| # taz.de -- Schwarz-Rot und die Sozialpolitik: Umverteilung durch Rassismus | |
| > Von den Habenden nehmen, damit auch für die Darbenden genug da ist, wäre | |
| > klassische Sozialpolitik. Von der nächsten Regierung ist das nicht | |
| > erwartbar. | |
| Am Tag nach der Bundestagswahl lag in Berlin tatsächlich ein Hauch von | |
| Frühling in der Luft – wetterbedingt. Was aber die politische Wetterlage | |
| betrifft, geht Deutschland ungemütlichen Zeiten entgegen. Denn der kleinen | |
| Großen Koalition, die sich anschickt, das Land zu regieren, mag vieles | |
| gelingen. Eins aber sicher nicht: dem steten Aufstieg der AfD etwas | |
| entgegenzusetzen. | |
| In breiten Schichten der Republik bestünde ein massives Verlangen nach | |
| Veränderung, heißt es in Erklärungsversuchen dafür. Weil es ja so nicht | |
| mehr weitergehe. Weil alles immer schlechter werde. Und tatsächlich kann | |
| man diesen Unmut in der Bevölkerung verstehen. Denn nicht nur die Ärmsten | |
| der Armen, sondern auch die Mittelschicht ist von den volkswirtschaftlichen | |
| Entwicklungen der letzten Jahre massiv betroffen. | |
| Wobei Mittelschicht hier nicht die Normalklasse der sich gar nicht so reich | |
| fühlenden Millionäre meint, [1][in der sich der offensichtlich weltfremde | |
| Kanzler in spe, Friedrich Merz, selbst verortet]. Sondern die Klasse der | |
| Normalverdiener:innen, die dank einigermaßen sicherer Jobs jahrzehntelang | |
| gut über die Runden gekommen sind. Die nun aber merken, dass das Geld zum | |
| Monatsende auch für sie knapp werden kann. | |
| Da sind zum Beispiel die Preise für Energie. Strom war [2][laut dem | |
| Statistischen Bundesamt] im Januar um 25 Prozent teurer als nur vier Jahre | |
| zuvor. Kraftstoffe kosteten über 40 Prozent mehr, und die Erdgaspreise | |
| stiegen sogar um 90 Prozent. Ursache für diese Preisexplosion waren vor | |
| allem [3][Russlands Angriff auf die Ukraine] vor drei Jahren und die | |
| Folgen. Ein Blick auf die Kurven der Preisindexe zeigt, dass sie nunmehr | |
| seit zwei Jahren auch nahezu stabil sind. Also nicht mehr steigen. | |
| Für das Gros der Normalbevölkerung ist das allerdings keine gute Nachricht. | |
| Im Gegenteil: Die Botschaft ist, dass man mit den hohen Kosten leben lernen | |
| muss, weil die Preise eben nicht mehr auf das Vorkriegsniveau sinken. Es | |
| ist ein anhaltendes Problem, ohne Aussicht auf Besserung. | |
| Unglücklicherweise sind die Energiepreise keine Ausnahme. [4][Die Mieten | |
| steigen seit Jahren.] Auch wenn das bei den Bestandsmieten nur langsam | |
| durchschlägt, so wissen die Leute, die heute eine Wohnung suchen, dass sie | |
| sich wegen der verlangten [5][Mondpreise] einfach nicht mehr so viel Raum | |
| leisten können wie bisher. | |
| ## Linke Parteien setzen Umverteilung nicht um | |
| Obendrein frisst die anhaltende Inflation den Menschen das Geld aus den | |
| Händen. [6][100 Euro aus dem Februar 2021 sind in Deutschland heute nur | |
| noch rund 84 Euro wert.] 119 Euro müssten aktuell aufgewendet werden, um | |
| den Gegenwert von 100 Euro aus dem Jahr 2021 zu erhalten. Die anhaltende | |
| Ebbe in den Portemonnaies der Mittelklasse schreit nach Veränderung. | |
| Genauer gesagt: nach [7][Umverteilung]. Ein Konzept dafür wäre die | |
| Umverteilung von oben nach unten. | |
| Von den Habenden zu den Darbenden. Klassische Sozialpolitik also, wie sie | |
| alle irgendwie linken Parteien in ihren Programmen stehen haben. | |
| Dummerweise aber nur dort. Denn praktisch passiert in diesem Bereich seit | |
| Jahrzehnten nicht viel. Im Gegenteil: Forderungen nach Vermögen- oder | |
| Erbschaftssteuer oder der Erhöhung des Spitzensteuersatzes auf ein Level, | |
| wie es etwa [8][zu Zeiten von Helmut Kohl als Kanzler noch üblich war], | |
| werden stets als Erstes fallen gelassen, sobald die Parteien in | |
| Regierungsverantwortung kommen. | |
| Bestes Beispiel aus der gerade gescheiterten Ampelkoalition ist das | |
| Klimageld. Der staatliche Ausgleich der durch die Transformation | |
| gestiegenen Kosten war einst Kernforderung der Grünen. Kaum aber kam das | |
