# taz.de -- Risiko Organspende: Aus einem anderen Leben | |
> Christiane Geuer spendete ihrer kranken Mutter eine Niere. Dann wurde sie | |
> selbst krank. Über die Risiken war sie nicht ausreichend informiert | |
> worden. | |
Bild: Sie wollte ihrer Mutter helfen und spendete eine Niere: Christiane Geuer. | |
Fünfzehn Flugzeuge am Himmel. Und sie am Radar, in der Kontrollzentrale der | |
Flugsicherung in Karlsruhe, konzentriert darauf, die Maschinen zu | |
koordinieren, der Flugraum beengt, die Wetterverhältnisse kritisch. Alltag, | |
ihr Berufsalltag über so viele Jahre, aus heutiger Sicht wie aus einem | |
anderen Leben. | |
Ein sonniger Nachmittag in Karlsruhe, Christiane Geuer auf ihrem Balkon, | |
eingewickelt in eine Decke, vor sich eine große Tasse Tee. Mit der | |
chronischen Erschöpfung hat sich ihre Kälteempfindlichkeit verstärkt. Fünf | |
Jahre geht das schon so, und seit bald ebenso langer Zeit versucht sie | |
nachzuweisen, dass nicht das Schicksal sie damals aus dem Job katapultiert | |
hat. Sondern mangelnde ärztliche Aufklärung. Über eine Operation, der sie, | |
hätte sie die tatsächlichen Risiken gekannt, niemals, wie sie sagt, | |
zugestimmt hätte. | |
Eine Niere. Ihre linke Niere, herausoperiert aus ihrem intakten, | |
durchtrainierten, geradezu mit perfekten Laborwerten ausgestatteten Körper. | |
Eine Niere für ihre schwer kranke Mutter im Rheinland, die sonst an die | |
Dialyse gemusst hätte. Denn auf der Warteliste für eines jener raren | |
postmortalen Organe wäre die Mutter noch lange nicht dran gewesen. | |
Christiane Geuer ist im Oktober 2007 28 Jahre alt, kerngesund und fühlt | |
sich gut aufgehoben in der Uniklinik Düsseldorf: „Ich hatte den Glauben, | |
dass die Ärzte, wenn es mich gefährden könnte, diese Operation nicht machen | |
würden.“ | |
## Verheerende Folgen | |
Fünf Jahre später schreibt ihr Anwalt dem Landgericht Düsseldorf in Sachen | |
Geuer gegen das Universitätsklinikum Düsseldorf: „Die Klägerin ist | |
zwischenzeitlich fluguntauglich geschrieben worden und darf ihren Beruf | |
nicht mehr ausüben. Sie hat ihre überdurchschnittliche | |
Konzentrationsfähigkeit aufgrund des Fatigue-Syndroms verloren. | |
Teilweise ging dies so weit, dass die Klägerin nicht einmal mehr in der | |
Lage war, Termine, die ihr noch einen Tag zuvor genannt worden waren, am | |
Folgetage einzuhalten. Sämtliche medizinischen Abklärungen der üblichen | |
Natur (endokrinologisch, psychiatrisch, internistischer sonstiger Art) | |
verliefen negativ. Als einzige mögliche Ursache verbleibt deshalb die | |
Spende als solche.“ | |
Die Spende als solche. Für die Juristen geht es jetzt um Fragen der | |
Haftung. Wegen unzureichender Aufklärung. Wegen Verstoßes gegen das | |
Transplantationsgesetz. Und um Schadenersatz, die Höhe ist noch | |
auszuhandeln. Ein Einzelfall eben. | |
## Das Mikro abgedreht | |
Für Christiane Geuer geht es um Grundsätzliches. Darum, dass Komplikationen | |
nach Lebendspenden keineswegs vernachlässigenswerte Pechsträhnen Einzelner | |
im Promillebereich sind, als die sie von Ärzten gern abgetan werden. „Ich | |
habe nichts dagegen, wenn Menschen ein Organ spenden wollen“, sagt sie. | |
„Aber ich habe etwas gegen die Harmlosigkeit, mit der das propagiert wird.“ | |
Wegen solcher Sätze ist Christiane Geuer nicht gut gelitten bei | |
Nierenärzten, Transplantationsmedizinern und Klinikdirektoren: Alle, die an | |
Organverpflanzungen verdienen oder ihren Patienten helfen wollen, wissen um | |
