| # taz.de -- Das Konzept der Privilegien: Man muss auch mal verzichten | |
| > Geht es um die Frage der Privilegien, reagieren viele abwehrend. Doch wer | |
| > seine Privilegien nicht reflektiert, trägt aktiv zu Ungleichheiten bei. | |
| Bild: Teilen und abgeben kann auch mal wehtun | |
| Es gibt da diesen Satz: Check your privilege. Zunächst ist damit gemeint: | |
| Hey du, denk mal darüber nach, wo du stehst, wie es dir geht sowie was | |
| davon mit sozioökonomischen oder materiellen Rahmenbedingungen | |
| zusammenhängen könnte und erkenne an, wie diese Bedingungen dir vielleicht | |
| dabei geholfen haben, durchs Leben zu kommen. Eigentlich nicht so | |
| kompliziert. | |
| Trotzdem scheint die Frage nach Privilegien für manche wie eine Provokation | |
| zu klingen. Abwehrende, wütende oder beschämte Antworten sind dann zu | |
| hören. Etwa: Ich bin alleinerziehend, ich kann nicht privilegiert sein. | |
| Oder: Was ich heute habe, habe ich mir hart erarbeitet. Zuletzt fragte ein | |
| [1][weißer Autor im Deutschlandfunk]: „Was kann ich tun? Mich demütig und | |
| dauernd entschuldigen? Mich schämen für mich und mein Geschlecht?“ Solche | |
| Argumentationslinien werden immer wieder in verschiedenen Medien vertreten | |
| – [2][auch in der taz]. | |
| Eine Sache, die das Sprechen über Privilegien erschwert: Privilegien sind | |
| ungerecht. Sie sollten in modernen Staaten gar nicht erst existieren. Ein | |
| Versprechen liberaler Demokratien im globalen Norden lautet schließlich | |
| soziale Gerechtigkeit. Sie sind Meritokratien, behaupten also, | |
| gesellschaftliche Positionen würden allein auf individuellen Verdiensten | |
| basieren – so wie auf einem flachen Spielfeld. Für die Auseinandersetzung | |
| mit Privilegien ist in diesen Erzählungen kein Raum. | |
| Wer nach Privilegien fragt, fragt also nicht nur nach Gerechtigkeit, | |
| sondern nach ganzen Lebensentwürfen und Gesellschaftsmodellen. Das sind | |
| große Fragen, und sie werden schon lange erforscht: Beispielsweise von W. | |
| E. B. Du Bois in den 1930ern, aber auch gegenwärtig von Denkerinnen wie | |
| Angela Davis, Roxane Gay oder Peggy McIntosh. McIntosh beschreibt | |
| Privilegien als unsichtbaren Rucksack, man kann sie sich aber auch wie | |
| Puffer oder Rückenwind vorstellen. Privilegien sind historisch verankert, | |
| sie können sozioökonomisch oder materiell sein, sie können aber auch mit | |
| Geschlechtsidentitäten oder Gesundheit zusammenhängen, mit dem Wohn- oder | |
| Geburtsort, dem Nachnamen oder der Muttersprache – um nur ein paar zu | |
| nennen. | |
| ## Bläschen an der Oberfläche | |
| Sie sind also überall. Manchmal sind sie mehrdeutig und schwer greifbar, | |
| gleichzeitig manifestieren sie sich meistens sehr konkret. Zum Beispiel: Es | |
| ist ein Privileg, diesen Artikel schreiben zu können. Vielleicht ist es | |
| das erste Mal, dass Sie sich mit Privilegien auseinandersetzen – das wäre | |
| ein Privileg. Oder Sie wissen schon ganz viel darüber – auch das wäre ein | |
| Privileg, etwa weil Sie Zeit, Ressourcen und Zugänge hatten, um sich | |
| weiterzubilden. Mit Privilegien ist es wie mit kleinen Bläschen in einem | |
| Wasserglas: Rüttelt man einmal daran, kommen immer mehr an die Oberfläche. | |
| Zudem ist die ganze Sache auch noch kontextabhängig, Privilegien können | |
| sich verschränken und gegenseitig bedingen. Ein Beispiel: Männer werden von | |
| patriarchalen Strukturen privilegiert. Sie werden statistisch besser | |
| bezahlt, ihnen wird mehr Raum zugestanden, sie müssen tendenziell weniger | |
| Angst vor sexualisierter Gewalt haben. Aber es gibt da auch Unterschiede: | |
| Es gibt weiße Männer und Männer of Color, reiche Männer, queere Männer, | |
| trans Männer, kinderlose Männer, verbeamtete Männer, alleinerziehende | |
| Männer, obdachlose Männer – und natürlich überlappen und verschränken si… | |
| diese Kategorien. Obwohl diese Männer also auf spezifische Weise | |
| privilegiert werden, mal mehr und mal weniger, profitieren sie letztlich | |
| alle von patriarchalen Strukturen. Die Soziologin Raewyn Connell bezeichnet | |
| diese Schnittmenge als „patriarchale Dividende“. | |
| Umgekehrt bedeutet das: Wenn es heißt, ein Mann werde wegen seines | |
| Geschlechts privilegiert, bedeutet das nicht, dass er kein herausforderndes | |
| Leben mit Hindernissen haben kann – es heißt nur, dass er in seinem Leben | |
| nicht aufgrund seines Geschlechts noch weiteren Hindernissen begegnet. | |
| Hier werden aber noch zwei weitere Dinge sichtbar. Erstens: Es ist möglich, | |
| gleichzeitig privilegiert und benachteiligt zu werden. Und zweitens: Wer | |
| eigene Privilegien nicht reflektiert, ist nicht einfach neutral, sondern | |
