# taz.de -- Lebendorganspende in Indien: Eine Leber für meinen Vater | |
> Unsere Autorin möchte ihrem kranken Vater einen Teil ihrer Leber abgeben. | |
> Sie findet heraus: Es sind fast nur Frauen, die Organe spenden. Warum? | |
Bild: Bei Lebendorganspenden gibt es nicht nur in Indien ein großes Geschlecht… | |
Vor drei Jahren fiel mein Vater in ein Koma, 72 Stunden lang. Die Diagnose: | |
hepatische Enzephalopathie, eine schwere Leber-Hirn-Störung. Sein Zustand | |
besserte sich dann wieder, man entließ ihn nach Hause. | |
Im vergangenen Frühjahr verschlechterte sich sein Zustand erneut, zwischen | |
Februar und Mai kam mein Vater vier Mal ins Krankenhaus. Meine Mutter und | |
ich fürchteten, ihn zu verlieren. | |
Das Einzige, was meinem Vater hätte helfen können, wäre eine | |
Lebertransplantation gewesen. Ich fand mich als potenzielle Spenderin für | |
ihn wieder. Ich bin sein einziges Kind und unsere Blutgruppen sind | |
kompatibel – er hat A+ , ich 0+. | |
Während meine Mutter und ich ihn zu endlosen Arztterminen brachten, | |
unterzog ich mich einer Transplantationsabklärung. Eine Reihe von Tests – | |
unter anderem EKGs, Blutdruckmessungen, Ultraschall – sollte klären, ob ich | |
gesund genug wäre, um zu spenden. | |
## Eine Frage des Chirurgen | |
Eines Morgens, als ich mit meinen Testberichten ins Krankenhaus von | |
Neu-Delhi kam, winkte mich der Transplantationschirurg beiseite und fragte: | |
„Hat jemand Druck auf Sie ausgeübt, damit Sie spenden?“ | |
„Nein“, sagte ich. „Warum?“ | |
„Die Leute fragen Frauen nicht, ob sie spenden wollen“, antwortete er. | |
„Sollte das der Fall sein, kann ich Ihnen ein Attest schreiben, damit Sie | |
nicht als Spenderin infrage kommen.“ | |
Ich blickte mich um – auf den Fluren des Krankenhauses sah ich Mütter, | |
Schwestern, Töchter, Schwiegertöchter und Schwägerinnen, alle hatten | |
bereits gespendet oder würden dies bald tun. Es waren so wenige Männer | |
hier. Ich war ziemlich verblüfft. | |
Ich fragte mich: Spenden denn keine Männer? Oder war das bloß ein | |
zufälliger Eindruck? Was hat ein Chirurg erlebt, der so etwas zu einer | |
Patientin sagt? Ein paar Tage später begann ich zu recherchieren. Ich | |
nutzte das indische Auskunftsrecht, das es Bürgern ermöglicht, fast jede | |
Information von der Regierung zu verlangen. Außerdem stellte ich bei | |
mehreren privaten Krankenhäusern Anfragen. Fünf davon antworteten. Das | |
Ergebnis: Zwischen 2008 und 2017 kamen 74 Prozent der Nierenspenden von | |
Frauen. Außerdem 60,5 Prozent der Leberspenden im Zeitraum zwischen 2009 | |
und 2018. | |
## Ein Zentrum für Lebenorganspenden | |
Indien ist ein Zentrum für Lebendorganspenden. Dabei wird dem Spender unter | |
Narkose eine Niere oder ein Teil der Leber entnommen und dem Empfänger | |
eingesetzt. Etwa 90 Prozent aller transplantierten Organe in Indien stammen | |
von lebenden Spendern, sagt Vinay Kumaran, Chirurg am SG Shalby Hospital im | |
westindischen Ahmedabad. Anders sieht es in westlichen Ländern wie | |
Deutschland aus, hier stammt ein Großteil der Organe von Menschen, bei | |
denen der Hirntod festgestellt wurde. | |
Die hohe indische Quote ist aus der Not geboren. Die Spendenrate für Organe | |
von Verstorbenen in Indien ist entmutigend gering. C. E. Karunakaran von | |
der gemeinnützigen Organisation „National Network of Organ Sharing“ | |
vermutet, dass auf zwei Millionen Einwohner ein Organspender kommt. Zum | |
Vergleich: In Spanien, dem Land mit der höchsten Quote, kommen auf eine | |
Million Einwohner 47 Spender. | |
