# taz.de -- Historiker über NS-Profiteure: „Zögerliche Aufarbeitung“ | |
> Bremer und Hamburger Kaufleute profitierten in der NS-Zeit besonders | |
> stark im besetzten Osten. Und viele Firmenarchive sind bis heute | |
> unzugänglich. | |
Bild: Kein Einzeltäter: Hitler begründet am 1. 9. 1939 im Reichstag den deuts… | |
taz: Herr Matheis, wie stark waren „Hanseaten“ in der NS-Zeit an der | |
Ausbeutung des europäischen Ostens beteiligt? | |
Felix Matheis: Alles, was wir bisher wissen, deutet darauf hin, dass | |
Hamburger und Bremer im „Generalgouvernement“ im heutigen Polen und den | |
besetzten Teilen der Sowjetunion überdurchschnittlich vertreten waren. | |
Was ist das genau für ein Gebiet? | |
Das von mir untersuchte „Generalgouvernement“, das Teil des [1][besetzten | |
Polens] war, umfasste das heutige Ostpolen und den westlichen Teil der | |
Ukraine. Hansestädtische Firmen waren dort vor allem als Monopolhändler | |
aktiv, mit 21 Hamburger und elf Bremer Firmen. Hinzu kommen 20 weitere | |
Hamburger Firmen in anderen, ökonomisch weniger wichtigen Rollen. Insgesamt | |
kommt man auf 52 Unternehmen aus Hamburg und Bremen. | |
Aus welchen Branchen kamen sie? | |
Die meisten waren Handelsfirmen, von denen viele bis 1939 in afrikanischen | |
Kolonialgebieten tätig waren, aber auch in Ostasien und Lateinamerika. Dass | |
einige von ihnen [2][Kolonialfirmen] waren, galt den Akteuren als Beweis | |
ihrer Eignung für das „Generalgouvernement“. Denn auch der Osten galt als | |
koloniales Gebiet, in dem man von Erfahrungen mit einer unterworfenen | |
lokalen Bevölkerung profitieren konnte. | |
Dabei war der Osten Neuland für diese Kaufleute. | |
Ja. Diese Übersee- beziehungsweise Kolonialfirmen hatten sich nie zuvor für | |
Polen oder die Sowjetunion interessiert. Aber vom Ende der 1930er bis in | |
die 1940er Jahre hinein fand ein Wandel der mentalen Landkarte statt, in | |
dessen Verlauf diese Region für hanseatische Unternehmer in den Mittelpunkt | |
rückte. | |
Warum? | |
Das hängt mit der damaligen Gesamtsituation zusammen. Hamburg und Bremen | |
als Seehandelsstädte hatten im Nationalsozialismus zunächst schlechte | |
Karten, weil das von Hitler 1933 implementierte Rüstungsprogramm die | |
Industrie favorisierte und zugleich den Außenhandel gängelte. Die | |
Handelsbranche erholte sich schlecht von den Folgen der | |
Weltwirtschaftskrise von 1929. Sie musste neue Wege suchen. Die Richtung | |
gab die NS-Führung vor, die den Handel gezielt auf europäische Länder | |
ausrichtete. | |
Wie lösten die Hanseaten ihr Problem? | |
Sie arbeiteten eng mit den NSDAP-Spitzen zusammen, um ihre Situation zu | |
verbessern. Insbesondere in Hamburg hat sich zwischen dem NSDAP-Gauleiter | |
Karl Kaufmann und der Kaufmannschaft – insbesondere der Handelskammer – | |
eine Kooperation entwickelt, die versuchte, Hamburg stärker in die | |
Wirtschaft des Nationalsozialismus zu integrieren. Hinzu kam die „Chance“, | |
sich infolge der „Arisierung“ – der systematischen Enteignung jüdischer | |
Gewerbe – zu bereichern. Für Bremen ist das wenig erforscht, aber in | |
Hamburg hat sich die Handelskammer seit dem Frühjahr 1938 massiv daran | |
beteiligt. Ausschlaggebend war aber die britische Seeblockade seit 1939, in | |
deren Folge die Überseehändler händeringend neue Betätigungsfelder suchten. | |
Eins davon war das eroberte Polen. | |
Wie lief die Bereicherung im Osten konkret ab? | |
Die Firmen haben – [3][wie in Deutschland] – von der Enteignung jüdischer | |
Händler profitiert, indem sie als „Kreisgroßhändler“ an deren Stelle | |
traten. Die Deutschen haben im „Generalgouvernement“ einen Apparat | |
aufgebaut, der dazu diente, die Nahrungsmittelproduktion der polnischen | |
Landwirte aufzusaugen. | |
Wie ging das vor sich? | |
Man zwang sie mit Waffengewalt, ihre Waren zu niedrigen Preisen an die | |
Besatzer zu verkaufen, die sie für die Wehrmacht und deutsche Zivilisten | |
nutzen wollten. Im Gegenzug wurde die polnische Bevölkerung auf | |
Hungerrationen gesetzt. Allerdings wurde schnell klar, dass die polnischen | |
Bauern nicht geneigt waren, ihre Produkte an die Deutschen abzuliefern, die | |
sie schlecht behandelten und weniger zahlten, als man auf dem Schwarzmarkt | |
bekam. Um ihn zu bekämpfen, schafften die hanseatischen Firmen Anreize: | |
Wenn ein polnischer Bauer an die Deutschen verkaufte, bekam er einen | |
Bezugsschein. Damit konnte er bei der betreffenden hanseatischen Firma | |
alltägliche Konsumgüter als „Prämien“ kaufen – Bekleidung zum Beispiel. | |
Hat das funktioniert? | |
Weitgehend. Der Schwarzmarkt blieb attraktiv, aber von 1940 bis 1944 | |
