| # taz.de -- Stellungnahme des Deutschen Ethikrates: Der Hirntod bleibt umstritt… | |
| > Der Ethikrat streitet, ob der Hirntod der Tod des Menschen ist. Einig ist | |
| > er sich, dass eine Organspende nach Herzstillstand nicht erlaubt sein | |
| > soll. | |
| Bild: Die Feststellung des Hirntodes ist Vorraussetzung für eine Organentnahme. | |
| BERLIN taz | Sie sind in der Lage, ihre Körpertemperatur zu steuern oder | |
| die Wundheilung in Gang zu setzen; sie kämpfen gegen Infekte und entwickeln | |
| Krankheiten; sie können wachsen, sexuell reifen und sogar eine | |
| Schwangerschaft vollenden: Aber sie sind nach dem Stand des medizinischen | |
| Wissens tot, hirntot, weil alle Funktionen des Gehirns irreversibel | |
| ausgefallen sind, der Patient also keine Zeichen von Bewusstsein mehr gibt, | |
| nicht mehr selbstständig atmet und keine Reflexe zeigt. Kaum eine | |
| medizinische Definition ist so umstritten wie das Hirntodkriterium, das in | |
| Deutschland und vielen anderen Ländern die Voraussetzung ist, um | |
| menschliche Organe zu entnehmen. | |
| Ob die schon immer nur mäßige Bereitschaft der Deutschen zur Organspende | |
| auf diesen schon sinnlich wahrnehmbaren Widerspruch, der einen anspringt, | |
| wenn man einen für hirntot erklärten Menschen auf der Intensivstation | |
| sieht, zurückzuführen ist und von den in den letzten Jahren aufgedeckten | |
| Skandalen im Transplantationssystem nur verstärkt wird, kann empirisch | |
| nicht genau belegt werden. | |
| Es waren aber eben diese Schilderungen des eigens aus Los Angeles | |
| angereisten Hirntod-Kritikers Alan Shewman, die auf einer [1][Veranstaltung | |
| des Deutschen Ethikrats vor zwei Jahren] die Gemüter erregten und an die | |
| die Vorsitzende Christiane Woopen erinnerte, als sie vergangenen Dienstag | |
| die [2][Stellungnahme des Gremiums zu Hirntod und Organspende] vorstellte. | |
| Diese solle, so ihr Wunsch, die öffentliche Debatte befördern mit dem Ziel, | |
| einerseits wieder mehr Vertrauen in das Transplantationsgeschehen | |
| herzustellen, aber auch den respektvollen Umgang mit gegenteiligen | |
| Überzeugungen zu sichern. | |
| Der Rat konnte sich, wenig überraschend, auch in dieser wichtigen | |
| bioethischen Frage nicht einstimmig formieren und bildet damit nur die | |
| wissenschaftlich nobilitierte Realität der Meinungsvielfalt im Lande ab. | |
| Dass die medizinische Todeserklärung nur ein bürokratischer Akt ist und | |
| wenig mit dem Sterben des Menschen zu tun hat, wussten unsere Vorfahren, | |
| die noch viele Stunden bei einem Leichnam verbrachten, bis dessen Seele | |
| ausgehaucht war. | |
| ## Mehrheit für Hirntod-Definition | |
| Im klinischen Alltag allerdings kann man, wie Ethikrat Reinhard Merkel | |
| bemerkte, nicht tage- oder gar wochenlang warten, bis der gesamte | |
| Organismus abgestorben ist, insbesondere wenn es darum geht, | |
| überlebenswichtige Organe zu retten. | |
| Die Mehrheit des Rats hält deshalb am Hirntod fest, allerdings auf | |
| veränderter Argumentationsgrundlage. Im Unterschied zu früheren | |
| Erklärungszusammenhängen, die auf den Zusammenbruch der Körpereinheit | |
| fokussiert waren, insistieren die Befürworter darauf, dass das Gehirn „das | |
| zentrale Integrations-, Regulations- und Koordinationsorgan“ sei und in | |
| seiner Funktion als systemische Selbststeuerungsinstanz bis auf weiteres | |
| auch nicht maschinell zu ersetzen sei. | |
| Deshalb bestehen sie weiterhin auf der Dead-Donor Rule, der Regel nämlich, | |
| dass nur toten Menschen Organe entnommen werden dürfen. Würde man sie | |
| aufgeben, müssten beispielsweise Transplantationen von Kindern ganz | |
| untersagt werden, weil Eltern nicht in eine zum Tode führende Organentnahme | |
