrieden mit den Vorschlägen der Unternehmen.
Diese sehen eine kleinere Fläche des Solarparks vor, größere Abstände zu
Wohnhäusern, mehr Sichtschutz und die Möglichkeit für Anwohner:innen,
sich finanziell an dem Projekt zu beteiligen und von Zinszahlungen zu
profitieren.
„Uns wird hier wieder ein fertiger Plan präsentiert“, sagt Uhlig. Wieder
werde nicht ergebnisoffen über Lage und Fläche diskutiert. Es wird laut.
Die Mitarbeiter:innen der Unternehmen sind sichtlich genervt, man
kennt sich mittlerweile. „Dass wir Sie nicht abholen werden, ist klar“,
sagt einer zu Uhlig. Höppner hat die Nabu-Kriterien für naturverträgliche
Photovoltaik-Freiflächenanlagen ausgedruckt und mitgebracht. Er will
wissen, ob man die darin vorgesehene Bebauungsdichte von maximal 50 Prozent
einhält, bekommt aber keine Antwort.
Es dauert eine Weile bis nicht nur Uhlig und Höppner reden, sondern auch
andere Einwohner:innen das Gespräch mit den rund einem Dutzend
Mitarbeiter:innen suchen. Sie stellen Fragen, skeptisch, kritisch,
aber auch interessiert. Auch Bürgermeisterin Simone Krauskopf, eine kleine
Frau mit vielen Rastazöpfen, ist gekommen. Etwas später, weil sie als
Befürworterin des Projekts ohnehin schon eine Reizfigur für die
Bürgerinitiative sei, sagt sie.
Zwischen der Ablehnung der Gemeinde im November 2021 und der
Infoveranstaltung im April 2022 ist in Europa Krieg ausgebrochen. Der
russische Angriff auf die Ukraine führt die Folgen der fossilen
Abhängigkeit deutlich wie nie vor Augen. Deutschland will sich vom
russischen Öl und Erdgas abwenden. Dafür muss sich der Ausbau der
Erneuerbaren Energien beschleunigen.
Ob Krauskopf gehofft hat, dass dadurch der Widerstand gegen den Solarpark
schwindet? Erst habe sie beides, den Krieg und das konkrete Solarprojekt,
gedanklich nicht wirklich zusammengebracht, sagt sie. „Andererseits habe
ich mir dann gedacht: Wer jetzt vor dem Hintergrund des Ukrainekriegs den
Schuss nicht gehört hat und die Dringlichkeit des Unabhängig-Werdens nicht
versteht … das kann ich dann nicht nachvollziehen.“
Spricht man Harald Höppner darauf an, schüttelt der nur den Kopf. „Das ist
vermessen“, sagt er. Bereits jetzt würden 80 Prozent der Erneuerbaren
Energie im gesamten Landkreis aus Tempelfelde kommen. Genauer: von der 56
Windrädern, die Boreas hier bereits aufgestellt habe.
Etwas am Rand der Veranstaltung steht ein kräftiger Mann in T-Shirt und
kurzen Hosen: Jan Jelmar Diekstra. Er ist einer der Landwirte und
Gemeinderatsvertreter, die einen Teil der Fläche für den Solarpark stellen.
Eigentlich wollte er nichts mehr zum Thema sagen, doch einige Tage später
sitzt er mit Jürgen Giese, ebenfalls Gemeinderatsvertreter, Landwirt und
Verpächter, auf dessen Terrasse. Sie wollen nun noch mal ihre Sicht der
Dinge erklären.
Beide sind, vorsichtig formuliert, auf die Bürgerinitiative nicht gut zu
sprechen. Gerade bei Diekstra scheint sich einiges angestaut zu haben in
den vergangenen Monaten. Er spricht laut und schnell. „Dass wir beide in
der Gemeindevertretung sitzen, sieht natürlich von außen unglücklich aus“,
sagt Diekstra. Allerdings hätten sie bei der Entscheidung kein Stimm-, ja
nicht mal ein Rederecht, weil sie finanziell von der Entscheidung
profitieren würden.
