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# taz.de -- Ein Jahr nach dem Ahrtal-Hochwasser: Leben nach der Flut
> Am 14. Juli 2021 wurde das Ahrtal überflutet. Besonders hart traf es den
> Ort Schuld. Nun kämpfen sich die Menschen zurück in den Alltag.
Christina Müller-Lettau sitzt in ihrem Auto und fährt die Hauptstraße des
Orts entlang, links von ihr der Fluss Ahr, rechts Ruinen. Sie nimmt eine
Hand vom Lenkrad und zeigt auf einen viereckigen Krater: „Da war mal unser
Lebensmittelladen.“ Auf den nächsten: „Da der Bäcker.“ – „Da eine
Pizzeria.“ Und auf den nächsten: „Landgasthaus Köbes“. Alle weg.
Müller-Lettau, 60 Jahre alt, wohnt seit 20 Jahren im Ahrtal. Aus Bonn zog
es sie 2001 in die kleine Ortsgemeinde Schuld, weil sie sich in der Stadt
nach den Terroranschlägen vom 11. September nicht mehr wohl fühlte. Doch
die Katastrophe holte sie ein, wenn auch anders: [1][In der Nacht vom 14.
auf den 15. Juli 2021] drückte sich eine acht Meter hohe Flutwelle durch
Schuld. Riss Bäume, Autos, ganze Häuser mit sich. Als sich das Wasser
zurückzog, glich Schuld – ein kleines Dorf mit vielen Fachwerkhäusern,
eingenistet in ein Tal des unteren Ahrgebirges – einer Trümmerlandschaft.
Vier Häuser wurden in der Flutnacht komplett weggespült, 141 Häuser waren
so stark beschädigt, dass man in ihnen nicht mehr oder nur noch im ersten
Stockwerk wohnen konnte. Mehr als jede:r zehnte der 660
Einwohner:innen musste den Ort zeitweise verlassen. Zu Tode kam hier
wie durch ein Wunder niemand.
Müller-Lettau und ihr Mann hatten noch Glück. Ihr Haus liegt nicht weit
entfernt von der Ahr, aber etwas erhöht. Ihnen wurden nur die Füße nass.
Dennoch standen sie wie alle in Schuld unter Schock. Ihre Heimat wurde
zerstört.
Hunderte Freiwillige aus ganz Deutschland machten sich nach der
verheerenden Flut auf in die vom Hochwasser betroffenen Gebiete, auch nach
Schuld. Sie befreiten Straßen von Geröll, schleppten Schlamm aus den
Häusern und schafften Tonnen von Sperrmüll weg, zu denen Möbel und
Haushaltsgeräte geworden waren.
Noch nie wurden hierzulande für eine Naturkatastrophe in Deutschland so
viele Spendengelder gesammelt, über eine halbe Milliarde Euro. Dazu
unzählige Sachspenden. Der Staat reagierte: Jeder betroffene Haushalt bekam
mindestens 1.500 Euro Soforthilfe. Für den Wiederaufbau stellte der Bund
wenige Wochen später bis zu 30 Milliarden Euro bereit. So viel wie das
Bruttoinlandsprodukt Estlands.
Doch schon kurz nach der Flut zeigte sich: Geld und [2][Hilfsbereitschaft
zu bekommen] ist nicht die größte Herausforderung. Mitte Oktober 2021 rief
Bürgermeister Helmut Lussi dazu auf, dass keine freiwilligen
Helfer:innen mehr nach Schuld kommen sollten. Die gröbsten
Aufräumarbeiten seien abgeschlossen. Nun gehe es nicht mehr darum,
wegzuschaffen, sondern darum, aufzubauen. Für Privatpersonen werden in der
Regel 80 Prozent der Kosten für den Wiederaufbau übernommen, in Härtefällen
auch 100 Prozent.
Von den vollständigen Anträgen für diese Aufbauhilfe sind laut Land
Rheinland-Pfalz bisher über 90 Prozent genehmigt. Auch die sogenannten
Maßnahmenpläne der Kommunen und Landkreise mit über 4.500 Einzelmaßnahmen
liegen allesamt vor. Das Land fördert die Wiederaufbaukosten in der Regel
bis zu 100 Prozent.
Auch wenn es in Einzelfällen hakt: Das Gerüst des Wiederaufbaus stand
schnell, und es steht fest. Doch es braucht auch Menschen, die die Dinge
anschieben, nachhaken und vorantreiben. Menschen, die den Widrigkeiten des
Aufbaus trotzen. Und vor allem Menschen, die vor Ort sind und weitermachen.