In Spanien läuft, wenn jemand stirbt, eine gut geschmierte Maschinerie an. | |
Es gibt einen Aktionsplan für Kliniken, der hilft, potentielle Organspender | |
zu finden. Es gibt Vorgaben, wie Angehörige benachrichtigt werden sollen, | |
Richtlinien, wie Organe entnommen und aufbewahrt werden sollen. Die Körper | |
werden zwischen Hirntod und Spende auf der Intensivstation überwacht. | |
## Keine Widerspruchslösung und viele Bedenken | |
In Indien fehlt es an der erforderlichen Infrastruktur. Der Staat fördert | |
die Organspende nicht. Anders als Spanien hat Indien kein sogenanntes | |
„Opt-out-Modell“, keine Widerspruchslösung, bei der man ausdrücklich | |
angeben muss, wenn man seine Organe nicht spenden will. Anders als in | |
Deutschland haben nur wenige Bundesstaaten Berater, die Angehörigen von | |
Unfallopfern eine Organspende vorschlagen. Und wie in vielen Teilen der | |
Welt gibt es in Indien Vorurteile und Bedenken gegenüber der Organspende. | |
Viele Inder sind grundsätzlich misstrauisch, was ihr Gesundheitssystem | |
angeht. | |
Es gibt in Indien illegalen Handel mit den Organen von Männern und Frauen, | |
so wie in vielen anderen Ländern auch. Doch darum geht es in dieser | |
Geschichte nicht. Es geht um eine Schieflage zwischen den Geschlechtern. Es | |
geht um den Druck, offenen und verdeckten Druck, dem Frauen hier ausgesetzt | |
sind, wenn ein Onkel, Vater oder Schwiegervater ein Organ benötigt. Es ist | |
die Art von Druck, die einen Chirurgen dazu bringt, mich vor einer Spende | |
retten zu wollen, weil er nicht darauf vertrauen kann, dass eine Frau | |
selbst entscheiden darf. | |
Eine Lebendspende ist eine bemerkenswerte Sache, eine große medizinische | |
Leistung. Zwei getrennte Operationen müssen wie die Aufführung eines | |
Orchesters koordiniert werden. Das Spenderorgan wird entnommen, das kranke | |
Organ des Empfängers entfernt und das gesunde Organ in seinen Körper | |
überführt, während gleichzeitig tausend andere Dinge überprüft und richtig | |
gemacht werden müssen. Der Spender unterzieht sich einer stundenlangen | |
Operation ohne Nutzen für sich selbst, um dem Empfänger ein lebensrettendes | |
Organ zu schenken. Die Leber regeneriert sich selbst, Menschen können 70 | |
Prozent davon spenden. Und eine Niere kann die Arbeit von zweien | |
übernehmen. | |
Auch in anderen Ländern sind die Mehrheit der Organspender Frauen. In den | |
Vereinigten Staaten, wo die meisten Lebendorgantransplantationen | |
durchgeführt werden, waren zwischen 2008 und 2017 62 Prozent der | |
Nierenspender und 53 Prozent der Leberspender weiblich. In Deutschland | |
stammten 2017 62 Prozent der Nierenlebendspenden und 57 Prozent der | |
Leberlebendspenden von Frauen. | |
## Frauenarbeit ist oft unbezahlt | |
Doch in Indien liegen die Dinge anders. Der Index der | |
geschlechtsspezifischen Entwicklung der Vereinten Nationen misst, wie | |
gleichberechtigt Frauen und Männer sind. Indien lag dort zuletzt auf Platz | |
125 von 159. Die Erwerbsquote bei Frauen liegt bei einem Viertel. Dafür | |
verbringen sie nach Angaben der Internationalen Arbeitsorganisation im | |
Durchschnitt fast fünf Stunden mit unbezahlter Arbeit – Männer ganze 31 | |
Minuten. | |
Einer Studie zufolge geben indische Familien für die Behandlung schwerer | |
Krankheiten für einen Mann im Schnitt 10.165 Rupien aus, für eine Frau | |
7.383 Rupien (umgerechnet etwa 156 zu 113 US-Dollar). Mit anderen Worten: | |
Das Leben einer Frau ist 28 Prozent weniger wert. | |
Ich wuchs in einer gebildeten Mittelklassefamilie in Kalkutta auf. Niemand | |