Die Verpachtung von Land für Solaranlagen ist für Besitzer attraktiv. Die
Preise liegen bei einer niedrigen bis mittleren vierstelligen Summe pro
Hektar im Jahr. Den Vorwurf, sie würden sich die Taschen voll machen,
weisen Diekstra und Giese jedoch brüsk zurück. Dass sie einen kleinen Teil
ihres Lands verpachten – bei beiden handle es sich um eine Fläche von rund
20 Hektar, also nur gut einem Fünftel der Gesamtfläche des Solarparks –,
ermögliche ihnen, für die Zukunft zu planen.
Der Ertragswert der landwirtschaftlichen Flächen ist hier im Norden Berlins
gering. Ein Teil des Brandenburger Lands ist als „Sandbüchse“ bekannt.
Giese sagt, dass andere Landwirte ihn manchmal foppen würden: Für das
bisschen, was hier wächst, würden sie nicht mal aufstehen, bekam er zu
hören.
Der Staat zahlt Landwirten, die hier wirtschaften, Subventionen, um die
niedrigeren Erträge auszugleichen. Zu der schlechten Bodenqualität kommt
der Klimawandel. „Ich weiß auch nicht, wie es weitergeht, wenn es nicht
bald regnet“, sagt Diekstra bei dem Gespräch Anfang Mai. Giese hat seinen
Spargelanbau bereits aufgegeben. Auf seinen übrigen Feldern wachsen
Erdbeeren und Weizen, der zu Bioethanol verarbeitet werde. Diekstras Raps,
von dem ein Teil für den Solarpark verschwinden soll, werde zu Waschpulver
verarbeitet. „Ich bin Landwirt mit Leib und Seele, aber die Bedingungen
sind nicht mehr so, dass es reicht“, sagt Diekstra.
Solarzellen dagegen ist der Zustand des Bodens, in den sie gerammt werden,
relativ egal, mehr Sonneneinstrahlung ist sogar gut. Fast wöchentlich
hätten sie Anrufe mit Angeboten für ihr Land bekommen, sagt Giese. „Ich
hätte woanders mehr gekriegt“, sagt er. Bei dem Angebot von Notus und
Boreas habe das Gesamtpaket gestimmt. Wie viel Geld die Gemeinde am Ende
durch den Solarpark einnehmen könnte, darüber dürften sie nicht sprechen.
Aber Giese ist sicher: Viele würden anders denken, wenn sie wüssten, um wie
viel Geld es sich handelt.
Der Bürgerinitiative werfen sie vor, eine kleine Minderheit zu sein, die
vor allem ihre individuellen Interessen durchsetzen will. Das sei schlecht
für die Gemeinde. Und es ist natürlich auch schlecht für ihre Interessen.
Aus Sicht der Verfechter:innen lautet die Frage, die sich beim Solarpark
Tempelfelde und gewissermaßen auch bei der Energiewende im Allgemeinen
stellt: Gibt es angesichts des Klimawandels und nun auch des
Ukrainekriegs ein Recht, auf ein blühendes Rapsfeld zu schauen, das einem
nicht gehört?
Es ist schwierig, die tatsächliche Stimmungslage in Sydower Fließ zu
bestimmen. Zu der Informationsveranstaltung der Energieunternehmen Ende
April kamen über den Nachmittag verteilt gerade einmal rund 50 Menschen,
beim anschließenden Dorffest seien es vier- bis fünfmal so viele gewesen,
berichten die, die da waren. Kann es sein, dass vielen es auch ein bisschen
egal ist, ob der Solarpark kommt oder nicht?
Wie es weitergeht? Die Unternehmen haben angekündigt, noch mal das Gespräch
mit den Einwohner:innen zu suchen. Es gibt die Idee, eine
Bürgerbefragung durchzuführen. Manche Befürworter:innen setzen darauf,
dass Robert Habecks angekündigtes Sommerpaket den Entscheidungsweg abkürzen
könnte. In diesem werden Maßnahmen erwartet, die den Ausbau der
Erneuerbaren Energien im großen Maßstab vorantreiben sollen und den
Gemeinden dabei weniger Spielraum lassen.
Sollte man sich einigen können, wird aus dem Solarpark Tempelfelde,
dessen Planung 2020 begann, frühestens Ende 2024 grüner Strom in die Netze
fließen.
28 May 2022
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[1] https://www.sydower-fliess.de/
[2] /ZDF-Dreiteiler-Unterleuten/!5666628
## AUTOREN
Daniel Böldt
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