# taz.de -- Kommentar Organspende: Irrationales Getöse | |
> Die Widerspruchsregelung ist keine Wunderwaffe gegen den Organmangel. | |
> Aber sie kann ein gesellschaftliches Bekenntnis sein. | |
Bild: Ein bisschen weniger Emotion täte der Debatte um Organspenden gut | |
Wer schweigt, stimmt zu. Auf diese Formel lässt sich das Vorhaben von | |
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) zuspitzen, die Spende | |
lebenswichtiger Organe wie Lebern, Herzen oder Nieren [1][neu zu regeln]. | |
Künftig sollen alle Menschen in Deutschland nach ihrem Tod potenzielle | |
Organspender sein – es sei denn, sie hätten dieser Idee zu Lebzeiten aktiv | |
widersprochen. | |
Die Hoffnung, die der Minister mit seinem Plädoyer für eine | |
fraktionsübergreifende Gesetzesinitiative verknüpft: Es könnten mehr Leben | |
gerettet werden, wenn das krasse Missverhältnis von Organbedürftigen und | |
Organspendern ins Lot käme. Auf 10.000 schwerkranke, wartende Patienten | |
kamen im vergangenen Jahr bundesweit 797 Organspender. | |
Im europäischen Vergleich gehört die medizinische Hightechnation | |
Deutschland damit zu den Schlusslichtern. Die Widerspruchsregelung, so | |
Spahn, könnte nun helfen, die Lage spürbar zu verbessern. Aber stimmt das? | |
Richtig ist, dass alle europäischen Länder mit vergleichbaren medizinischen | |
Niveaus, die die Widerspruchsregelung praktizieren, deutlich höhere | |
Spenderzahlen haben als Deutschland. Falsch wäre es allerdings, daraus zu | |
schlussfolgern, es gäbe einen kausalen Zusammenhang zwischen der | |
Widerspruchsregelung und der Zahl der tatsächlich erfolgten Spenden. | |
## Vorbild Spanien | |
Spanien etwa erlebte in den 1980er Jahren trotz einer Widerspruchsregelung | |
eine schwere Krise. Heute ist es das erfolgreichste Organspendeland | |
Europas. Der Grund: Die damalige Regierung betrachtete den Organmangel | |
nicht als schicksalhaft. Sie sorgte für eine straffe, transparente, | |
staatlich kontrollierte Organspende in wenigen hoch spezialisierten | |
Kliniken. | |
Es wurden Stellen für hauptamtliche, gut bezahlte | |
Transplantationsbeauftragte geschaffen. Sie sind bevollmächtigt, bereits in | |
der Notaufnahme nach Patienten mit schwersten Hirnschädigungen – | |
potenziellen Spendern also – Ausschau zu halten und später auf den | |
Intensivstationen darauf zu bestehen, dass die Ärzte vor einem etwaigen | |
Abschalten der Maschinen zwingend eine Hirntoddiagnostik durchführen. Diese | |
Diagnostik wird dem Krankenhaus, ebenso wie die spätere Organentnahme, | |
finanziell angemessen vergütet – auch das ist ein wichtiger Punkt. | |
Ähnlich dürfte es demnächst in Deutschland aussehen – Spahn hat unlängst | |
ein Gesetz auf den Weg gebracht, das sich am spanischen Modell orientiert. | |
Leider wird dieser sinnvolle Schritt in dem irrationalen Getöse um die | |
Widerspruchsregelung derzeit kaum wahrgenommen. Denn seit Spahn sich – als | |
zusätzlichen Baustein zu der geplanten Reform – für die Widerspruchslösung | |
ausgesprochen hat, ertönen emotionale Schlachtrufe, die offenbar | |
unvermeidbar sind, wenn sich in Deutschland ein bioethischer Glaubenskrieg | |
anbahnt. | |
Von einem schwerwiegenden Eingriff in die Freiheitsrechte ist die Rede, vom | |
drohenden Ende der Selbstbestimmung über den Tod hinaus, von einem | |
