# taz.de -- Sprache, Sex und Gender: Hey, was ist dein Geschlecht? | |
> Seit mindestens einem halben Jahrhundert wird im deutschsprachigen Raum | |
> debattiert, was Geschlecht ist. Ein Überblick. | |
Bild: In einem Feriencamp für Jugendliche, die sich nicht in ein binäres Gesc… | |
Den Versuch, gendergerecht zu schreiben und zu sprechen, gibt es seit | |
Jahrhunderten. Das bürgerliche „Meine Damen und Herren“ oder das | |
christliche „Liebe Brüder und Schwestern“ etwa sind recht alte Beispiele. | |
Etwas neuer, aber auch nicht mehr ganz so neu, sind Schreibweisen, die | |
einzelne Wörter verändern. Das große I mitten im Wort kam in den achtziger | |
Jahren im deutschen Sprachraum auf. [1][Die taz-Redaktion etwa begann 1986, | |
inspiriert von der schweizerischen Wochenzeitung, dieses sogenannte | |
„Binnen-I“ in einige ihrer Texte zu schreiben.] | |
Behörden und Verwaltungen zogen bis Mitte der Neunziger nach. Damals hieß | |
das allerdings noch nicht gendern. Sondern zum Beispiel „nichtsexistischer | |
Sprachgebrauch“. Der Blick auf Gender in dieser Debatte war allerdings | |
binär, das heißt: Man ging meist davon aus, dass es genau zwei Geschlechter | |
gibt. Um eine [2][„Sprache für beide Geschlechter“ geht es etwa in einer | |
entsprechenden Broschüre der Unesco von 1993.] | |
Dieser Blick ist seither, in der Debatte um geschlechtergerechte Sprache | |
und darüber hinaus, ein anderer geworden. Zeit, noch einmal festzuhalten: | |
Was ist eigentlich Geschlecht? Und in welchen Worten spricht man am besten | |
darüber? | |
## Was die Gesellschaft draus macht | |
In den 1960er Jahren kam in der Forschung ein Begriffspaar auf, das | |
revolutionär war – jedoch mittlerweile überholt ist: sex versus gender. Sex | |
als biologisches, körperliches Geschlecht, naturwissenschaftlich messbar, | |
indiskutabel und daher unpolitisch. Dagegen gender als gesellschaftliche | |
Erwartungen, als Normen, die formbar sind. | |
Aus feministischer Sicht war die begriffliche Trennung damals eine | |
Errungenschaft. Denn so konnte man sich aus der Vorstellung befreien, dass | |
geschlechtliche Eigenschaften, Fähigkeiten oder auch Vorlieben bloß ein | |
Resultat der Biologie seien. Man konnte sie als etwas mit Eigendynamik | |
betrachten – und kritisieren. Gleichzeitig musste man sich nicht gegen den | |
mächtigen Biologiediskurs stemmen. Es war eine Art Burgfrieden. Man | |
überließ der Naturwissenschaft ihr sex und kritisierte von da an gender – | |
als das, was die Gesellschaft daraus machte. | |
Aufgekündigt wurde dieses Einverständnis in den Neunzigern durch einen | |
neuen Konstruktivismus. [3][Vor allem die Philosophin Judith Butler brach | |
die Sex-gender-Trennung in ihrem einflussreichen Werk „Das Unbehagen der | |
Geschlechter“ auf]. Wenn das soziale Geschlecht kein Fakt ist, sondern | |
Normvorstellungen unterliegt, so Butler, dann betreffe das unweigerlich | |
auch die Biologie. | |
Butler und die Genderforschung, die ihr folgte, wiesen darauf hin, dass | |
Zweigeschlechtlichkeit auch in der Naturwissenschaft menschengemacht ist. | |
Weder Chromosomen, noch Hormone, noch Körperformen, Behaarung oder | |
Fruchtbarkeit fallen qua Natur in zwei säuberliche Schubladen. Stattdessen | |
kategorisieren der biologische oder der medizinische Blick derlei Phänomene | |
in zwei Idealtypen – und erklären alles Abweichende zu Krankheit oder | |
Abnorm. Vor diesem Hintergrund war die Trennung in sex und gender nicht | |
länger haltbar. Geschlecht ist immer sex und gender zugleich. | |
## Weiblich, männlich, sonstiges | |
Wie viele Geschlechter gibt es also? [4][Das soziale Netzwerk Facebook | |
stellt seit einigen Jahren über 60 Stück zur Auswahl.] Deutsche Behörden | |
kennen gerade mal drei: divers, weiblich und männlich. Die Genderforschung | |
beantwortet die Frage in der Regel mit einer Gegenfrage: in welchem | |
Kontext? Für Erhebungen zur Diversität am Arbeitsplatz oder | |
Partnerschaftsgewalt kann es sinnvoll sein, von weniger Gendergruppen | |
auszugehen, weil große Datensätze sonst schwer auszuwerten sind. Hier | |
arbeitet man in der Regel mit drei: weiblich, männlich und sonstiges/keine | |
Angabe, wobei die Daten der Personen, die „sonstiges“ angeben, leider oft | |
zugunsten der altbekannten Mann/Frau-Binarität hintenüberfallen. | |