stiegen die Ablieferungsmengen an Agrargütern und auch die Umsätze der | |
hanseatischen Firmen – teils auf zweistellige Millionenbeträge in Złoty, | |
also Millionen Reichsmark. Außerdem konnten die Kaufleute, durch besagte | |
Seeblockade von Übersee abgeschnitten, ihre Firmen erhalten und von da aus | |
nach 1945 wieder starten: Die meisten waren spätestens in den 1950er Jahren | |
wieder im Welthandel aktiv und sogar erfolgreich. | |
Wie traten diese Deutschen vor Ort auf? | |
Durchaus als Herrenmenschen. Gerade diejenigen, die vorher in den Kolonien | |
tätig waren, übertrugen dieses Selbstverständnis auf Polen. In | |
Geschäftsberichten schrieben die Kaufleute etwa, dass die „Primitivität | |
Polens sehr stark an Afrika“ erinnere. Oder dass man besondere | |
Menschenführungskunst brauche, um die Polen so zu erziehen, dass sie | |
fleißig und gehorsam arbeiten. | |
Wie erging es den beteiligten Kaufleuten nach Kriegsende? | |
Die Rote Armee hat 1944 das „[4][Generalgouvernement]“ erreicht, stückweise | |
Polen erobert und die Deutschen vertrieben. Auch die Kaufleute mussten | |
fliehen, schafften es aber teilweise, ihre Waren nach Deutschland zu | |
bringen. Zudem konnten sie alle Verluste bei den Behörden als | |
„Kriegsschäden“ anmelden und bekamen Entschädigungen ausgezahlt. Einige | |
haben auch „Lastenausgleich“ beantragt: ein in den 1950er Jahren | |
aufgelegtes Sozialprogramm für Vertriebene. Ich kann nachweisen, dass eine | |
Handvoll dieser Kreisgroßhandelsfirmen als „Vertriebene“ fünfstellige | |
Lastenausgleichszahlungen erhalten haben. | |
Wurden Unternehmen später gerichtlich belangt? | |
Fast keine. Eine Ausnahme ist der Fall des Bremer Kaufmanns Walter Többens, | |
der einerseits eine Kreisgroßhandelsfirma hatte, andererseits im Getto | |
Warschau Tausende jüdische ZwangsarbeiterInnen Kleidung produzieren ließ. | |
Man hat bis in die 1950er Jahre hinein versucht, ihn zu belangen im | |
Entnazifizierungsverfahren. Er wurde in Abwesenheit als Hauptschuldiger | |
verurteilt und sollte nach Polen ausgeliefert werden. Er ist aber aus der | |
Haft geflohen und hat sich der Strafe entzogen – durch ein | |
Berufungsverfahren und dadurch, dass die Entnazifizierung Anfang der 1950er | |
Jahre auslief. | |
Welche Rolle spielt das „Engagement“ dieser Unternehmen in der hiesigen | |
Erinnerungskultur? | |
Fast keine. Dabei ist diese starke Beteiligung an der | |
NS-Besatzungsherrschaft in Gebieten, die Tausende Kilometer entfernt und | |
keine „nahe liegenden“ Betätigungsorte waren, erinnerungskulturell sehr | |
relevant. Es ist wichtig zu zeigen, dass auch eine Wirtschaftselite wie in | |
Hamburg, die sich traditionell als besonders ehrbar versteht, an | |
Judenverfolgung und Ausbeutung der polnischen und sowjetischen | |
Landbevölkerung beteiligt war. | |
Haben die Firmen selbst das aufgearbeitet? | |
Nicht so, wie es wünschenswert wäre. Viele dieser Firmen – oft sind es | |
Familienbetriebe – lassen ab und zu Jubiläumsschriften verfassen, meist | |
nicht von professionellen Historikern. Diese Bücher haben eher eine | |
traditionsbildende, werbende Funktion und streifen die Tätigkeit im | |
„Generalgouvernement“ nur am Rande, ohne den Verbrechenskontext zu | |
benennen. | |
Wie gut lässt sich das Thema wissenschaftlich erforschen? Sind die Archive | |
zugänglich? | |
Die Quellenlage ist schwierig. Es gibt kein zentrales Archiv über diese | |
Firmen, sondern man muss viele deutsche und polnische Archive besuchen, um | |
relevantes Material zu finden. Wobei die Archivlandschaft in Polen breit | |
aufgestellt, gut zugänglich, oft auch digitalisiert ist. In Deutschland ist | |
das weniger einheitlich. Das Archiv der Bremer Handelskammer etwa ist gut | |
organisiert und leicht zugänglich. Dasjenige der Hamburger Handelskammer | |
dagegen ist zum allergrößten Teil nicht erschlossen. Die meisten Akten sind | |
weder sortiert noch zugänglich. In den letzten Jahren hat sich die | |
Handelskammer [5][nach öffentlicher Kritik] bemüht, etwas zu verbessern, | |
aber es ist noch längst nicht optimal. | |
Konnten Sie auch in Archiven der beteiligten Firmen arbeiten? | |
Nein. Ich habe den Firmen, die heute noch existieren, Anfragen geschickt | |
und fast durchweg negative Antworten bekommen. Teils waren es sehr | |
unhöfliche, abweisende Antworten. Da wurde mir unmissverständlich klar | |
gemacht, dass man davon nichts wissen will. | |
21 Aug 2021 | |
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## AUTOREN | |
Petra Schellen | |
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