Um drei solcher Menschen geht es in diesem Text.
## Die Beamtin
Christina Müller-Lettau steht jetzt vor der Domhofbrücke, einer alten
Steinbrücke aus dem Jahr 1910. Die Brücke steht noch – immerhin. Aber sie
hat nichts mehr von ihrer Anmut, der Ortsfremde auf Fotos noch nachspüren
können. Die enge Fahrbahn und die kleinen Brückenmauern wurden von dem
Unrat und den Baumstämmen, die die Flut mit sich riss, zerstört.
Über die rund 40 Meter lange Brücke spannt sich nun ein Stahlgerüst, quasi
eine zweite Brücke, befestigt an den Uferseiten der Ahr, damit man sie
überqueren kann, ohne die Domhofbrücke zu belasten.
Es ist diese Brücke, die Müller-Lettau als Erstes einfällt, wenn sie
gefragt wird, was das drängendste Problem in Schuld ist. Eigentlich
arbeitet Müller-Lettau beim Bundesamt für Justiz in Bonn. Doch seit rund
einem Jahr ist die Ortsgemeinde Schuld ihr Arbeitsgebiet. Der Bund hat sie
freigestellt, um den ehrenamtlichen Bürgermeister beim Wiederaufbau zu
unterstützen.
Trotz der vielen Flutschäden gleicht die Gegend um die Domhofbrücke auch
heute noch einem malerischen Idyll. Die Sonne glitzert im Fluss, auf einer
Uferseite erhebt sich das Ahrgebirge, auf der anderen hat ein
braungebrannter Mann ein Holzbrett aufgebockt, um es abzuschleifen.
Die Brücke verbindet die Ortsteile Domhof und Überahr, doch der Autoverkehr
ist seit dem 14. Juli unterbrochen, das Stahlgerüst kann man nur zu Fuß
überqueren. Die fehlende Anbindung ist aber gar nicht die größte Sorge
Müller-Lettaus – der Umweg über eine Umgehungsstraße sei nicht schön und
für die Anwohner:innen sicher nervig, aber verkraftbar.
Dass Müller-Lettau auf einen schnellen Neubau der Brücke drängt, liegt an
den Leitungen: Wasser und Strom. Die Kabel und Rohre führten vor der Flut
unter der Ahr hindurch, das ist jetzt nicht mehr erlaubt, sie hielten dem
Hochwasser nicht stand. Nach der Flut musste Schuld teilweise vom
Technischen Hilfswerk mobil mit Trinkwasser versorgt werden. Tagelang gab
es keinen Strom.
Jetzt sollen die Leitungen in die Brücke einbetoniert werden – zur
Sicherheit. Aktuell sind sie jedoch gefährdeter als zuvor, denn sie führen
als Provisorium entlang des Stahlgerüsts über die Brücke, im Freien. „Wir
können froh sein, dass wir hier einen milden Winter hatten“, sagt
Müller-Lettau. „Bei langfristigen Minusgraden ist unklar, wie lang die
Leitungen halten.“ Auch ein neues Hochwasser könnte das Provisorium
gefährden.
Müller-Lettau redet schnell. Die Haare trägt sie strubbelig, an den Spitzen
gefärbt. Es war ihre Idee, Bürgermeister Helmut Lussi bei seiner Arbeit zu
unterstützen. „Das hat ein paar Tage gedauert, ihn davon zu überzeugen“,
sagt sie. Schließlich sah Lussi ein, dass ein Wiederaufbau dieses Ausmaßes
von einem ehrenamtlich arbeitenden Bürgermeister allein nicht gestemmt
werden kann. Das Bundesamt für Justiz stellte Müller-Lettau zunächst ganz,
mittlerweile noch für 30 Prozent für diese Aufgabe frei.
Die Domhofbrücke ist nicht nur sichtbarer Ausdruck der Zerstörungsgewalt
der Flut, sondern auch Sinnbild für die teils quälend langen
Verwaltungsprozesse, die mit dem Aufbau verbunden sind. Dreimal sei die
Planung für den Aufbau der Brücke nun schon überarbeitet worden, erzählt
Müller-Lettau. Immer habe der Wasserbehörde irgendwas gefehlt. „Aktuell
warten wir schon wieder auf ein neues Durchflussgutachten.“
Erst wenn sichergestellt ist, dass sich das Wasser unter der neuen Brücke
bei einer zukünftigen Flut nicht lebensbedrohlich staut, können die
Arbeiten beginnen. „Gleichzeitig müssen wohl auch noch Gespräche mit dem
Denkmalschutz geführt werden“, sagt Müller-Lettau.