| Bündnis mit der FDP zustande, wurde das Klimageld hintenangestellt. Klar, | |
| die umverteilungsfeindlichen Liberalen stellten sich massiv quer. Und einer | |
| klarer linken Koalition fehlte schlichtweg die Mehrheit. Aber gerade | |
| deswegen hätten [9][Robert Habeck und Co] zeigen müssen, wo der | |
| Heizungshammer hängt. | |
| Klingt unrealistisch? In vielen Ohren sicher. Tatsächlich ist das aber nur | |
| ein Beispiel für das dramatische Versagen der gesamten Linken. Denn wie | |
| einfach Umverteilung sein kann, zeigt sich auf der anderen Seite des | |
| politischen Spektrums. Die extreme Rechte der Republik muss als angebliche | |
| Alternative für Deutschland nur laut genug schreien, dass an allem die | |
| Migrant:innen schuld sind und deshalb den Flüchtlingen ihre ohnehin | |
| minimale Unterstützung gekürzt werden muss. | |
| Das wäre der zweite denkbare Ansatz für Umverteilung: Nimm es von den | |
| Wehrlosesten und tu so, als würden dadurch die anderen entlastet. Lass sie | |
| am besten erst gar nicht ins Land. Und wenn sie schon hier sind, dann | |
| schmeiß sie halt raus. Hauptsache, sie kosten kein Geld. Tatsächlich ist | |
| die AfD landesweit an keiner einzigen Regierung beteiligt. Trotzdem wird | |
| ihr Begehren ruckzuck Realität. Nicht nur die Union, auch SPD, FDP und | |
| selbst die Grünen fordern einen härteren Umgang mit Migrant:innen. | |
| Was lehrt das die Wähler:innen? Wer die tatsächlich dringend anstehende | |
| Umverteilung will, muss rechts wählen: die AfD und ihren offen zur Schau | |
| getragenen Rassismus. Denn wenn sozialer Ausgleich durch Umverteilung von | |
| oben nach unten unmöglich ist, dann gewinnt der unsoziale Ausgleich, die | |
| Umverteilung durch Rassismus, ganz offensichtlich an Attraktivität. Was | |
| umso absurder ist, als [10][Migration auf längere Sicht] den Staat nicht | |
| kostet, sondern sogar profitabel ist. | |
| ## Es braucht eine antifaschistische Wirtschaftspolitik | |
| Rassismus ist keine Erfindung der AfD. Er ist latent in weiten Teilen der | |
| Bevölkerung vorhanden. Doch erst der [11][fatale Schritt von Friedrich | |
| Merz] und seiner Union, zusammen mit FDP und AfD im Bundestag für | |
| Abschiebungen und Zurückweisungen an der Grenze zu stimmen, hat ihn | |
| hoffähig gemacht. Das Bundestagswahlergebnis spricht Bände. [12][Jeder | |
| Fünfte stimmte für die Rechtsextremen]. | |
| Das ist schon schlimm genug. Allein es kommt noch schlimmer. Denn | |
| angesichts der Wahlerfolge müsste es eine Kernaufgabe der kommenden | |
| Regierung sein, den Zustrom zu den Rechtsextremen zu begrenzen. Nichts wäre | |
| dringender als eine antifaschistische Wirtschaftspolitik, [13][wie sie die | |
| Ökonomin Isabella Weber eingefordert hat]. Also eine Politik, die die | |
| Menschen sich wieder in ihrem Land zu Hause fühlen lässt, ohne dass sie mit | |
| dem Finger auf Migranten zeigen. | |
| Verantwortungsvoll wäre zum Beispiel eine Politik, die die Autoindustrie | |
| und die dort arbeitenden Menschen auf die anstehende Transformation | |
| vorbereitet. Denn die ist dringend nötig – aus ökologischen, aber auch | |
| volkswirtschaftlichen Gründen. Dass hierzulande jeder siebte Arbeitsplatz | |
| [14][von der Autoindustrie abhängen] soll, wie von Lobbyisten gern | |
| behauptet wird, ist spätestens in Zeiten der Krise kein Zeichen der Stärke | |
| mehr. | |
| Vielmehr sollte sich das Land aus dieser fatalen Abhängigkeit lösen. Ohne | |
| einen behutsamen, langfristig verfolgten und staatlich geförderten Umbau | |
| wird die Autoindustrie unweigerlich an die Wand gefahren. Sei es vom | |
| Veränderungen verweigernden Management. Sei es durch [15][die sich mit | |
| Zöllen abschottenden Nationalprotektionisten], wie aktuell in den USA. Oder | |
| durch eigenen Fortschritt unabhängiger werdende Märkte, wie etwa China. | |
| Wenn aber tatsächlich zehntausende Arbeitsplätze wegfallen werden, ist das | |
| nur weiteres Wasser auf die Mühlen der Rechtsextremen. Wie aber soll dieser | |
| Wirtschaftszweig zum Umlenken angehalten werden, wenn die Regierung von | |