den Einbruch bei den herkömmlichen Organspenden. Nach den Vorwürfen der | |
Vetternwirtschaft gegen die Deutsche Stiftung Organtransplantation und des | |
Betrugs an den Unikliniken Göt | |
tingen, Regensburg und München ist die Spendebereitschaft gesunken. Die | |
Hoffnung vieler Ärzte richtet sich jetzt auf die Steigerung der | |
Lebendspenden. Zumal deren Erfolgsraten höher sind als die von | |
Organverpflanzungen nach dem Hirntod. Schon jetzt machen die Lebendspenden | |
27,9 Prozent aller Nierenspenden aus. Und dann kommt so eine wie Christiane | |
Geuer. Redegewandt, faktensicher. An den Tagen jedenfalls, die sie nicht | |
erschöpft im Bett zubringt. Neulich, bei einer Veranstaltung in | |
Süddeutschland, wurde ihr das Mikrofon abgedreht. | |
Das Aufklärungsgespräch in Düsseldorf hatte eine Ärztin allein mit ihr | |
geführt. Nach dem Transplantationsgesetz müssen dies zwei unabhängige Ärzte | |
tun: Die Entnahme eines lebenswichtigen Organs bei einem gesunden Menschen | |
ist kein Heileingriff. Die Anwesenheit von zwei Ärzten soll sicherstellen, | |
dass diese objektiv beraten. Allein aufgrund dieses „formellen Verstoßes“ | |
sei die Entnahme als „rechtswidrig durchgeführt“ zu werten, urteilte das | |
Landgericht Düsseldorf im August 2012. In welchem Umfang Anspruch auf | |
Schadenersatz bestehe, bleibe „dem Schlussurteil vorbehalten“. | |
Das aber ist, wenn überhaupt, nur der halbe Sieg. Christiane Geuer führt in | |
ihr Arbeitszimmer, internationale Studien reihen sich an wissenschaftliche | |
Aufsätze, Korrespondenz mit anderen Geschädigten: Was hätten die Ärzte in | |
Düsseldorf bereits 2007 wissen können und ihr folglich sagen müssen? Warum | |
etwa erwähnte niemand das in der Literatur beschriebene Fatigue-Syndrom? | |
Warum wurde nicht auf das Risiko einer Schädigung der verbleibenden | |
Nebenniere – verantwortlich unter anderem für die Adrenalinproduktion – | |
hingewiesen? | |
Warum nannte niemand mögliche Komplikationen bei späteren | |
Schwangerschaften? Und warum kam keiner auf die Idee, anhand eines simplen | |
Gentests bei ihr abzuklären, ob sie die Anlage zur Zystenniere, an der ihre | |
Mutter so schwer erkrankt war, geerbt hat? Inzwischen weiß sie: Sie hat | |
eine mindestens fünfprozentige Wahrscheinlichkeit, selber eines Tages an | |
Zystennieren zu erkranken. Christiane Geuer, die Spenderin, wäre dann | |
selbst auf eine Organspende angewiesen. | |
## Ironie des Schicksals? | |
Für sie ist das keine Ironie des Schicksals. Eher eine Zwangsläufigkeit, zu | |
deren Beweis sie Zahlen gesammelt hat. Zahlen, viele davon erhoben von dem | |
Schweizer Professor Gilbert Thiel. Der leitete 30 Jahre lang die Abteilung | |
Organtransplantation am Universitätsspital Basel und daneben, bis kurz vor | |
seinem Tod Anfang 2012, das Schweizerische Organ-Lebendspender-Register. | |
Thiel, der Pionier: In keinem anderen europäischen Land werden | |
Lebendspender so umfassend untersucht wie in der Schweiz. Die Daten, die | |
Thiel als „Spätkomplikationen zehn Jahre nach der Spende“ klassifizierte, | |
veröffentlichte er nicht mehr selbst. | |
Er überließ sie vor seinem Tod Journalisten von „Report Mainz“. Danach | |
litten zehn Jahre nach der Nierenentnahme 49,1 Prozent der Spender an Herz- | |
oder Gefäßerkrankungen. 47,2 Prozent hatten zu hohen Blutdruck, bei 45,2 | |
Prozent war die Funktion der verbliebenen Niere eingeschränkt. 49,1 | |
Prozent, 47,2 Prozent, 45,2 Prozent: Bald jeder zweite Spender hatte | |