Sie versteht all diese Prozesse und Vorgänge, sie ist ja selbst Beamtin.
Nur müsse man in Ausnahmesituationen eben auch mal Ausnahmen machen können,
sagt sie. „In dem Fall müsste man vielleicht mal sagen: So wird’s gemacht,
und fertig.“
Müller-Lettau steigt in ihr Auto, die Domhofbrücke war der erste Stopp auf
einer Rundfahrt durch Schuld, auf der sie erzählen will, wie es um den
Aufbau steht, was gut läuft und was nicht so recht vom Fleck kommt. Sie
drückt aufs Gaspedal, sie fährt sehr, sehr schnell, aber souverän.
Die Ahrstraße liegt nur wenige Meter vom Fluss entfernt und ist immer noch
nicht wieder asphaltiert. Die Hangstraße am Ahrgebirge, der eigentliche
Ortszubringer Schulds, ist seit einem Jahr gesperrt. Die Böschung wurde
weggerissen. „Da ist noch gar nichts passiert“, sagt Müller-Lettau. In den
Hängen am Ufer der Ahr hängt zum Teil tatsächlich noch Unrat aus der
Flutnacht. „Es wäre auch schön, wenn die neue Landrätin mal vorbeikommt“,
sagt Müller-Lettau. Die sei immerhin schon seit Februar im Amt.
Gibt es, trotz allem, schon wieder so etwas wie Alltag in Schuld? [3][„Was
heißt Alltag?“], fragt Müller-Lettau zurück. Kurze Pause, dann fügt sie
hinzu: „Es ist schon beschwerlich.“ Für das Nötigste musste man den Ort
früher nicht verlassen, gerade für ältere Menschen ein Segen.
Müller-Lettau fährt durch die kurvigen Straßen. Sie zeigt auf eine gelbe
Fahrrad- und Fußgängerbrücke – während der Flut weggespült, liegt sie je…
auf der anderen Uferseite. Sie zeigt auf die vielen planierten Flächen
neben der Ahr, einst voller Bäume und Sträucher.
Drei Zonen wurden für den Aufbau eingerichtet: rot, gelb, grün. In der
roten Zone dürfe nichts mehr neu entstehen, keine Häuser, auch keine Bäume.
In der gelben Zone müssen Neubauten auf Stelen gebaut werden, noch stehende
Häuser dürfen wieder aufgebaut werden. In der grünen Zone dürfen Neubauten
nicht mehr unterkellert werden.
Vielleicht noch mehr als das Praktische, mehr als der fehlende
Lebensmittelladen und der fehlende Bäcker, belastet das Psychische. „Sobald
man das Haus verlässt, wird man mit den Folgen der Flut konfrontiert“, sagt
Müller-Lettau. „Es gibt ein Leben vor und ein Leben nach der Flut.“
Besonders für ältere Menschen fühle es sich so an, als ob hier endgültig
etwas verloren gegangen ist, sagt sie. Wenn es um den Aufbau von diesem
oder jenem Gebäude geht, höre sie nun oft den gleichen Satz: „Na wer weiß,
ob ich das noch erlebe.“
Zum Schluss der Rundfahrt steuert Müller-Lettau eine kleine Anhöhe hinauf.
Sie biegt in einen Waldweg ein und steigt aus. Sie steht vor einer
Freilichtbühne, die hat genauso viele Plätze wie Schuld Einwohner:innen.
Die Bühne war nicht von der Flut betroffen. Sie wolle, wenn sie schon eine
Tour gibt, nicht nur Zerstörung und Provisorisches zeigen, sondern auch
Schönes, sagt Müller-Lettau. Gespielt wird diesen Sommer „Der Räuber
Hotzenplotz“. Einige Tage nach dem Treffen schickt sie über Whatsapp eine
Rezension des Stücks aus der Rhein-Zeitung. Auch sie und ihr Mann wollen es
sich ansehen. Fast scheint es, als wolle sie betonen: Es geht zwar langsam,
aber die Normalität kehrt zurück.
## Der Neue
Auf einem Baugerüst um ein Einfamilienhaus in der Bahnhofstraße stehen vier
Männer und verputzen gerade die letzte Fläche einer Außenwand, dann ist
Feierabend. Die Männer steigen vom Gerüst. „Hallo“, sagt Christoph Hilting
und reicht die Hand. Er heißt eigentlich anders, möchte aber seinen Namen
nicht in der Zeitung lesen. Das Haus, bei dem er gerade geholfen hat die
Fassade zu sanieren, gehört nicht ihm. Sein Haus steht gegenüber.