In manch anderem Kontext darf es viel mehr Geschlechter geben. In einigen | |
lesbischen Subkulturen gelten Kategorien wie Lesbe, Butch, Dyke oder Femme | |
schon seit Jahrzehnten als eigene Geschlechter. Und zwar weil die | |
Träger*innen das Wort „Frau“ als Bezeichnung verstehen, die nur innerhalb | |
einer heterosexuellen Norm des Begehrens Sinn ergibt. Manche | |
genderwissenschaftliche Theorien verstehen sogar jede Überschneidung von | |
Gender mit anderen sozialen Kategorien als eigenes Geschlecht. | |
„Mutter“ wäre in dieser Lesart ein eigenes Geschlecht, ebenso wie Woman of | |
Color oder „queere, nichtbinäre Person mit Behinderung“. Die Frage nach dem | |
Kontext ist immer die Frage nach wissenschaftlicher oder politischer | |
Pragmatik: Verstehe ich eine Sache besser oder schlechter, indem ich die | |
Sprache ausdifferenziere? Kann ich politisch mehr oder weniger erreichen, | |
wenn ich die Gruppen verkleinere? Das ist oft ein Dilemma. In der | |
politischen Arbeit hilft man sich deshalb gerne mit einer Kombi aus | |
kleinteiliger Sprache und vereinenden Überbegriffen (auch umbrella terms | |
genannt). „Frauen*“ mit Sternchen ist so einer, oder FLINT* (für Frauen, | |
Lesben, inter, nichtbinäre und trans Menschen). | |
## Lauter Adjektive | |
Dass sich das Verständnis der Begriffe gender, sex und Geschlecht also | |
verändert hat, betrifft natürlich auch Wörter, die von ihnen abgeleitet | |
sind. Als „transsexuell“ zum Beispiel hat man früher Menschen bezeichnet, | |
die bei der Geburt ein binäres Geschlecht zugewiesen bekommen hatten, das | |
ihrem eigenen nicht entspricht. | |
Weil aber „-sexuell“ zu sehr an die 1960er-Definition vom biologischen sex | |
erinnert, und außerdem an Sexualität, also ein ganz anderes Thema, wird der | |
Begriff mittlerweile von vielen abgelehnt. Stattdessen ist „transgender“ | |
üblicher geworden, oder „transgeschlechtlich“ – oder immer häufiger ein… | |
„trans“. [5][Alle diese Begriffe sind Adjektive und werden als solche | |
einzeln stehend und klein geschrieben, nicht etwa an andere Begriffe | |
angeklebt.] | |
Sexuelle Orientierung hat mit trans Geschlechtern erst mal nichts zu tun. | |
Auch die Frage, ob sich eine Person in den binären Geschlechtern verortet, | |
ist nochmal eine andere. Es gibt trans Menschen, deren Geschlecht binär ist | |
– nur eben nicht das, das man ihnen bei Geburt zugewiesen hat. Eine trans | |
Frau ist also eine Frau. Non-binäre Menschen hingegen befinden sich | |
außerhalb der Binarität. Sie mögen Begriffe wie „Mann“ oder „Frau“ o… | |
entsprechende Pronomen für sich verwenden oder auch nicht. Manche trans | |
Menschen sind non-binär, aber es ist nicht dasselbe. Wer da verwirrt ist, | |
kann sich leicht helfen: einfach fragen, wie Menschen angesprochen werden | |
möchten. | |
Weil Geschlecht nun also nicht mehr binär ist, weder in der Welt noch in | |
der Forschung, erscheinen auch optisch binäre Schreibweisen wie das | |
„Binnen-I“ längst nicht mehr zeitgemäß. Ersetzt werden sie zum Beispiel | |
durch den Unterstrich „_“, der das Genderspektrum oder einen Freiraum der | |
Zuordnung symbolisiert; oder durch den Genderstern „*“, dessen Enden in | |
viele Richtungen gehen, wie ein Knoten im Netz der gesellschaftlichen | |
Positionen. Mittlerweile ist auch der Doppelpunkt „:“ häufiger zu sehen, | |
meistens mit dem Argument, dass er von allen Schreibweisen am wenigsten das | |
Schriftbild stört. | |
Welche Schreibweise man verwenden sollte, hängt aber noch von anderen | |
Faktoren ab als dem eigenen politischen und ästhetischen Empfinden. | |
Softwares etwa, die Onlinetexte für die Barrierefreiheit in Audiodateien | |
übertragen, könnten bei einigen Schreibweisen ins Stolpern geraten, während | |
sie andere in ein schönes flüssiges Audio mit winzigem Päuschen verwandeln. | |
30 Aug 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Das-Binnen-I-und-die-taz/!5166721 | |
[2] https://www.unesco.de/sites/default/files/2018-05/eine_Sprache_fuer_beide_G… | |
[3] /30-Jahre-Judith-Butlers-Gender-Trouble/!5664165 | |
[4] /Diversitaet-von-Geschlechterrollen/!5033973 | |
[5] /Sachkunde-ueber-sensible-Sprache/!5502024 | |
## AUTOREN | |
Peter Weissenburger | |
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