| # taz.de -- Transplantationen in den neuen 20ern: Die Fremde in mir | |
| > Unsere Autorin sieht, weil eine andere nicht mehr sehen kann. Von einer | |
| > neuen Hornhaut und einer Gesellschaft, die blind für die Forschung ist. | |
| Bild: Das Transplantat einer Augenhornhaut in einem Labor | |
| Beim Versuch zu beschreiben, wie ich sehe, taucht eine zweite Person auf. | |
| Denn sie hat mir etwas gegeben, das mich schützt. | |
| „Ich sehe was, was du nicht siehst“, sage ich zu ihr, aber ich spreche ins | |
| Leere, denn ich kenne sie nicht. | |
| „Ich sehe was, was sie nicht sieht“, versuche ich es noch mal. Nur, das | |
| stimmt auch nicht. Denn ob sie sehen kann oder nicht, ist bei einer Toten | |
| eine Frage des Glaubens. | |
| „Ich sehe, weil sie nicht mehr sieht.“ Ja, so könnte es gehen. | |
| Ich will über mein Sehen schreiben: Dass ich sehe, weil sie gesehen hat. | |
| Dass Sehen und Nichtsehen jetzt eins ist. Dass ich durch ihre Augen sehe. | |
| Genau genommen durch ihr linkes. Genau genommen nur durch eine dünne | |
| Membran ihres linken Auges, durch die hinterste Schicht ihrer Hornhaut, die | |
| mir transplantiert wurde, weil meine sich aufgelöst hatte und alles | |
| überblendet war. Seither bin ich einer Person nahe. Etwas von ihr lebt in | |
| mir. Am Ende ihres Blickes ist mein Blick. | |
| ## „Ich bin ihr dankbar“ | |
| Und ich will darüber schreiben, von welcher Last wir, deren Augen krank | |
| sind, befreit wären, wenn es, dank Fortschritt, dank Aufbruch, die | |
| künstliche Hornhaut gäbe: von der Last der anderen nämlich. | |
| Ich schreibe, dass ich nichts weiß von der Fremden in mir. Weshalb dann | |
| nenne ich sie sie? Ich tue es, weil mir etwas doch bekannt ist: dass es | |
| eine Frau ist, deren Hornhaut mir eingepflanzt wurde. Ein-ge-pflanzt? Was | |
| für ein schöner Gedanke. | |
| Gerade aus der Narkose aufwachend, frage ich den Arzt, durch wessen Auge | |
| ich nun sehe. Er wisse nur, es sei eine Frau. Das beruhigt mich, denn ich | |
| gebe mich lieber einer Frau hin, ich schmelze durch sie, wo verschmelzen | |
| nicht möglich ist. „Ich bin ihr dankbar“, sage ich, als noch alles neblig | |
| ist, und der Arzt sagt, dass er das schön finde, denn die meisten kümmere | |
| es wenig, woher das Lebendige käme, die meisten dächten, „wir haben die | |
| Hornhäute im Schrank“. | |
| Hornhäute sind wertvolle Ersatzteile. Kein Gewebe wird so oft | |
| transplantiert. 8.000 Mal im Jahr in Deutschland. Mehr würden gebraucht; | |
| aber es gibt nicht genug Leute, die bereit sind zu spenden. | |
| Hornhäute kommen in der Regel als Paar. Sie sind zerlegbar. Jede Hornhaut | |
| besteht aus fünf Schichten. Weil nicht durchblutet, halten sie länger. Weil | |
| nicht durchblutet, kann das Gewebe den Toten bis zu drei Tagen nach ihrem | |
| Ableben entnommen werden. Bei Organspenden hingegen werden diese entnommen, | |
| wenn der Mensch hirntot ist. Weil nicht durchblutet, können auch alte Leute | |
| Hornhäute spenden. Oder Krebskranke. Hatte die andere in mir Krebs? Denn | |
| das sagte der Arzt noch, dass sie jünger gewesen sei als ich. Ihr junges | |
| Auge gebrochen. | |
| Lange hat es gedauert, bis mein Auge bereit war für sie. Alles war | |
| überblendet. Als wäre ich mit ihr ins Nichtsehende selbst gegangen. Lange | |
| hat es gedauert, bis ihre Hornhautmembran mit meiner verwachsen ist. Als | |
| wehre sich mein Körper mit dem, was ihr Eigenes war und nun mein Fremdes | |
| ist, eins zu werden. Jetzt, ein Jahr später, gibt es immer noch Tage, an | |