| einer CDU/CSU dominiert wird, der nicht mehr als Technologieoffenheit | |
| einfällt? | |
| Verantwortungsvoll wäre hingegen eine radikale Klimapolitik. Um | |
| Katastrophen, [16][wie die 2021 im Ahrtal], vielleicht nicht komplett zu | |
| vermeiden, aber wenigstens etwas eindämmen zu können. Und die nebenbei | |
| Migration begrenzen könnte, wenn sie hilft, die in den kommenden | |
| Jahrzehnten unweigerlich [17][Flucht auslösenden Effekte des Klimawandels] | |
| abzufedern. Nur wie soll das gehen, mit einer CSU-dominierten Regierung, | |
| die Windräder für eins der größten Übel der Welt hält? | |
| ## Staatliche Integrationsverweigerung bleibt Programm | |
| Verantwortungsvoll wäre auch eine Bildungsoffensive, die die Lage an den | |
| Schulen als das benennt, was sie ist: ein nationaler Notstand, der nur | |
| durch intensivste Förderung und Betreuung, durch kleinere Klassen mit | |
| jeweils mehreren Lehrer:innen zu bewerkstelligen wäre. Die jedoch gibt | |
| es aktuell nicht. Sie müssen ausgebildet werden, was wiederum nur auf einer | |
| Art zu bewerkstelligen wäre: mit einem Sack voll Geld. | |
| Nur wie soll das gehen, mit einer Union in der Regierung, die alles dafür | |
| tut, dass staatliche Integrationsverweigerung politisches Programm bleibt? | |
| Hier könnte und müsste eine sozialdemokratische Partei, die sich selbst | |
| ernst nimmt, bei den Verhandlungen über ihren Einstieg in die kleine Groko | |
| klar und deutlich den Finger heben. Aber wie soll das gehen bei einer | |
| Partei, die zerschlagen am Boden liegt und der nichts besser täte als ein | |
| paar erholsame Jahre in der Opposition? | |
| Es wird niemanden überraschen, wenn auch in der nächsten Regierung als | |
| Erstes alle linken Ansätze zu einem gesellschaftlichen Umbau | |
| hintenrunterfallen. Wie sollte es auch anders gehen bei Friedrich „Jetzt | |
| ist Schluss mit links“ Merz als Kanzler? Der zudem von seinen rechten | |
| Freunden Druck bekommt, jetzt endlich zu liefern, was er versprochen hat. | |
| Schwarz-Rot wird somit den Rechtsextremen nichts entgegensetzen. Jedenfalls | |
| nichts, was die Sorgen der Mittelschicht mit dem Konzept einer offenen | |
| Gesellschaft in Einklang zu bringen vermag. Im Gegenteil: Die kommende | |
| Regierung wird es zwar sicher nicht so nennen und trotzdem dem Konzept | |
| „Umverteilung durch Rassismus“ folgen. Migration wird schon jetzt nahezu | |
| ausschließlich als „irregulär“ gelabelt. | |
| Das klingt schon fast wie „illegal“. Asylbewerber:innen sollen gleich | |
| an der Grenze abgewiesen werden. Familienzusammenführung – eigentlich ein | |
| christlicher Gedanke – wird der Riegel vorgeschoben. Abschiebungen gelten | |
| als Ziel an sich. Und all das, damit „unserem Sozialstaat“ die „Fremden“ | |
| nicht auf der Tasche liegen. Wer davon profitiert, liegt auf der Hand. Und | |
| wo bleibt die Hoffnung? Vielleicht bringt der April ja ein bisschen | |
| Frühling. | |
| 6 Apr 2025 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Kommentar-Merz-und-die-Mittelschicht/!5551601 | |
| [2] https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2025/02/PD25_055_611.h… | |
| [3] /Schwerpunkt-Krieg-in-der-Ukraine/!t5008150 | |
| [4] /Neue-Studie-zum-Wohnen/!6067354 | |
| [5] /Neue-Studie-zum-Wohnen/!6067354 | |
| [6] https://www-genesis.destatis.de/datenbank/online/statistic/61111/table/6111… | |
| [7] /Deutschlands-neue-Schulden/!6074317 | |
| [8] /Lehrstunde-Steuerreform/!6005775 | |
| [9] /Klimageld-fuer-soziale-Gerechtigkeit/!5959656 | |
| [10] https://www.youtube.com/watch?v=xJplCUpWY_0 | |
| [11] /Merz-Anbiederung-an-die-AfD/!6061889 | |
| [12] /Wahlergebnis-der-AfD/!6070939 | |
| [13] /Oekonomin-Weber-zu-Wirtschaft-unter-Trump/!6047444 | |
| [14] /Automobilindustrie-in-Deutschland/!5445373 | |
| [15] /Zollaufschlag-von-25-Prozent/!6076110 | |
| [16] /Ein-Jahr-nach-dem-Ahrtal-Hochwasser/!5863831 | |
| [17] /Blinde-Flecken/!6065034 | |
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| Gereon Asmuth | |
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