# taz.de -- Streit über Vermietung an NS-Profiteur: NS-Opfer fühlen sich übe… | |
> Die einst NS-nahe Firma Wintershall zieht in das Gebäude eines künftigen | |
> NS-Dokumentationszentrums in Hamburg. Opferverbände protestieren dagegen. | |
Bild: Heikle Nachbarschaft: Gedenkort Hannoverscher Bahnhof | |
HAMBURG taz | Es könnte eine schwierige Nachbarschaft werden in Hamburgs | |
Hafencity: Ausgerechnet in jenem Gebäude, in das ab 2023 das | |
Dokumentationszentrum „denk.mal Hannoverscher Bahnhof“ ziehen soll, werden | |
auch Büros der Firma [1][Wintershall-Dea] entstehen. | |
Das Pikante daran: Das [2][NS-Dokumentationszentrum] wird der von dort | |
deportierten 8.000 Juden, Sinti und Roma gedenken, die aus Norddeutschland | |
in die Ghettos, Konzentrations- und Vernichtungslager der deutsch besetzten | |
Gebiete gebracht wurden. Auch wirtschaftliche Ausbeutung und | |
unternehmerischer Profit Hamburger Kaufleute und Firmen werden Thema sein. | |
15 Jahre lang haben Opferverbände und die „Stiftung Hamburger Gedenkstätten | |
und Lernorte zur Erinnerung an die Opfer der NS-Verbrechen“ dafür gekämpft, | |
dass neben dem Erinnerungsweg an den Gleisresten und Tafeln auf dem | |
einstigen Bahnhofsvorplatz dieses Dokumentationszentrum entsteht. | |
Es soll im Erdgeschoss eines Bürogebäudes seinen Ort finden, das der | |
private Investor Harm Müller-Spreer gebaut und nun vermietet hat. Die | |
oberen Etagen werden ab 2022, wie vor einigen Tagen öffentlich wurde, von | |
der Wintershall-Dea genutzt, deren Vorgänger dem NS-Regime eng verbunden | |
waren. | |
## Wintershall profitierte vom Kriegsgeschäft | |
„Die Firma Wintershall war im Nationalsozialismus Teil der Aufrüstungs- und | |
Kriegsführungspolitik und beteiligte sich an der Ausplünderung der von | |
Deutschland okkupierten Länder“, schreibt die Stiftung Hamburger | |
Gedenkstätten. „Dabei profitierte sie in großem Umfang durch die Expansion | |
des Kaligeschäfts und der Erdölproduktion, wobei mit fortschreitendem | |
Kriegsverlauf zunehmend Kriegsgefangene und [3][Zwangsarbeiter] zum Einsatz | |
kamen“, heißt es weiter. | |
Zudem sei in enger Kooperation mit dem NS-Regime heimlich Munition in | |
stillgelegten Kalischächten gelagert worden, womit Wintershall gegen den | |
Versailler Vertrag verstieß. 1936 wurde die Firma offiziell als | |
Rüstungsbetrieb eingestuft. | |
Auch der damalige Vorstandsvorsitzende August Rosterg habe sich dem | |
NS-Regime angedient und die Entfesselung der Märkte, die Ausschaltung der | |
Gewerkschaften und einen diktatorischen Staat propagiert, schreibt der | |
Historiker Ingo Köhler. Rosterg sei ökonomischer Opportunist und Profiteur | |
gewesen. Er habe sich massiv an der „Arisierung“ des Bergbausektors | |
beteiligt und sich an jüdischem Eigentum bereichert. | |
Auch der Deutschen Erdöl AG (Dea) – seit einem Jahr mit Wintershall | |
fusioniert – gewährte das NS-Regime millionenschwere Zuschüsse zur | |
Erdölförderung. Dea baute damit die in Hamburg ansässigen Unternehmen aus | |
und ließ Häftlingskommandos für sich arbeiten. | |
## Die Vergangenheit spät aufgearbeitet | |
Nun hat das Unternehmen Wintershall seine NS-Vergangenheit zwar – wenn auch | |
spät – [4][2019 in einer Konferenz] sowie in der im September 2020 | |
erschienenen Dokumentation „Expansion um jeden Preis“ erforscht, erstellt | |
von namhaften Historikern. Auch die Aufarbeitung der seit 2019 zu | |
Wintershall gehörenden Dea sei in Auftrag gegeben worden, sagt der | |
Pressesprecher. Und das Unternehmen bleibt engagiert: 2018 hat die Firma in | |
Hessen die Initiative „Offen für Vielfalt – Geschlossen gegen Ausgrenzung�… | |
gegründet. | |
Trotzdem sind die Opferverbände – Hamburgs jüdische Gemeinden, das | |
Auschwitz-Komitee, die Rom- und Cinti-Union, der Landesverein der Sinti in | |
Hamburg sowie die Stiftung Hamburger Gedenkstätten – befremdet, weil man im | |