| denen sich das Auge anfühlt, als gehöre es nicht zu mir. So mahnt sie mich, | |
| dass ich sehe, was sie nicht sieht. So mahnt sie mich, sie nicht zu | |
| vergessen. So erinnert sie mich daran, dass ihr Sehen ein anderes war und | |
| dass auch sie keine Wahl hatte, mit wem sie verschmolzen wird. | |
| Es ist die Sehnsucht zu erkennen: Mein eigenes Sehen ist blinder Fleck. | |
| Eine andere Sicht ist eine andere Wahrheit. Ihre? Nein, ihre nicht. Ich | |
| darf nicht wissen, wen sie geliebt hat. Ich darf nicht wissen, welche | |
| Sprache sie sprach. Ich darf nicht wissen, wie ihr Gott hieß. Ich darf | |
| nicht wissen, wo ihr Grab ist. Ich darf nicht wissen, ob ich sie geliebt | |
| hätte, obwohl sie mit mir nun verschmolzen ist. Würde man mich klonen, | |
| versehentlich aber ihre Zelle aus meinem Auge nehmen, es wäre ihr | |
| genetischer Zwilling nicht meiner. | |
| Es ist irrational. Die andere in mir ist zu meinem Unbewussten geworden. | |
| Sie ist mein „andalusischer Hund“. Der taucht in dem Film von Buñuel und | |
| Dalí aus den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts auf. Alles ist Traum. | |
| Träumend sehe ich, was die andere nicht sah. Es ist das linke Auge, durch | |
| das das Fremde in mich gekommen ist. Wie auch das Rasiermesser dem | |
| andalusischen Hund (oder ist es eine Frau?) im Film durch das linke Auge | |
| fährt. | |
| Im Film, aber auch in der Sehnsucht der Menschen in den 20er Jahren des | |
| vergangenen Jahrhunderts, löst sich der Mensch aus den Zwängen sozialer | |
| Korsette, löst sich aus allen Zusammenhängen. Der Mensch, nach | |
| Individualität strebend, der Mensch, dem Technik zur Freiheit helfen soll, | |
| hat nun aber, dank des Siegeszugs der Psychoanalyse, das Unbewusste als | |
| Gefährten. Das wird er nicht mehr los. Wo Realität ist, kann Traum, kann | |
| Surrealität sein. | |
| Aber ach, die Technik soll es auch in den neuen 20er Jahren, die nun | |
| beginnen, richten. Hornhäute, künstlich gezüchtet, aus Hundezellen, aus | |
| Schweineaugen, aus Fischschuppen, aus Knorpel, aus Stammzellen, aus | |
| Kunststoff, aus Was-weiß-ich sollen die Spenden von Verstorbenen ersetzen. | |
| Bloß nicht das fremde Ich in sich weiter tragen, bloß nicht gebunden sein | |
| an andere. Denn das widerstrebt der seit hundert Jahren ersehnten | |
| Individualität. | |
| ## „Wozu dann noch Wissenschaft“ | |
| Zum Ton, den ich bisher anschlage, passt nicht, was nun kommt. Denn aus der | |
| Hornhaut, gezüchtet aus sich selbst, wird noch lange nichts, sagt der | |
| Biologe Olaf Hellwinkel. Er stellt, was die Fremde und mich verbindet, vom | |
| Kopf auf die Füße. Ihm geht es nicht ums Sie und Ich, ihm geht es ums Wir. | |
| Um den gesellschaftlichen Kontext hierzulande – der ist erfolgsorientiert | |
| und sucht nicht nach Liebe. | |
| Hellwinkel leitet die [1][Lions Hornhautbank im Universitätsklinikum | |
| Hamburg-Eppendorf]. Schon diese Bezeichnung deutet auf kalte Ökonomie: Der | |
| Lions-Club sponsert, weil die Einrichtung sonst unterfinanziert wäre. Und | |
| die Hornhäute, die hier gelagert werden, sind wie Schätze einer Bank. | |
| Hellwinkel läuft unruhig in seinem Büro hin und her. Er kann, er will nicht | |
| auf dem Stuhl sitzen, zu viel liege im Argen. Klimawandel, die neuen Nazis, | |
| die Zukunft der EU treiben ihn um, und vor allem die Abwertung der | |
| Wissenschaft. Momentan sehe er nur Stillstand und nichts von einem | |
| 20er-Jahre-Aufbruch. „Gut validierte wissenschaftliche Daten werden | |