Hier in der Bahnhofstraße, die direkt neben der Ahr entlangführt, kam die
Flut als Erstes an. Wie ein Mini-Vorort liegt die Straße, in der sich
Einfamilienhaus an Einfamilienhaus reiht, etwas außerhalb des Ortskerns.
Die Flut richtete hier besonders großen Schaden an, jedes Haus in der
kurzen Straße war oder besser ist von der Flut betroffen, alle
Bewohner:innen mussten ausziehen.
Hilting bittet in sein Haus. Er ist in Schuld aufgewachsen, hat seine
Kindheit hier verbracht, bis er als Teenager mit der Familie wegzog. Dem
Ort ist er verbunden geblieben. Zurückziehen wollte er seit einigen Jahren.
Nur habe es vor der Flut weder Häuser noch Bauflächen gegeben. Erst die
Katastrophe, die so vielen Menschen ihr Haus und ihre Heimat nahm, eröffnet
Hilting auf einmal die Möglichkeit, sich den Traum vom Eigenheim zu
erfüllen. Das Haus, in das er bittet, hat er nach der Flut gekauft.
Von den zig Fragen, die man ihm dazu stellen möchte, drängt sich eine
besonders auf: Warum? Warum zieht man in einen Ort, der erst vor wenigen
Monaten von einer gewaltigen Naturkatastrophe getroffen wurde?
Um Hiltings „Fluthaus“, wie jeder hier beschädigte Häuser nennt, steht ke…
Gerüst mehr. Auf einem Balkon stehen sogar schon einige Blumenkästen. Innen
sind die Wände frisch gestrichen, der Boden teils noch mit Planen bedeckt,
aus den Wänden gucken lose Stromkabel, die auf Steckdosengehäuse warten.
Das Ganze sieht schon recht fertig aus, verglichen mit den meisten anderen
Fluthäusern in Schuld.
Hilting, blaue Arbeitskleidung, Baseballcap, setzt sich auf die Bank einer
Bierzeltgarnitur, die noch als Möbelersatz dient. Vor ihm Werkzeug, eine
Cola light, Zigaretten. Also: Warum hierherziehen, einen Steinwurf von der
Ahr entfernt? Er zuckt mit den Schultern. „Ich glaube nicht, dass es noch
mal passiert“, sagt er dann.
Von der Flut erfährt er in der Nacht auf den 15. Juli von seiner Tante, die
noch in Schuld wohnt. Als der Ort wieder erreichbar war, ist er mit seiner
Frau hingefahren. „Man hat einfach drauflos geholfen. Irgendwo gab es immer
was zu tun“, sagt er.
Auch in der Bahnhofstraße hilft Hilting. Er lernt Anwohner:innen
kennen, man kommt ins Gespräch. Irgendwann geht es nicht mehr nur ums
Aufräumen, sondern ums Aufbauen. Wie? Wann? Wer? Und vor allem: Mit welcher
Kraft? Er trifft auf ein älteres Ehepaar. Sie haben ein Haus in der
Bahnhofstraße, aufbauen wollen sie es nicht, können sie nicht. Die Energie
fehlt. Sie einigen sich schnell. Hilting und seine Frau kaufen das Haus, im
August 2021 ist Schlüsselübergabe. „Einige fanden das schon mutig“, sagt
er. Den Kopf geschüttelt haben aber weder Freunde noch Familie.
Und das Flutrisiko, was ist damit? „Mit dem müssen wir leben“, sagt
Hilting. Es ist nicht so, dass den Menschen an der Ahr auf einmal bewusst
wurde, dass sie an einem Fluss leben. Hochwasser gab es immer wieder, wenn
auch nie so zerstörerisch. Hilting sagt: „Auch jetzt fällt es mir schwer,
in der Ahr eine Gefahr zu sehen. Ich habe hier als Kind meine Beine ins
Wasser gehalten, für mich war das immer ein Spieleparadies.“
Und man könnte die Frage auch umdrehen. Wenn das Risiko für Christoph
Hilting und seine Frau zu groß sein soll, müssten dann nicht alle anderen
Rückkehrer auch fernbleiben? Ein Viertel aller Menschen im Ahrtal lebt
weniger als 200 Meter von der Ahr entfernt. Sollen sie alle wegziehen? Es
ist eine Abwägung.