Vorfeld nicht mit ihnen sprach. Denn in der 2019 zwischen der Kulturbehörde | |
und dem Investor geschlossenen Vereinbarung für eine 200-jährige städtische | |
Dauernutzung des Erdgeschosses steht: „Der Eigentümer verpflichtet sich, | |
das Gebäude nicht selbst oder durch Dritte in einer Weise zu nutzen oder | |
nutzen zu lassen, die in der öffentlichen Wahrnehmung und insbesondere in | |
der Wahrnehmung der Opfer des Nationalsozialismus und ihrer | |
Interessenorganisationen im Konflikt mit dem Zweck des | |
Dokumentationszentrums steht oder der Ausstrahlung eines Gedenkortes | |
abträglich ist.“ | |
Der Bauherr Harm Müller-Spreer findet, dass er das bei der Vermietung | |
berücksichtigt habe. Denn eine verpflichtende Vorabsprache stehe nicht im | |
Vertrag. „Im Übrigen habe ich es so verstanden, dass es genügt, wenn ich | |
nicht an die AfD oder Organisationen mit rechter Gesinnung vermiete.“ | |
Außerdem habe sich Wintershall zur seiner Vergangenheit bekannt und sie | |
aufgearbeitet. „Deshalb habe ich keine Schwierigkeit gesehen“, sagt | |
Müller-Spreer. „Aber vielleicht ist das Problem in seiner inhaltlichen | |
Tiefe etwas zu kurz gekommen“, räumt er später ein. Sicherlich gebe es | |
Gesprächsbedarf. | |
Auch Wintershall-Chef Mario Mehren hat – allerdings erst Tage nach | |
Presseberichten über die erfolgte Vermietung – an die Stiftung Hamburger | |
Gedenkstätten geschrieben und sein Verantwortungsbewusstsein betont. Sein | |
Pressesprecher ergänzt, dass die geplante Nachbarschaft sogar „eine Chance | |
bietet. Sei es etwa durch gemeinsame Veranstaltungen oder Kooperationen, | |
die die Verantwortung von Unternehmen in den Fokus nimmt.“ | |
## Zumutung für Opferverbände | |
Die Opferverbände überzeugen solche Ideen nicht. „Wir fühlen uns | |
überfahren“, sagt Rudko Kawczynski, Vorsitzender der Hamburger Rom- und | |
Cinti-Union. „Es ist unzumutbar, dass ein Überlebender beim Besuch des | |
Dokumentationszentrums ertragen muss, dass im Obergeschoss eine Firma | |
sitzt, die letztlich mit verantwortlich für den Tod von Angehörigen seines | |
Volkes ist.“ | |
Durch die räumliche Nähe des ehemaligen Ortes der Deportationen zum Mieter | |
Wintershall Dea könnten bei ehemals Verfolgten und deren Nachfahren bei | |
einem Besuch Traumata berührt werden, warnt auch Oliver von Wrochem, Leiter | |
der KZ-Gedenkstätte Neuengamme und Projektleiter für das geplante | |
Dokumentationszentrum [5][denk.mal Hannoverscher Bahnhof] in der Stiftung | |
Hamburger Gedenkstätten und Lernorte. „Man setzt diese Menschen möglichen | |
negativen Erinnerungen aus, mit denen man an einem Ort, der den Opfern | |
gewidmet ist, nur schwer umgehen kann.“ | |
Es herrsche große Frustration bei all jenen, die sich seit vielen Jahren | |
für den Gedenkort eingesetzt hätten, vor vollendete Tatsachen gestellt | |
worden zu sein und jetzt etwas kommentieren zu müssen, von dem man dachte, | |
dass es gar nicht einträte, sagt von Wrochem. Wobei er niemandem eine böse | |
Absicht unterstelle – nur Unaufmerksamkeit. | |
Das Auschwitz-Komitee urteilt härter: „Nach dem anhaltenden Skandal um die | |
ehemalige Hamburger Gestapo-Zentrale Stadthaus hier nun der nächste Skandal | |
geschichtsvergessener Stadtpolitik: Die Hamburger Dokumentationsstätte für | |
die Opfer der Shoah wird sich in einem Gebäude befinden, in dem eine | |
NS-Täterfirma ihren Firmensitz haben wird, die eine Tochterfirma des | |
IG-Farben-Nachfolgekonzerns BASF ist“, heißt es in einem Schreiben. | |
Es sei ihr unbegreiflich, warum Wintershall-Dea genau in dieses Gebäude | |
ziehen müsse, sagt auch Cornelia Kerth von der Vereinigung der Verfolgten | |
des NS-Regimes (VVN-Bda). „Das hat eine besondere Qualität, einen | |
Symbolcharakter“, findet sie. Die Botschaft laute: „Alles ist wieder gut, | |
wir kommen jetzt gut miteinander aus.“ Das sei ganz und gar unangemessen. | |
