# taz.de -- Organspenden von Toten: Neue Zweifel am Hirntod | |
> Werden Organe von einem Toten entnommen, muss der Hirntod eingetreten | |
> sein. Doch ist der Mensch dann wirklich tot? Experten melden Zweifel an. | |
Bild: Vor der Organentnahme muss der Hirntod sicher festgestellt worden sein. | |
HAMBURG taz | Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) ist | |
auf "Informationstour". Ihre Kampagne "Organpaten werden" macht derzeit | |
Station in Einkaufszentren deutscher Großstädte. So sollen Bürger und | |
Bürgerinnen motiviert werden, ihre Bereitschaft zur Entnahme von Nieren, | |
Lebern, Lungen und Herzen vorab zu erklären - für den seltenen, aber | |
möglichen Fall ihres "Hirntods". | |
Der Begriff steht gemäß Transplantationsgesetz (TPG) für den "endgültigen, | |
nicht behebbaren Ausfall der Gesamtfunktion des Großhirns, des Kleinhirns | |
und des Hirnstamms". Diese Diagnose bedeute, dass der Betreffende tot sei. | |
Daran gebe es "keine wissenschaftlichen Zweifel", betont die BZgA, auch die | |
Kirchen sähen das so. | |
Andere Informationen verbreitet die Physikerin und Medizinethikerin Sabine | |
Müller vom Berliner Universitätsklinikum Charité. In ihrem Aufsatz | |
[1]["Revival der Hirntod-Debatte", erschienen im Fachblatt "Ethik in der | |
Medizin"], liest man: Die seit Jahrzehnten vertretene, biologische | |
Begründung für das Konzept vom Hirntod sei "empirisch widerlegt". Müller | |
beruft sich vor allem auf ein 2008 veröffentlichtes "White Paper" | |
(Weißbuch) des US-amerikanischen President's Council on Bioethics. | |
Dieses Politikberatungsgremium, eine Art Pendant zum Deutschen Ethikrat, | |
habe eingeräumt, dass das integrierte Funktionieren des Körpers "nicht | |
unbedingt kurz nach Eintritt des Hirntodes aufhöre". Also sei das | |
Hauptargument derjenigen entkräftet, die den Hirntod mit dem Tod des | |
Menschen gleichsetzen, folgert Müller. | |
Der US-Ethikrat verweist auf Veröffentlichungen von Alan Shewmon. Der | |
Neurologe hatte bis 1998 über 170 dokumentierte Fälle gefunden, in denen | |
zwischen Feststellung des Hirntodes und Eintritt des Herzstillstands viel | |
Zeit vergangen war: Die Spannen reichten von mindestens einer Woche bis zu | |
14 Jahren. | |
Die durchschnittlichen Überlebenszeiten, so Müller, wären noch höher, wenn | |
nicht der Tod der künstlich beatmeten Patienten durch Entnehmen von Organen | |
oder Abbrechen lebenserhaltender Maßnahmen eingetreten wäre; die | |
Behauptung, kurz nach dem Hirntod trete unweigerlich der Tod ein, schreibt | |
die Berliner Ethikerin mit Verweis auf den US-Ethikrat, sei "kaum überprüft | |
und sogar eine selbsterfüllende Prophezeiung". | |
Bis 2003, bilanziert Müller, seien "zehn erfolgreiche Schwangerschaften von | |
Hirntoten dokumentiert". Zudem haben Shewmon und andere Wissenschaftler | |
beobachtet, dass Hirntote ihre Körpertemperatur regulieren, Infektionen und | |
Verletzungen bekämpfen, auf Schmerzreize reagieren, verdauen und | |
ausscheiden. Hirntote Kinder können wachsen und ihre Geschlechtsentwicklung | |
fortsetzen. | |
Shewmon, früher ein bekannter Befürworter des Hirntod-Konzeptes, meint | |
inzwischen, dass das Gehirn nicht als zentraler Integrator aller | |
menschlichen Körperfunktionen wirke. Die Integration sei vielmehr eine | |
Eigenschaft des gesamten Organismus, erläutert das White Paper. | |
"Organentnahmen von Hirntoten", folgert Müller aus den empirischen | |
Befunden, "sehe ich als Tötung an." Würden Ärzte dies eingestehen, müsse | |
dies aber nicht das Ende der Transplantationsmedizin bedeuten. "Man könnte | |
darüber nachdenken", so Müller, "ob man eine solche Tötung bei informierter | |
Zustimmung des Organspenders aufgrund altruistischer Motive legalisieren | |
sollte." Für Mediziner solle die Explantation straffrei bleiben, "auch wenn | |
sie dadurch Leben beenden". | |