würdelosen Menschenbild, das den Körper bloß als Ensemble austauschbarer | |
Organe betrachte. | |
## Im Namen der Fairness | |
Es lohnt, einige Gänge herunterzuschalten. Und zu erkennen, dass es gute | |
Gründe gibt, die Widerspruchsregelung für legitim und zumutbar zu halten, | |
ohne sie zur Wunderwaffe zu verklären. | |
Erstens: Eine Gesellschaft, die sich zum Ziel gesetzt hat, möglichst viele | |
Leben mit Spenderorganen zu retten, muss sich überlegen, wie sie dieses | |
Ziel erreichen kann. Da ist es im Namen der Fairness und Solidarität nur | |
folgerichtig zu argumentieren: Weil jeder im Krankheitsfall ein | |
potenzieller Organempfänger ist, ist jeder auch ein potenzieller | |
Organspender. Nichts anderes ist die Widerspruchsregelung: ein Zusammenhalt | |
stiftendes gesellschaftliches Bekenntnis. | |
Zweitens: Ja, es gibt ein Recht auf Nichtverhalten. Doch entgegen weit | |
verbreiteter Skepsis rüttelt die Widerspruchsregelung gar nicht an diesem | |
Recht. Wer passiv bleibt, wird nicht sanktioniert. In anderen Fällen werten | |
wir Schweigen übrigens auch als stilles Einverständnis: Beim Erbrecht etwa | |
finden die meisten es in Ordnung, dass in der Regel die nächsten | |
Angehörigen erben. Wer das nicht will, muss zu Lebzeiten aktiv werden, etwa | |
per Testament. Allen anderen, die sich nicht verhalten haben, wird ihr | |
Nichtstun später als Zustimmung zur Regel ausgelegt. | |
Die Widerspruchsregelung zur Organspende, wie Spahn sie vorschlägt, ginge | |
indes nicht einmal so weit: Hier würde bei jedem möglichen Spender, der | |
sich zu Lebzeiten nicht geäußert hätte, die Familie zu Rate gezogen. Und: | |
Ihr Veto wäre ausschlaggebend. | |
## Weder Teufelswerk noch Hexerei | |
Drittens: Auch mit einer Widerspruchsregelung wäre niemand verpflichtet, | |
seine Organe zu spenden. Im Gegenteil. An der Freiwilligkeit der Spende | |
ändert sich nichts. Was sich änderte, wäre lediglich das Verfahren: Derzeit | |
muss, wer zur Gemeinschaft der Spender gehören will, zu Lebzeiten aktiv | |
werden, um beizutreten. | |
Künftig wäre es umgekehrt: Aktiv werden müsste nur, wer austreten will. | |
Einen problematischen Grundrechtseingriff wird man darin übrigens schon | |
deshalb nicht sehen können, weil fast alle europäischen Nachbarländer die | |
Widerspruchsregelung seit Langem und juristisch unangefochten praktizieren. | |
Man könnte erkennen, dass die Widerspruchsregelung weder Teufelswerk noch | |
Hexerei ist. Man könnte erkennen, dass uns der Organmangel, egal mit | |
welcher Regelung, weiterhin beschäftigen wird. Das liegt schon daran, dass | |
die Organspende in Deutschland ausschließlich im Fall des unwiderruflichen | |
Ausfalls sämtlicher Hirnfunktionen erlaubt ist – und nicht auch nach dem | |
Herz-Kreislauf-Stillstand wie in vielen anderen Ländern. Dies schränkt den | |
Kreis möglicher Spender stark ein: Rund 930.000 Menschen sterben bei uns | |
jedes Jahr, nur etwa 1.200 von ihnen werden von den Krankenhäusern als | |
sogenannte Hirntote erkannt und gemeldet. | |
Das ist die Statistik. Aber was sind schon Zahlen, wenn es um Emotionen | |
geht? | |
23 Sep 2018 | |
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## AUTOREN | |
Heike Haarhoff | |
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