## Selbst die Kulturbehörde ist irritiert | |
Selbst die Kulturbehörde ist irritiert, weil sie vorab weder informiert | |
noch einbezogen wurde. Auch dort will man die Sache nicht auf sich beruhen | |
lassen: „Nachdem wir von der Entscheidung des Bauherrn erfahren haben, | |
haben wir umgehend das Gespräch mit den an dem Bau beteiligten | |
Opferverbänden gesucht“, sagt deren Pressesprecher. | |
Man habe den Bauherrn um Stellungnahme gebeten. Die weiteren Schritte werde | |
die Behörde „auch im Lichte der Antwort eng mit den Opferverbänden, der | |
Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte und der Hafencity Hamburg | |
GmbH besprechen“. Die Hafencity Hamburg jedenfalls habe den Bauherrn | |
bereits auf die vertraglichen Regelungen hingewiesen. | |
4 Feb 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Studie-zu-Nord-Stream-2/!5744291 | |
[2] /Neuer-Park-in-der-Hafencity/!5140924 | |
[3] /Wanderausstellung-Zwangsarbeit-in-Deutschland/!5246147 | |
[4] https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-8484 | |
[5] https://hannoverscher-bahnhof.hamburg.de/ | |
## AUTOREN | |
Petra Schellen | |
## TAGS | |
NS-Dokumentationszentrum | |
NS-Verfolgte | |
NS-Forschung | |
NS-Gedenken | |
Hamburg | |
"Arisierung" | |
Schleswig-Holstein | |
Schule | |
Holocaust | |
NS-Verfolgte | |
NS-Verfolgte | |
NS-Straftäter | |
Gedenkstätte | |
Stadtentwicklung Hamburg | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Nachruf auf Heidi Goëss-Horten: Nicht ohne Arisierung | |
Kunstsammlerin, Milliardenerbin und Mäzenin von Sport, Tierschutz und | |
Kunst: Österreichs reichste Frau, Heidi Goëss-Horten, ist gestorben. | |
Erinnerungskultur in der Kleinstadt: Gedenken mit Abstrichen | |
Schwarzenbek bei Hamburg ringt mit der Vergangenheit. Neu ist ein | |
Gedenkstein für Zwangsarbeiter:innen – auch wenn er etwas anders | |
geplant war. | |
Kritik an Kaufhaus in Osnabrück: Die Arisierung übergangen | |
Das Kaufhaus L&T in Osnabrück wurde 1935 „arisiert“. Eine Gedenkskulptur | |
gegen Antisemitismus will es jedoch nicht mitfinanzieren. | |
Historiker über NS-Profiteure: „Zögerliche Aufarbeitung“ | |
Bremer und Hamburger Kaufleute profitierten in der NS-Zeit besonders stark | |
im besetzten Osten. Und viele Firmenarchive sind bis heute unzugänglich. | |
Hamburger Wintershall-Streit: Opfer sollen selbst verhandeln | |
Hamburg will keinen Beschluss über den Einzug der NS-belasteten Firma | |
Wintershall ins Gebäude eines Dokumentationsorts. Sondern nur eine | |
Mediation. | |
Wintershall-Streit schwelt weiter: „Ein großes Missverständnis“ | |
Die NS-belastete Firma Wintershall soll in dasselbe Gebäude ziehen wie ein | |
Gedenkort. Der Vermieter versucht vergebens, die Verantwortung abzuwälzen. | |
NS-Opferverbände rufen Schlichterin an: Entscheidung mit Signalwirkung | |
Opferverbände sind gegen den Einzug der belasteten Firma Wintershall-Dea | |
ins Gebäude eines NS-Gedenkorts in Hamburg. Nun beginnt ein | |
Schiedsverfahren. | |
Aufarbeitung des Nationalsozialismus: Anklage gegen Ex-KZ-Sekretärin | |
Einer 95 Jahre alten früheren Sekretärin des Konzentrationslagers Stutthof | |
wird Beihilfe zum Mord vorgeworfen. Es geht um mehr als 10.000 Fälle. | |
Gedenkstätte Neuengamme wird Stiftung: Endlich unabhängig | |
Hamburg verwandelt die KZ-Gedenkstätte Neuengamme in eine Stiftung. Das | |
bringt Freiheit von politischen Einflüssen und zusätzliches Geld vom Bund. | |
NS-Gedenkort in Hafen-City teileröffnet: Gedenken trifft Park-Ästhetik | |
Vom Lohsepark deportierten die Nazis rund 8.000 Juden, Sinti und Roma. Der | |
Gedenkort ist ein ambivalenter Mix aus Freizeit und Erinnern. | |
Gedenken: Kein Ort des Erinnerns | |
Der Lohseplatz in der Hamburger Hafencity war ein Ort, von dem aus Juden, | |
Sinti und Roma in Vernichtungslager deportiert wurden. Es wird überlegt, | |
aus dem Lohseplatz eine Gedenkstätte zu machen, doch es gibt auch andere | |
Vorhaben |