Im Ergebnis ähnlich argumentiert der Düsseldorfer Bioethiker Dieter | |
Birnbacher, der seit Jahren in Gremien der Bundesärztekammer (BÄK) | |
mitwirkt: "Wir müssen anerkennen, dass hirntote Menschen eben noch nicht | |
tot sind, dass wir sie aber dennoch als Organspender heranziehen können." | |
Professor Birnbacher "erwägt", das heikle Thema in die Zentrale | |
Ethikkommission der BÄK einzubringen. | |
Im Transplantationsgesetz wurde die BÄK ermächtigt, verbindliche | |
Richtlinien zur Feststellung des Hirntodes zu formulieren, jeweils auf dem | |
Stand der medizinischen Wissenschaft; die derzeit geltende Version wurde | |
Mitte 1998 bekannt gegeben. Noch hüllt sich die BÄK in Schweigen - auf | |
Anfrage der taz äußerte sich der zuständige Wissenschaftliche Beirat der | |
BÄK weder zum White Paper aus den USA noch zur Auffassung des BÄK-Beraters | |
Birnbacher. | |
Wissenschaftlich umstritten ist nicht nur, wann ein Mensch tot ist. Zweifel | |
gibt es auch, ob die Feststellung des Hirntodes stets verlässlich erfolgt. | |
Sabine Müller verweist auf "etliche", in der Fachliteratur beschriebene, | |
Patienten, die aufgrund klinischer Diagnostik zwar als hirntot | |
klassifiziert worden seien, "bei denen aber mit apparativer Diagnostik | |
zerebraler Blutfluss oder elektrische Hirnaktivität nachgewiesen wurde". | |
Der Einsatz bildgebender Verfahren ist gemäß BÄK-Richtlinien nur in wenigen | |
Fällen verpflichtend: bei Kindern vor dem dritten Lebensjahr und bei | |
bestimmten Hirnschädigungen. In den Richtlinien heißt es: "Der Hirntod kann | |
in jeder Intensivstation auch ohne ergänzende apparative Diagnostik | |
festgestellt werden." | |
Vorgeschrieben ist unter anderem, dass hirngeschädigte Menschen durch zwei | |
erfahrene Ärzte unabhängig voneinander untersucht und mindestens zwölf | |
Stunden beobachtet werden. Die Ärzte, meist Neurologen und | |
Intensivmediziner, müssen ihre abschließende Diagnose in einem Protokoll | |
dokumentieren. | |
"Aus ethischen Gründen sollte eine Hirntoddiagnostik auf dem Stand der | |
besten verfügbaren Technologie gesetzlich vorgeschrieben werden", meint | |
Sabine Müller. Notwendig sei "zumindest" die zerebrale Angiographie - ein | |
Röntgenverfahren, das die Hirnarterien sichtbar machen kann. Diese Anregung | |
ist Fachkreisen geläufig: Bereits 2009 hatte Professor Günter Kirste, | |
Medizinischer Vorstand der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO), | |
die BÄK aufgefordert, die Angiographie der Hirngefäße sowie neue Techniken | |
der CT-gestützten Untersuchung in die Richtlinie aufzunehmen. | |
Bislang hat die BÄK dies weder getan noch in Aussicht gestellt. Der Ruf | |
nach zusätzlichen, technischen Untersuchungen stoße hierzulande auf | |
Widerstand, vermutet Müller - aus Kostengründen und "auch weil eine | |
verbesserte Hirntoddiagnostik das Organaufkommen verringern könnte". | |
Überraschende Nachrichten erreichten die Fachöffentlichkeit im Juni. Die | |
American Academy of Neurology (AAN), in den USA zuständig für die Standards | |
der Hirntoddiagnostik, fordert, deren Qualität mittels kontrollierter | |
Studien zu überprüfen. Viele Details der klinischen Untersuchungen für die | |
Hirntoddiagnostik, vorgegeben aufgrund von Expertenmeinungen, "können nicht | |
den Kriterien einer evidenzbasierten Medizin entsprechen", erklärte ein | |
AAN-Ausschuss im Fachblatt Neurology. | |
Die AAN vermisst unter anderem systematische Studien zur Frage, wie lang | |
man Patienten mindestens beobachten müsse, um sicher zu sein, dass der | |
Verlust ihrer Hirnfunktionen tatsächlich unumkehrbar sei. Notwendig sei es | |
auch, neue apparative Diagnostikverfahren empirisch unter die Lupe zu | |
nehmen. | |
5 Nov 2010 | |
## LINKS | |
[1] http://www.springerlink.com/content/905w12134245114w/fulltext.pdf | |
## AUTOREN | |
Klaus-Peter Görlitzer | |
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