| # taz.de -- Hirntod-Diagnose: Fehler bei der Feststellung | |
| > Für eine Organspende muss der vollständige und irreversible Hirntod | |
| > festgestellt werden. Dabei werden die Vorschriften oft nicht eingehalten. | |
| Bild: Für eine Organspende muss der Hirntod zweifelsfrei festgestellt werden. | |
| BERLIN taz | Der Anruf liegt schon ein paar Jahre zurück, doch die | |
| Aufregung, die er vorübergehend auslöste, hat der Neurologe Clemens Dobis | |
| aus Dortmund nicht vergessen: Ärzte aus einem Krankenhaus im Westfälischen | |
| hatten um Hilfe gebeten. Ihre Patientin zeige Zeichen, die auf einen | |
| Hirntod hindeuten könnten. | |
| Dobis, damals ärztlicher Koordinator bei der Deutschen Stiftung | |
| Organtransplantation (DSO), die die Durchführung sämtlicher Organspenden in | |
| Deutschland verantwortet, schlug ein orientierendes Konsil vor, das ist | |
| eine Art patientenbezogene Beratung eines Arztes durch einen anderen | |
| Kollegen. | |
| Aber weil er, Dobis, die Diagnostik des Hirntods – zwingende Voraussetzung | |
| für eine Organspende – als DSO-Mitarbeiter, Stichwort Interessenkonflikte, | |
| nicht selbst durchführen durfte, fuhr er, wie immer in solchen Fällen, mit | |
| einem niedergelassenen Neurologen aus Nordrhein-Westfalen in die Klinik. | |
| Was der feststellte, überraschte die Kollegen vor Ort: Das Gehirn der | |
| Patientin war keineswegs unwiederbringlich erloschen, wie zunächst | |
| vermutet; die Frau litt vielmehr an einem so genannten Locked-in-Syndrom, | |
| war also bei Bewusstsein, jedoch körperlich nahezu vollständig gelähmt und | |
| damit unfähig, sich sprachlich oder durch Zeichen verständlich zu machen. | |
| Nun ist ein Locked-in-Syndrom allein schon aufgrund der nachweislich noch | |
| existierenden Gehirnreflexe definitiv nicht mit dem Hirntod zu verwechseln; | |
| das wäre auch den Klinikkollegen aufgefallen, hätten sie die Untersuchung | |
| selbst gemacht. Der Fall zeigt jedoch, wie groß die Unsicherheit unter | |
| Ärzten in Sachen Hirntod ist. | |
| „Die Kollegen haben sich vorbildlich verhalten“, sagt Clemens Dobis. „Ihn… | |
| war die Sache nicht geheuer, also haben sie Experten gerufen.“ | |
| ## Sie beherrschen die einzelnen Untersuchungsschritte nicht | |
| Was aber, wenn das nicht passiert? Wenn Ärzte, obwohl sie sich dieser | |
| Aufgabe nicht gewachsen fühlen, die Hirntoddiagnostik durchführen, also | |
| eine Untersuchung machen, die der Feststellung des Todes dient, und | |
| ausgerechnet dabei ungenau vorgehen oder gar Fehler machen? Weil sie etwa | |
| einzelne Untersuchungsschritte nicht beherrschen, die vorgeschriebenen | |
| Zeiten zwischen den Untersuchungen nicht einhalten, den einen Test | |
| vergessen, den anderen nicht dokumentieren oder sein Ergebnis falsch | |
| interpretieren? | |
| Einiges deutet darauf hin, dass solche Vorkommnisse keine Einzelfälle sind. | |
| Der Medizinische Vorstand der DSO, Günter Kirste, lässt derzeit die | |
| Dokumentation zurückliegender Hirntoddiagnostiken in ganz Deutschland auf | |
| Sorgfältigkeit und Zweifelsfreiheit überprüfen: „Der Vorstand bittet die | |
| Geschäftsführenden Ärzte, alle nicht korrekt durchgeführten | |
| Hirntoddiagnostiken zu melden“, heißt es im Protokoll einer | |
| DSO-Vorstandstagung vom 27. September 2012. | |
| Um wie viele Fälle es sich bislang handelt und welcher Art die | |
| Regelverstöße sind, teilt Kirste der taz auf Nachfrage nicht mit. Nur so | |
| viel: Zwei nicht richtlinienkonforme Fälle aus Nordrhein-Westfalen, über | |
| die Kirste seinen Mitarbeitern laut Protokoll „mit dem Hinweis auf | |
| Verschwiegenheit“ berichtete, zeigten, so jedenfalls sieht es Kirste, „wie | |
| wirkungsvoll die von der DSO eingeführten Kontrollen der formalen | |
| Voraussetzungen der Hirntoddiagnostik sind“. | |
| Die Verstöße gegen die Richtlinien der Bundesärztekammer seien von | |
| DSO-Mitarbeitern entdeckt und gemeldet worden; eine Organentnahme sei „aus | |
| diesem Grund“ nicht durchgeführt worden. Also alles prima? | |
| Mitnichten. Fälle wie diese – so sie denn zufällig entdeckt werden – hatt… | |
| bislang praktisch keine Konsequenzen: Die hierfür zuständige | |
| Bundesärztekammer nimmt aus eigener Initiative kaum Reformen in Angriff für | |
| mehr Qualitätssicherung bei der Hirntoddiagnostik, besserer Ausbildung der | |
| angehenden Ärzte und einer Reform der Richtlinien, die die Durchführung der | |