| politisch ignoriert. Der Wert wissenschaftlicher Erkenntnis wird von der | |
| Politik in Frage gestellt. Diese Daten dürfen nicht stimmen, ist die | |
| Haltung“, sagt er. Fatal sei das. „Wozu dann noch Wissenschaft?“ | |
| Ein Land, das auf sein intellektuelles Kapital angewiesen sei, finanziert | |
| die Forschenden nicht vernünftig, lasse viele in prekären Verhältnissen | |
| schmoren. Auch er müsse Drittmittel einwerben, um die Forschung an den | |
| Hornhäuten weiterzutreiben. Um irgendwann nicht mehr auf Gewebespenden | |
| angewiesen zu sein. | |
| In der Hornhautbank, der Hellwinkel vorsteht, werden die eingehenden | |
| Hornhäute untersucht, präpariert, zerlegt, mikrobiologisch sterilisiert, | |
| dokumentiert und denen zugeführt, die eine Transplantation brauchen. Als | |
| Wissenschaftler aber wolle er forschen und lehren, und ein | |
| Universitätsklinikum müsse das leisten. Allein, seine Arbeitszeit werde von | |
| bürokratischen Anforderungen fast aufgefressen. | |
| Die Wissenschaft werde nicht adäquat unterstützt, damit bliebe man noch | |
| lange auf Gewebespenden angewiesen. Gleichzeitig werde die Bereitschaft zur | |
| Spende nicht gefördert. Es gebe keine zentrale Erfassung möglicher | |
| Gewebespender. Er müsse als Leiter der Hornhautbank gemeinsam mit | |
| Rechtsmedizinern Netzwerke zu anderen Kliniken aufbauen, um Gewebespenden | |
| zu erhalten. „Dieser Kreislauf ist absurd“, sagt er, steht auf, geht die | |
| paar Schritte bis zur Tür und wieder zurück. | |
| ## Überraschend, wie klein die Hornhaut ist | |
| „Zu forschen gibt es genug“, sagt er. Zu vieles wisse man noch nicht, wenn | |
| es um die Hornhautmorphologie gehe. „In der Wissenschaft steht man immer am | |
| Anfang.“ Unklar etwa sei, wie die Krümmung in die Hornhaut komme. Das müsse | |
| er beim Versuch, Hornhäute aus Hornhautzellen zu züchten, aber wissen, | |
| damit seine Vision funktioniert: Die nämlich, Zellen von Hornhautresten, | |
| die bei einer Transplantation nicht gebraucht werden, zur Zellteilung | |
| anzuregen und in einen neuen künstlichen Verbund zu bringen. Auch würde er | |
| gerne die innere Schicht der Hornhaut, die oft transplantiert wird, wie bei | |
| mir, so verändern, dass sie sich schneller mit der äußeren Schicht | |
| verbindet. | |
| Eingepackt in sterile Kleidung zeigt er den Raum, in dem die gespendeten | |
| Hornhäute in einer pinkfarbenen Flüssigkeit im Brutschrank lagern. In ihm | |
| wird das Körperinnere simuliert bei 37 Grad. Es überrascht mich, wie klein | |
| so eine Hornhaut ist, in meiner Vorstellung soll sie riesig sein, so groß, | |
| als umhülle sie mich. | |
| Und, was werden die neuen 20er Jahre bringen? Hellwinkel glaubt, dass man | |
| in zehn Jahren mehr darüber wissen werde, wie Hornhaut entsteht. Auch dass | |
| man weiterkomme bei der Entwicklung künstlicher Hornhäute aus Stammzellen, | |
| aus Spenderzellen, aus Kollagen, aus künstlichem, biotechnisch | |
| hergestelltem Protein. Glas möchte er zudem nicht ausschließen. | |
| Auch nicht, wenngleich das weit in der Zukunft liege, dass lebende Zellen | |
| aus toten Zellen entstehen. Frankenstein?, frage ich. „Ach, ein uralter | |
| Mythos“, sagt er. Einer der ersten, die verfilmt wurden. 1931 kam er in die | |
| Kinos. In jenem Jahrzehnt, in dem sich alles ins Gegenteil verkehrte. Die | |
| Menschen geblendet. Weil sie geblendet sein wollten. | |
| 28 Dec 2019 | |
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| ## AUTOREN | |
| Waltraud Schwab | |
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