Dass Hiltings Haus schon wieder bezogen werden kann, hat mehrere Gründe.
Als Gas-Wasser-Installateur konnte er viele Arbeiten selbst übernehmen,
musste nicht auf Handwerker warten. Er und seine Frau mussten auch nicht
auf Gutachten für die Aufbauhilfe warten, da sie auf diese keinen Anspruch
haben. In Nordrhein-Westfalen haben auch Käufer:innen von Fluthäusern
Anspruch, in Rheinland-Pfalz nicht.
Hilting hätte die Aufbauhilfe aber auch nicht angenommen, sagt er.
„Natürlich auch keine anderen Gelder, keine Spenden. Das wäre unfair
gewesen. Ich hatte ja keinen Schaden.“ Das Haus haben er und seine Frau
aufgrund der Schäden zwar günstiger bekommen, aber zusammen mit dem, was
sie reinstecken mussten, hätte man auch neu bauen können, sagt er. Er sei
kein Flutopfer, aber eben auch kein Profiteur, das ist ihm wichtig.
Tatsächlich hat sich die Sorge, dass sich reihenweise Schnäppchenjäger oder
Investoren billig Bauland und Häuser sichern, um sie irgendwann teuer zu
verkaufen, nicht bestätigt. Das Interesse an Fluthäusern sei nicht größer
als an anderen Bauruinen, sagen Makler.
Dass Hilting und seine Frau nun im Grunde auf einer Dauerbaustelle wohnen
mit den vielen Fluthäusern um sie herum, stört sie nicht. „Der Aufbau geht
voran, wenn auch langsam“, sagt Hilting. Er und seine Frau sind jetzt ein
Teil davon.
## Der Architekt
Bert Haag steht im Wald und schaut auf eine Ruine. Vor ihm fließt der
Armuthsbach, ein Zufluss der Ahr. Direkt hinter dem Bach steht ein einsames
Gebäude, das in der Flutnacht regelrecht zerschnitten wurde: die
Daubiansmühle. Ein verwinkeltes Fachwerkensemble, wenige Autominuten von
Schuld entfernt, das früher, also vor der Flut, einen Gasthof beherbergte.
Haag guckt auf die Daubiansmühle wie in ein offenes Puppenhaus. Er schaut
auf Zwischendecken, blickt in das halbe Badezimmer im dritten Stock, in das
halbe Wohnzimmer darunter. Am Fenster der hinteren Wand hängen noch
Gardinen. Bert Haag, schwarzer Anzug, 64 Jahre, betrachtet die Ruine und
schweigt. Als er seine Fassung gefunden hat, sagt er: „Ich wünsche mir so
sehr, dass diese Mühle am Standort wiederaufgebaut wird.“
Bert Haag ist Architekt. Jeden Donnerstagmorgen kommt er aus dem rund 150
Kilometer entfernten Ingelheim nach Schuld. Die Architektenkammer
Rheinland-Pfalz hat ihn kurz nach der Flut gefragt, ob er sich vorstellen
könne, beim Aufbau zu helfen. Finanziert wird seine Arbeit vom Land
Rheinland-Pfalz und vom Landkreis Ahrweiler. Es ist kein Job, um sich als
Architekt zu profilieren. Man plant nicht selbst, erschafft nichts Eigenes.
Man berät und vermittelt. Bert Haag zögerte nicht. Er sagt: „Das ist eine
Herzensangelegenheit. Für mich geht es darum, die dörfliche und das Ahrtal
prägende Substanz zu erhalten.“
Donnerstags und freitags öffnet Haag sein Büro, einen umfunktionierten
Container, der vor der Sankt-Gertrud-Kirche steht. Von dort aus unterstützt
er die Menschen in Schuld beim Aufbau ihrer Häuser. Haag hilft ihnen dabei,
Gutachter:innen zu finden, die prüfen, was in einem Haus saniert werden
kann und was abgerissen werden muss. Die Gutachter:innen errechnen auf
dieser Grundlage auch die Höhe der Aufbauhilfe, die beantragt werden kann.
Haag prüft diese Gutachten und gibt sie dann zusammen mit den Betroffenen
in das Online-Antragsverfahren ein. Hier und da hilft er auch bei ganz
praktischen Entscheidungen: Wie lange muss getrocknet werden? Wie weit muss
der Putz entfernt werden? „In den Wochen nach der Flut waren Gott sei Dank
jede Menge Helfer da, aber zu wenige, die Auskunft darüber geben konnten,
was genau zu tun sein sollte“, sagt Haag. Was er meint: Es fehlten Profis.