übte Druck auf mich aus, meinem Vater einen Teil meiner Leber zu spenden. | |
Im Gegenteil – meine Mutter bestand darauf, dass ich nicht spende. Sie | |
wollte keine große Narbe auf meinem unverheirateten Bauch sehen. Wenn es um | |
Ehen geht, gibt es in Indien eine ökonomische Logik, der man sich nur | |
schwer entziehen kann, selbst in einer wohlhabenden Familie wie meiner. | |
Doch als potenzielle Organspenderin steht man auch so unter einem seltsamen | |
Druck. Man weiß, dass man mit seiner Entscheidung ein Leben retten kann. | |
Mein kranker Vater war wie ein Kind – er wanderte ziellos umher, sein | |
Verstand getrübt von seiner kranken Leber. Ich wollte ihn festhalten. | |
Auf der anderen Seite waren da die Risiken. Einer von 200 Leberspendern | |
stirbt aufgrund der Operation. Das ist eine weltweite Statistik. Die Quote | |
in Indien ist nicht bekannt, weil private Krankenhäuser keine Daten über | |
Transplantationen veröffentlichen, schon gar nicht über Todesfälle von | |
Spendern. Doch zwei Transplantationsärzte sagten mir, dass die Todesrate in | |
Indien höher ist als der globale Durchschnitt. Es gab keine Möglichkeit, | |
dies zu überprüfen. | |
## Irrationale Gedanken | |
Was, wenn ich nach der Anästhesie nicht mehr aufwachte? Was, wenn ich etwas | |
in Gang setzte, dessen möglicherweise negative Folgen ich nicht wieder | |
rückgängig machen konnte? | |
Das Gesundheitssystem behandelt Organspender mit ungewöhnlichem Respekt: | |
Laboranten zogen mich in der Warteschlange vor und gratulierten mir zu | |
meinem Mut. Ärzte lobten mich und präsentierten mich anderen Patienten als | |
leuchtendes Beispiel. Aber ich fühlte mich wie eine Schwindlerin. Immer | |
wieder merkte ich, wie ich in Gedanken zu den ein bis zwei Prozent | |
zurückkehrte, die bei der Operation gestorben waren. | |
Ich dachte an eine Spenderin, die drei Jahre nach der Operation bei einem | |
Verkehrsunfall ums Leben gekommen war. Der Unfall hatte nichts mit ihrer | |
Operation zu tun gehabt, ich hatte sie nie getroffen, aber ich kannte ihren | |
Vater, den sie mit ihrer Spende gerettet hatte. Ich dachte oft an das tote | |
Mädchen. Was, wenn auch ich einen tragischen Unfall hätte? Solche | |
irrationalen Gedanken hatte ich viele. | |
Was sagt man über eine Tochter, die nicht an den nahenden Tod des Vaters | |
denkt, sondern an die Dinge, für die sie bisher im Leben keine Zeit gehabt | |
hat? Was tut man, wenn man merkt, dass man selbst diese Tochter ist? | |
## Drei Brüder wollen nicht spenden | |
Ich wollte nicht, dass meine Mutter eine Lebertransplantation durchmachen | |
muss. Sie ist gut 20 Jahre älter als ich. Eine Lebertransplantation dauert | |
neun bis zwölf Stunden, manchmal länger, sie hinterlässt eine 30 Zentimeter | |
lange L-förmige Narbe am Bauch. Abgesehen vom Sterberisiko kann es zu | |
Komplikation kommen, zum Beispiel zum Verlust von Gallenflüssigkeit. Und es | |
dauert mindestens drei Monate, bis man sich von der Operation erholt hat. | |
Meine Mutter würde dafür sicher noch länger brauchen, länger als ich | |
jedenfalls. | |
In Indien dürfen nahe Verwandte oder Ehepartner Organe spenden, | |
vorausgesetzt, sie werden in medizinischen Tests als geeignet befunden. Das | |
Gesetz erlaubt das unter der Auflage, dass keine kommerziellen Interessen | |
bestehen. Spender und Empfänger müssen ihre Beziehung und emotionale Nähe | |
mithilfe von Dokumenten und Fotos vor einem Ethikkomitee nachweisen. | |
Dieser Prozess ist für nahe Verwandte einfacher. Manchmal wird eine Ehefrau | |