| ihres noch lebenden Kindes einwilligen dürften. | |
| Die Minderheit des Rats, die das reduktionistische, einzig auf das Gehirn | |
| bezogene Todeskonzept ablehnt, hat es schwerer. Sie bezieht sich auf die | |
| 2008 von dem US-amerikanischen President’s Council on Bioethics | |
| veröffentlichte Stellungnahme, nach der „der Körper eines Patienten mit | |
| völligem Hirnversagen immer noch lebendig sein kann“ und fähig zu | |
| Wechselwirkungen und Rückkopplungen mit seiner Umwelt. | |
| „Eine Hierarchie der Wichtigkeiten zwischen lebensnotwendigen Leistungen | |
| des Organismus“, schreiben sie, ließe sich systembiologisch nicht begründen | |
| und die technische Unterstützung des Herzschlags etwa sei nicht minder zu | |
| bewerten als die künstlich kompensierte Atmung. | |
| ## Dead-Donor-Rule nicht zu halten | |
| Wenn aber angenommen wird, dass ein hirntoter Mensch sich in einem | |
| Sterbeprozess befindet, aber noch nicht tot ist, dann ist die Dead-Donor | |
| Rule nicht mehr zu halten. Wie jedoch legitimieren die Räte dann die | |
| Organspende? Sie bringen, wie inzwischen in jedem bioethischen Dilemma, das | |
| Selbstbestimmungsrecht in Anschlag und delegieren das Problem damit an die | |
| Betroffenen: Die Organentnahme auf Grundlage einer informierten Einstellung | |
| stelle keine Tötung dar, sondern vielmehr die „Anerkennung der | |
| Selbstbestimmung des Einzelnen über seine leiblich-seelische Integrität“. | |
| Allerdings geht die Patientenautonomie wiederum nicht so weit, dass auch | |
| individuell über die Organspende nach Herzstillstand wie in den USA und | |
| vielen europäischen Ländern entschieden werden darf. Dies lehnt der Rat | |
| derzeit einstimmig ab. | |
| Um die selbstbestimmte Entscheidung auf einer soliden Grundlage zu treffen, | |
| fordern die Räte eine bessere Aufklärung und ergebnisoffene Kommunikation | |
| über das Transplantationsgeschehen. | |
| ## Kritik an Info-Broschüren | |
| Sie üben harsche Kritik an Aufklärungsbroschüren und | |
| Krankenkasseninformationen, aber auch an der Praxis der Hirntoddiagnostik | |
| und stellen dabei ganz nebenbei auch das Richtlinienmonopol der | |
| Bundesärztekammer infrage. An der verletzlichen Grenze zwischen Leben und | |
| Tod sei Transparenz gefragt. | |
| Empfindliche Stellen wurden offenbar aber auch in der gremieninternen | |
| Diskussion berührt, wie das von drei Ratsmitgliedern verantwortete | |
| Sondervotum offenbart. Sie weisen den von der Mehrheit formulierten | |
| gesetzlichen Änderungsbedarf hinsichtlich organprotektiver Maßnahmen vor | |
| beziehungsweise während der Hirntoddiagnose nachdrücklich zurück. Dabei | |
| geht es um die Versorgung noch nicht als hirntot diagnostizierter | |
| Patienten, deren Organe man perspektivisch retten will, die aber etwa per | |
| Patientenverfügung lebensverlängernde Maßnahmen ausgeschlossen haben. | |
| Die Unterstellung, die ärztliche Behandlung sei nicht darauf abgestellt, | |
| den Patienten zu retten, sondern nur seine Organe, scheint eine schwärende | |
| Wunde aufzureißen. Schon der Anschein von Fremdnützigkeit ist in der | |
| Medizin ein Killer. Weil es sich bei der Organentnahme aber eben nicht um | |
| eine Therapie handelt, muss dieser Umstand – in den Begriff der | |
| altruistischen „Spende“ gekleidet – verschleiert und müssen entsprechende | |
| Vorstöße zurückgewiesen werden. | |
| 27 Feb 2015 | |
| ## LINKS | |
| [1] http://www.ethikrat.org/veranstaltungen/forum-bioethik/hirntod-und-organent… | |
| [2] http://www.ethikrat.org/publikationen/stellungnahmen/hirntod-und-entscheidu… | |
| ## AUTOREN | |
| Ulrike Baureithel | |
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