Es fehlten Leute wie Bert Haag.
Aktuell betreut Haag den Aufbau von 17 Gebäuden. Bei der Daubiansmühle kann
er nicht viel tun. Die Eigentümer:innen haben eigenständig einen
Gutachter gefunden. Haag hätte, vorsichtig formuliert, einen anderen
empfohlen. „Wenn hierzu meine Unterstützung gebraucht wird, stehe ich zur
Verfügung“, sagt er.
Sein Container auf dem Kirchenvorplatz ist sachlich eingerichtet. Ein
Schreibtisch, ein Tisch, auf dem ein Drucker steht, ein Schrank für Akten.
An der Wand hängen zwei Satellitenbilder von Schuld. Eins zeigt die Dächer
und die Ahr, die sich um das Dorf schlängelt. Das andere zeigt ein Bild der
Verwüstung, die Uferlinien der Ahr sind nicht zu erkennen, Häuser fehlen.
Das Foto wurde wenige Tage nach der Flut aufgenommen. Aus Sicht eines
Hochwasserschützers könnte Schuld nicht schlechter liegen. Die Ahr zieht
zwei kleine und eine große Schlaufe um den Ort, auf Google Maps sieht es
wie der griechische Buchstabe Omega aus. Auch deswegen war die Zerstörung
in Schuld besonders heftig.
Fragt man die Menschen in Schuld, was sie glauben, wie lange der Aufbau
dauert, bekommt man Antworten von zwei bis zehn Jahren – je nachdem, ob es
ihnen um das Nötigste geht, wie die Asphaltierung der Straßen und die
Rückkehr des Bäckers, oder ob sie einen Ort im Kopf haben, dem man die
Katastrophe vom 14. Juli 2021 auf den ersten Blick nirgends mehr ansieht.
Haags Maßstab ist das Ortsbild, das große Ganze. Fünf Jahre, glaubt er,
wird es dauern, bis dieses wieder weitgehend hergestellt ist. Bis nur noch
kleine Narben sichtbar sein werden.
Haag hat das Sakko ausgezogen, die Wärme drückt in den nicht klimatisierten
Container. „Viele, vor allem ältere Menschen, sind von dem Verfahren der
Wiederaufbauhilfe online überfordert“, sagt Haag. Für ein Fachwerkhaus
brauche man einen anderen Gutachter als für ein Fertighaus. Gleiches gelte
für die Handwerker. Da würden einige den Überblick verlieren, ganz zu
schweigen davon, dass manche Ältere keinen Internetzugang haben, um den
Antrag über das Onlineportal zu stellen.
Die größte Herausforderung aber, so Haag, sei die Moral, das
Durchhaltevermögen. Manche finden einfach die Kraft nicht. Er erzählt von
einer Familie, die einen alten Hof, ein Fachwerkensemble aus mehreren
Gebäuden, hatte. „Es ist das komplette Torhaus weggeschwemmt worden“, sagt
er. Die Besitzer, ein Ehepaar über 70, hatten schon abgeschlossen mit dem
Hof, sie sahen sich nicht in der Lage, Anträge zu stellen,
Bauarbeiter:innen und Handwerker:innen zu finden, um in Monaten,
wenn nicht Jahren wieder einen intakten Hof zu haben. „Den Menschen muss
man die Angst vor dem Verfahren nehmen und die Begeisterung zum
Wiederaufbau erwecken“, sagt Haag. In dem Fall sei ihm das gelungen.
Das Beispiel zeigt, was ihn antreibt. Er will die Struktur des Ortes, seine
Kleinteiligkeit, die Höfe und das Fachwerk erhalten. „Man muss den Ort
nicht wie eine Modellbahnlandschaft wieder nachbauen“, sagt er. „Die Flut
war eine Zäsur, und die wird und soll sichtbar bleiben. Dem Aufbau muss die
Tradition und die ländlichen Gegebenheiten des Ahrtals zu Grunde gelegt
werden. Übereifer ist ebenso schädlich wie Mutlosigkeit und Lethargie. Der
Mensch im Tal und dessen Zukunft im Tal bilden die Herausforderung und den
Fokus eines jeden Planers und Architekten.“
Haag tritt zum Abschied noch mal aus dem Container auf den Kirchenvorplatz,
der auf einer kleinen Anhöhe liegt. Er blickt ins Ahrtal und auf Schuld.
„Ich habe das Bild vor Augen“, sagt er.
9 Jul 2022
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Daniel Böldt
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