| Hirntoddiagnostik derzeit fast jedem Arzt mit ein wenig | |
| Intensivmedizinerfahrung erlaubt. Anfragen der taz hierzu lässt der | |
| Ärztepräsident Frank Ulrich Montgomery unbeantwortet. | |
| ## Medizinern mangelt es an Erfahrung | |
| „In der Hand des Erfahrenen ist die Hirntoddiagnostik eine der sichersten | |
| Diagnostiken in der Medizin“, urteilt der Hannoveraner Neurologe Hermann | |
| Deutschmann. | |
| Doch an genau dieser Erfahrung mangele es vielen Medizinern: Zwischen 2000 | |
| und Ende 2005 wertete Deutschmann als damaliger Leiter eines | |
| DSO-Bereitschaftsteams 224 Hirntodprotokolle aus, die bereits von | |
| Krankenhausärzten unterschrieben waren, als schließlich er und sein Team | |
| konsiliarisch dazu gerufen wurden. „In 70 Fällen, also bei einem Drittel, | |
| war der Hirntod aber fehlerhaft dokumentiert“, sagt Deutschmann. | |
| Häufig handelte es sich um formale oder dokumentarische Fehler; die | |
| Protokolle trugen etwa ein falsches Datum oder es war vergessen worden zu | |
| notieren, bei welchem Blutdruck untersucht worden war. In anderen Fällen | |
| war der Spontanatmungstest nicht korrekt durchgeführt worden, „viele Ärzte | |
| wissen gar nicht, was das ist“, sagt Deutschmann. Mal wurde ein | |
| Null-Linien-EEG diagnostiziert, obwohl noch Ausschläge da waren, mal die | |
| Hirntoddiagnostik bei laufender Schlafmittelgabe durchgeführt – dies kann | |
| einen Ausfall der Hirnfunktionen vortäuschen. „Wir haben diese Dinge dann | |
| korrigiert“, sagt Deutschmann. | |
| Das Problem: Dem Missverständnis geschuldet, die Bereitschaft zur | |
| Organspende werde weiter sinken, sollten Details über ärztliche Unkenntnis | |
| oder Fehlverhalten bekannt werden, findet ein offensiver Umgang mit Fehlern | |
| nicht statt. Die Überwachungskommission bei der Bundesärztekammer, | |
| zuständig für die Untersuchung etwaiger Regelverstöße rund um die | |
| Organspende, reagiert auf Nachfrage zu einzelnen Fällen: mit Schweigen. | |
| Die DSO immerhin führt nach Angaben ihres Vorstands seit etwa zwei Jahren | |
| vor Organentnahmen eine zusätzliche Prüfung durch, um die | |
| Qualitätssicherung der Hirntoddiagnostik zu erhöhen. | |
| ## „Strafrechtliche Konsequenzen verjährt“ | |
| Vorausgegangen waren zwei Hirntoddiagnostiken an Kliniken in | |
| Westdeutschland*, die gegen das Transplantationsgesetz verstießen: In dem | |
| einen Fall lag die Hinrtoddiagnostik zum Zeitpunkt der Organentnahme nicht | |
| vollständig dokumentiert vor. In dem anderen Fall hatten Ärzte nicht die | |
| gesetzlich vorgeschriebene Zeitspanne zwischen den verschiedenen | |
| Untersuchungen abgewartet, bevor sie erneut hätten überprüfen dürfen, ob | |
| sämtliche Funktionen des Gehirns ausgefallen waren (Diese erneute | |
| Untersuchung dient dem Unwiderruflichkeitsnachweis). In beiden Fällen | |
| wurden dennoch Organe entnommen. | |
| Die Überwachungskommission reduzierte die Regelverstöße später in ihrem | |
| Jahresbericht 2010 auf eine „Problematik der Diagnostik und Dokumentation“ | |
| und kam, freilich ausschließlich aufgrund ihrer eigenen Prüfungen, zu dem | |
| Schluss, in dem ersten Fall seien „eventuelle strafrechtliche Konsequenzen | |
| verjährt“ – weswegen sich eine Weitergabe an die Staatsanwaltschaft | |
| offenbar verbot. | |
| In dem Fall der verfrühten Untersuchung immerhin sei „nach Abschluss der | |
| Beratungen die Staatsanwaltschaft eingeschaltet worden“. Doch diese kann, | |
| das sagte ein Sprecher der taz, einen entsprechenden Eingang nicht finden. | |
| Und die DSO? Schiebt den schwarzen Peter der Klinik zu: „Die formale | |
| Prüfung der Hirntoddiagnostik lag seinerzeit noch in der ausschließlichen | |
| Verantwortung des jeweiligen Klinikums, und nicht der DSO.“ Und dann, wie | |
| um doppelte Absolution bemüht: „Der Vollständigkeit halber sei aber darauf | |
| hingewiesen, dass auch nachträgliche Untersuchungen zweifelsfrei ergeben | |
| haben, dass der Spender im Zeitpunkt der Entnahme tot war.“ | |
| *Die Kliniken sowie weitere Daten und Abläufe der dort durchgeführten | |
| Hirntoddiagnostiken sind der taz bekannt, werden aber - mit Rücksicht auf | |
| die Angehörigen und um die Möglichkeit der Rückverfolgung auszuschließen - | |
| nicht publiziert. | |
| 14 Dec 2012 | |
| ## AUTOREN | |
| Heike Haarhoff | |
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