schwerwiegende gesundheitliche Probleme. Und: 2,2 Prozent gaben an, unter | |
Müdigkeit zu leiden – von sich aus; Thiel hatte zunächst gar nicht danach | |
gefragt. | |
An Christiane Geuer, die ihn zum Fatigue-Syndrom befragt hatte, schrieb | |
Thiel in einer E-Mail: „Durch die Entfernung einer Niere wird die | |
Nieren-Funktion nicht halbiert, sondern nimmt nur um rund 30 Prozent ab. | |
Das kann individuell durchaus genügen, um Müdigkeit zu erzeugen. […] Das | |
von Ihnen beschriebene Phänomen ist also keineswegs unbekannt.“ | |
Uwe Heemann, Professor für Nierenkunde am Klinikum rechts der Isar in | |
München, ist so etwas wie der Thiel light der deutschen Nephrologenszene, | |
er betreibt das einzige Lebendspende-Register Deutschlands – auf | |
freiwilliger Basis: Ob und was die Transplantationszentren und die weiter | |
behandelnden Kliniken ihm melden, bleibt ihnen überlassen. „Gil Thiel war | |
ein Freund von mir“, sagt er. „Seine Zahlen sind verlässlich.“ | |
Das Problem: Thiels Erhebung ist mit etwas mehr als 200 Fällen zu klein, | |
als dass sie Verallgemeinerungen zuließe. „Wir bräuchten ein | |
verpflichtendes Register, das Langzeitdaten aus ganz Europa und den USA | |
auswertet“, sagt Heemann. Doch selbst wenn es dieses Register gäbe, wäre es | |
immer noch schwierig, einen Kausalzusammenhang zwischen der Spende und der | |
Erkrankung nachzuweisen. Wer kann schon sagen, ob die Betroffenen nicht | |
auch so an Herz-, Gefäß- und Kreislaufproblemen erkrankt wären? | |
## Verzerrter Vergleich | |
Dazu kommt: Immer noch werden die gesundheitlichen Beeinträchtigungen der | |
Spender mit denen der Normalbevölkerung verglichen. „Das ist eine verzerrte | |
Darstellung“, sagt Heemann. Die Spender waren ja zum Zeitpunkt der | |
Organentnahme viel gesünder als die Durchschnittsbevölkerung – sonst hätte | |
man sie nie als Spender akzeptiert. Man müsste ihre Daten also mit denen | |
einer Kontrollgruppe aus überdurchschnittlich sportlichen Menschen | |
vergleichen, die nicht gespendet haben. Nur so ließe sich feststellen, ob | |
spät auftretende Gesundheitsschäden wirklich Folge der Spende sind. | |
Heemann sagt: „Es ist ein Dilemma. Als Arzt sehe ich meinen Patienten, und | |
ich weiß: Wenn der keine Niere kriegt, dann stirbt er. Das motiviert einen, | |
vielleicht schon mal schneller zu sagen, ja, okay, ich akzeptiere diesen | |
oder jenen Lebendspender, auch wenn vielleicht gewisse Restzweifel | |
bestehen.“ | |
Zumal niemand da ist, der eine Bremse ziehen würde, bei Christiane Geuer | |
nicht, und bei den 795 anderen Menschen nicht, die im vergangenen Jahr zu | |
Lebzeiten eine Niere spendeten. Der Ablauf, sagt Christiane Geuer auf ihrem | |
Balkon in Karlsruhe, sei immer derselbe: Die Spender wollten ihren | |
Angehörigen helfen, und die Ärzte sagten: na klar. „Meine Mutter hätte | |
meine Niere niemals angenommen, wenn sie gewusst hätte, dass ich hinterher | |
krank bin.“ | |
Allein: Im Aufklärungsgespräch kommen solche Dinge selten zur Sprache. Die | |
Ethikkommissionen prüfen bloß die Freiwilligkeit der Spende. Nicht aber, ob | |
diese dem Spender mehr schadet als dem Empfänger nutzt. „Das könnte ein | |
unabhängiger Ombudsman feststellen“, sagt Heemann. | |
Aber den wird es nicht so bald geben. Nicht, solange Menschen wie | |
Christiane Geuer als Einzelfälle gehandelt werden. | |
9 Nov 2012 | |
## AUTOREN | |
Heike Haarhoff | |
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