strenger kontrolliert, um auszuschließen, dass sie keine Betrügerin ist. | |
Aber auch Nicht-Verwandte werden von den Komitees als Spender zugelassen, | |
wenn sie überzeugend darlegen, dass die Spende aus „Gründen der Liebe und | |
Zuneigung“ erfolgt. | |
Es ist also vollkommen legitim, dass Schwiegertöchter und Schwägerinnen | |
Organe spenden. „Die Frage ist nur: Spenden Schwiegersöhne und Schwäger | |
ebenso?“, sagt Aabha Nagral. Sie ist Gastroenterologin und hat sich an zwei | |
Krankenhäusern in Mumbai auf Lebertransplantationen spezialisiert. | |
Einmal riet Nagral einem Patienten zur Lebertransplantation. Er war | |
beunruhigt, aber er sagte ihr, er habe drei Brüder. Er war zuversichtlich, | |
einer würde schon als Spender geeignet sein und sich dazu bereit erklären. | |
Doch bei jeder Nachuntersuchung berichtete er seiner Ärztin, dass wieder | |
ein Bruder abgelehnt hatte. Am Ende spendete jemand anderes: die Schwester | |
seiner Frau. | |
„Das ist keine schlechte Sache. Das Leben eines Menschen ist gerettet. Aber | |
passiert das auch andersherum? Nicht, dass das nie vorkommt, aber es ist | |
die Ausnahme. Selbst Ehemänner spenden ihren Frauen nur selten einen Teil | |
ihrer Leber“, sagt Nagral. | |
## Frauen gelten als billigere Spender | |
Warum spenden Frauen öfter als Männer? Ärzte geben meist einen | |
wirtschaftlichen Grund an. Männer arbeiten und verdienen das Geld, Frauen | |
verrichten oft die unbezahlte Care-Arbeit. Wenn Frauen doch arbeiten, | |
werden sie schlechter bezahlt – nach einem Bericht der Internationalen | |
Arbeitsorganisation 30 Prozent schlechter. In dieser Logik ist ein Mann, | |
der nach einer Operation monatelang ausfällt, teuer. Und eine Frau ein | |
billigerer Organspender. | |
„Viele Frauen kommen zu mir, um sich für Nierentransplantationen | |
untersuchen zu lassen. Fast alle von ihnen sind Spenderinnen“, sagt Puneet | |
Bedi, Gynäkologe an einer Klinik in Neu-Delhi, die zu den wichtigsten | |
Nierentransplantationszentren Indiens zählt. Bedi muss die gynäkologische | |
Eignung von Frauen bewerten, bevor sie für die Transplantation zugelassen | |
werden. „Unter den Empfängern sind sehr wenige Frauen. Das ist wirklich | |
auffällig.“ | |
Betrachtet man nicht nur die Daten der Spender, sondern auch der Empfänger, | |
verstärkt sich das Geschlechterungleichgewicht noch. Lediglich 19 Prozent | |
der Nierenempfänger und 24 Prozent der Leberempfänger in Indien sind | |
Frauen. | |
Prakash Saindane ist Transplantationskoordinator am Apollo Hospital in Navi | |
Mumbai. Er erzählt, wie er 2017 mit seinem Team Geld für die | |
Lebertransplantation eines zweijährigen Mädchens sammelte. Im November | |
stand das Geld bereit, der Vater des Mädchens wurde untersucht und als | |
Spender für geeignet befunden. | |
„Die Transplantation fand im Juni 2018 statt, acht Monate nachdem das Geld | |
beisammen war. Warum?“, fragt Saindane. Und gibt selbst die Antwort: „Die | |
Mutter war schwanger gewesen. Der Vater brachte sie dazu, die | |
Schwangerschaft zu beenden. Dann wartete er, bis seine Frau sich von der | |
Abtreibung erholt hatte, um einen Teil ihrer Leber zu spenden. Er hat uns | |
das alles nie erzählt. Ich habe es später erfahren. Ich glaube, die Eltern | |
des Vaters sagten ihm, dass er die Operation nicht für ein Mädchen | |
riskieren sollte. Dass er noch jung sei. Dass das Paar sich um andere | |
Kinder bemühen könne.“ | |
## Familien scheuen bei kranken Mädchen die Kosten | |
„Ich habe bemerkt, dass die Eltern vieler junger Mädchen mit den | |
Vorbereitungstests beginnen, mit dem Papierkram in meinem Büro – und dann | |