| ruht sich auf Kosten derjenigen aus, die am anderen Ende des | |
| gesellschaftlichen Spektrums stehen – und trägt so aktiv zu Ungleichheiten | |
| bei. Zwar sind Personen nicht individuell für historisch gewachsene | |
| Privilegien verantwortlich, doch sie tragen Verantwortung, gewissenhaft mit | |
| eigenen Privilegien umzugehen, sie zu reflektieren und umzuverteilen. Was | |
| übrigens gar nicht so schwierig sein muss. | |
| ## Das strukturelle Problem wird verschwiegen | |
| Geht es um Ungleichheit, werden Privilegien aber meistens gar nicht erst | |
| angesprochen. Stattdessen geht es um diejenigen, die benachteiligt werden. | |
| Und darum, wie sie an ihrer eigenen Situation mitwirken. Bei Gewalt gegen | |
| Frauen werden vermeintlich individuelle Schicksalsschläge thematisiert, | |
| nicht das strukturelle Problem dahinter: männliche Gewalt. Bei | |
| rassistischen Übergriffen wird über individuelle Eigenschaften wie die | |
| psychische Verfassung der Täter gesprochen, nicht darüber, was diese Taten | |
| nährt: [3][Weiße und ihr Rassismus.] | |
| Es ist kein Zufall, dass privilegierte Positionen hier unsichtbar bleiben. | |
| Privilegien werden unsichtbar gemacht und Ungleichheiten individualisiert. | |
| Diese diskursiven Verschiebungen erlauben es den Privilegierten, | |
| Ungleichheiten zu thematisieren, ohne über Machtverhältnisse zu sprechen, | |
| an denen sie mitwirken. | |
| Ähnlich ist es bei Sprache: Die Norm bleibt unmarkiert. Wir haben Begriffe, | |
| um etwa Menschen mit Migrationshintergrund zu benennen, Menschen ohne | |
| Migrationshintergrund bezeichnen aber einfach als: Menschen. Manchmal | |
| fehlen uns aber auch die Begriffe, um privilegierte Gegenpositionen zu | |
| beschreiben, oder wir kennen sie nicht. Viele cis Menschen wissen zum | |
| Beispiel gar nicht, dass sie cis sind oder was das bedeutet. Auch deswegen | |
| geht es oft erst einmal darum, privilegierte Positionen überhaupt sichtbar | |
| zu machen, indem man sie benennt. | |
| Seit einiger Zeit werden privilegierte Positionen wie Männlichkeit, | |
| Weißsein oder Heteronormativität vermehrt erforscht. In der Forschung wird | |
| beispielsweise Weißsein als eine kollektive Erfahrung verstanden. Und: Weil | |
| Privilegien strukturell verankert sind, braucht es auch strukturelle | |
| Antworten wie Erbschaftssteuern, Reparationen oder Quoten. | |
| ## Verzicht ist selten harmonisch | |
| Auf diese Ungerechtigkeiten könnte auch auf individueller Ebene reagiert | |
| werden: Ein weißer Mann kann zum Beispiel auch ohne Quote einen Engagement | |
| ablehnen und stattdessen eine Frau of Color vorschlagen. Das ist zwar | |
| sinnvoll, aber: Solange er in einer patriarchalen Gesellschaft als Mann | |
| wahrgenommen wird, wird er weiterhin strukturell privilegiert. Er kann | |
| davon ausgehen, dass er für seine Arbeit angemessen entlohnt worden wäre, | |
| dass er auch in Zukunft Jobanfragen erhalten wird, dass er sogar dafür | |
| gelobt wird, auf den Job verzichtet zu haben – am systemischen Charakter | |
| von Privilegien ändert er also wenig. | |
| Und natürlich läuft Verzicht selten so harmonisch. Der Soziologe Aladin | |
| El-Mafaalani beschreibt das Verhältnis zwischen Teilhabe und | |
| Diskriminierung so: Stellt man sich die Gesellschaft als Kaffeetisch vor, | |
| gibt es Menschen, die lange am Tisch saßen und ganz selbstverständlich | |
| bestimmten, wie der Kuchen zubereitet und verteilt wurde. Nach und nach | |
| kommen aber immer mehr Menschen an den Tisch. Sie wollen Plätze, sie wollen | |
| etwas vom Kuchen, aber sie wollen auch zur Wort kommen, Ansprüche erheben | |
| und mitentscheiden, wie der Kuchen gemacht und verteilt wird. | |
| Wer dieser Metapher folgt, wird gegenwärtige Debatten um Gleichstellung | |
| oder Repräsentation als Zeichen gesellschaftlichen Fortschritts verstehen. | |
| Und man wird verstehen, weshalb diese Debatten so hitzig abgewehrt werden: | |
| Um soziale Gerechtigkeit zu ermöglichen, reicht es nicht, Privilegien | |
| sichtbar zu machen – Privilegierte müssen aktiv verzichten. Es ist also | |
| verständlich, dass sich die Frage nach Privilegien für Privilegierte oft | |
| wie eine Einschränkung anfühlt – das ist sie schließlich auch. Nur: Es ist | |
| ein legitimer und rechtlich verankerter Anspruch von marginalisierten und | |
| diskriminierten Menschen, Mitsprache, Teilhabe und Rechte einzufordern – | |
| auch ohne Rücksicht auf Privilegierte. | |
| 5 Sep 2020 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.deutschlandfunkkultur.de/diskriminierung-und-gefuehlte-benachte… | |
| [2] /Die-taz-die-Polizei-und-der-Muell/!5696446 | |
| [3] /Rassismus-als-System/!5702380 | |
| ## AUTOREN | |
| Simon Sales Prado | |
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