tauchen sie nicht mehr auf“, sagt Vibhuti Sharma, Koordinator an einem | |
Transplantationszentrum in Neu-Delhi. „Geld für eine Transplantation kann | |
man von Wohltätigkeitsorganisationen bekommen, oder man kann Spenden | |
sammeln. Das Problem sind die Kosten der Immunsuppression. Organempfänger | |
müssen ein Leben lang Medikamente einnehmen, damit ihr Körper das neue | |
Organ nicht abstößt. Die Realität ist, dass vielen indischen Familien ein | |
Mädchen eine solche Investition nicht wert ist.“ | |
Während der Recherche fiel mir eine interessante Sache auf: Alle | |
Transplantations-Koordinatoren, mit denen ich sprach, sahen das | |
Geschlechterungleichgewicht bei Transplantationen als Problem. Bei den | |
Ärzten war es anders. Viele von ihnen sagten mir, dass Frauen spenden, weil | |
sie von Natur aus fürsorglich sind. Einige von ihnen erklärten, dass Frauen | |
in der Regel gesünder seien als Männer im gleichen Alter, daher als Spender | |
besser taugten und selbst seltener Organe benötigten. | |
Vielleicht liegt diese unterschiedliche Wahrnehmung in der Art der Arbeit | |
von Ärzten und Transplantations-Koordinatoren. Die Koordinatoren bekommen | |
viel mehr von den menschlichen Dramen mit, die die | |
Transplantations-Chirurgie mit sich bringt. Ärzte in der Regel nicht. | |
## Verrottendes Fleisch auf dem Heiratsmarkt | |
Dass meine Mutter vehement dagegen war, dass ich einen Teil meiner Leber | |
spendete, hatte auch damit zu tun, dass sie in einer ökonomischen Logik | |
dachte. Eine unverheiratete Tochter in den Dreißigern ist eine Last, eine | |
peinliche soziale Last, selbst wenn das Geld für die Familie keine große | |
Rolle spielt. Und eine Tochter in den Dreißigern mit einer über 35 | |
Zentimeter langen Narbe auf dem Bauch ist auf dem Heiratsmarkt so etwas wie | |
verrottendes Fleisch. | |
Ich hatte so etwas Ähnliches schon mal erlebt, in meinen späten Zwanzigern, | |
als in der indischen Manier der arrangierten Ehe ein potenzieller Partner | |
an meine Eltern herangetreten war. Ich galt als wirklich guter Fang, meine | |
künftigen Schwiegereltern fanden es toll, sich mit mir zu unterhalten und | |
mich zum Essen auszuführen. | |
Bis zu jenem Tag, an dem meine Mutter erwähnte, dass ich nur einen statt | |
zwei Eierstöcke habe. In meinen frühen Zwanzigern hatte eine riesige Zyste | |
die Blutversorgung meiner Eierstöcke so abgeklemmt, dass in einem Eierstock | |
Wundbrand entstanden war. Er musste entfernt werden, zusammen mit der | |
Zyste. Als meine zukünftige Schwiegermutter das hörte, sagte sie meiner | |
Mutter, dass wir das Vertrauen ihrer Familie missbraucht hätten. Wir haben | |
nie wieder von ihnen gehört. | |
0,5 Prozent Todeswahrscheinlichkeit bei der OP – diese Zahl krallte sich in | |
meinem Geist fest und drängte sich immer mehr in den Vordergrund. Immer | |
wieder dachte ich an das Mädchen, das drei Jahre nach ihrer Leberspende | |
gestorben war. Meine Gedanken wurden immer irrationaler, und ich konnte mit | |
niemandem reden. Ich schämte mich. | |
Am Ende spendete meine Mutter einen Teil ihrer Leber, weil ich aus Angst | |
ausgestiegen war. Sie war zufrieden und scheinbar frei von Angst. Nach der | |
Operation geschah etwas Sonderbares: Meine Mutter zeigt seitdem die große | |
L-förmige Narbe auf ihrem Bauch mit einer Leichtigkeit, die ich von ihr | |
nicht kannte. Mit einem Stolz auf ihren Körper, den sie zuvor nicht hatte. | |
13 Feb 2019 | |
## AUTOREN | |
Sohini C | |
Sohini C. | |
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