# taz.de -- Blinde Flecken: Die überhitzte Welt | |
> Mit jedem zehntel Grad Erderwärmung gibt es mehr Menschen, die in | |
> unbewohnbaren Regionen leben. Doch im Migrationswahlkampf ist Klima kein | |
> Thema. | |
Bild: Menschen und Tiere im Norden Kenias leiden unter lang anhaltenden Dürren | |
Berlin taz | Die Nachricht hatte fast amtlichen Charakter. Der | |
EU-Klimadienst Copernicus meldete zum Jahresbeginn, dass die Erderwärmung | |
im Jahr 2024 die Messlatte von 1,5 Grad erstmals gerissen hat. Wir sind bei | |
1,6 Grad gelandet, viel schneller als vorhergesagt. Wer jetzt größere | |
Stichflammen der Erregung erwartete, ist enttäuscht worden. Die Nachricht | |
wurde entgegengenommen wie eine Mitteilung des Bundes der Steuerzahler. | |
Achselzuckend. Dabei waren die 1,5 Grad das heilige Eichmaß der | |
Klimapolitik, auf das sich seit der Konferenz von Paris 2015 alle Akteure | |
stets bezogen haben. Mit ihrer regelmäßigen Ausrufung ließ sich | |
entschlossener Klimaschutz insinuieren, ohne ihn jemals mit konkreten | |
Maßnahmen zu unterfüttern. | |
Was bedeutet die Erderwärmung von 1,6 Grad, außer dass eine Grenzlinie | |
überschritten wurde? Die reichen Länder, die zu großen Teilen für die | |
Klimakrise verantwortlich sind, müssen verschärft mit Hitzewellen, | |
Hochwasser und anderen Wetterextremen rechnen. Für die ärmeren Länder, | |
deren Pro-Kopf-Ausstoß von Treibhausgasen oft nur halb so groß ist wie der | |
globale Durchschnitt oder noch niedriger, ist die Lage weit bedrohlicher. | |
1,6 Grad mehr auf dem Thermometer verschärfen vor allem die | |
Lebensbedingungen in den heißen Ländern. Einige Regionen des Hitzegürtels | |
der Erde werden ganz einfach unbewohnbar, sofern sie es nicht schon sind, | |
und Landwirtschaft ist dort nicht mehr möglich. Damit hat die Klimakrise | |
direkte Folgen für die Massenflucht von Millionen. | |
Vor zwei Jahren haben Klimaforschende Berechnungen vorgelegt, wonach 600 | |
Millionen Menschen zu diesem Zeitpunkt unter klimatischen Bedingungen | |
leben, die ihre Heimat eigentlich unbewohnbar machen. Jedes zehntel Grad | |
weiterer Erwärmung vergrößert die Flächen mit planetarem Fieber. Aber wie | |
ist „Unbewohnbarkeit“ überhaupt definiert? Als ein gerade noch behagliches | |
Temperaturfenster werden in südlichen Regionen Durchschnittswerte von 22 | |
bis 26 Grad im Jahreslauf angesehen. Bei einer Temperatur von 28 Grad wird | |
es kritisch. Regionen mit einer Jahresdurchschnittstemperatur von über 29 | |
Grad (Tag- und Nachtwerte) gelten als unbewohnbar. Im Jahr 1980 lebten 0,3 | |
Prozent der Weltbevölkerung in solchen nicht mehr tolerierbaren Hitzezonen. | |
Inzwischen sind es 9 Prozent. | |
## Das ist nicht Worst Case, sondern realistisch | |
Die gegenwärtige Klimapolitik führt nach Aussagen des Weltklimarats IPCC zu | |
einer Erderwärmung von 2,7 bis 3,1 Grad bis zum Ende des Jahrhunderts (2080 | |
bis 2100). [1][Dies ist kein Worst Case], sondern ein seriös-realistisches | |
Szenario, das die Maßnahmen der aktuellen Klimapolitik in entsprechende | |
Emissionstabellen und Gradzahlen fließen lässt. | |
2,7 Grad würden bedeuten, dass dann rund zwei Milliarden Menschen in | |
überhitzten, nicht mehr bewohnbaren Regionen leben, so die Abschätzung der | |
Klimafolgenforschung. Sollte die Menschheit ihre Anstrengungen doch noch | |
verschärfen und bei 2,4 Grad niederkommen, wäre die Heimat von 1,3 | |
Milliarden Menschen unbewohnbar. Schaffen wir – was derzeit einem Wunder | |
gleichkäme – die 2-Grad-Grenze, würde die Zahl der außerhalb der | |
Zumutbarkeit lebenden Menschen „nur“ auf 823 Millionen steigen. In jedem | |
Fall wird die Zahl der Klimaflüchtlinge dramatisch zunehmen, der | |
Migrationsstrom weiter und weiter anwachsen. | |
Man kann sich die betroffenen Regionen auf der Weltkarte ansehen. | |
Nordamerika und Europa gehören nicht dazu. Dafür der nördliche und zentrale | |
Teil Südamerikas (Brasilien, Ecuador, Venezuela und so weiter), weite | |
Gebiete West- und Zentralafrikas sowie Kenia in Ostafrika, dazu die | |
arabische Halbinsel, der indische Subkontinent, das nördliche Australien | |
und einige Inselstaaten. | |
Natürlich setzen die von Überhitzung betroffenen Menschen alles daran, ihr | |
Lebensumfeld abzukühlen. Aber Klimaanlagen und ihr Betrieb kosten Geld. Die | |
Internationale Energieagentur hat die rasante Zunahme der global | |
installierten Klimaanlagen dokumentiert. Ihre Zahl hat sich seit 1990 von | |
rund 600 Millionen vervierfacht auf aktuell 2,4 Milliarden; sie wird Mitte | |
des Jahrhunderts bei 5,5 Milliarden liegen. Große Energieverbräuche mit | |
hohen Treibhausemissionen sind die Begleiter dieser Entwicklung. | |
Dort, wo keine Abkühlung möglich ist, müssen sich die Menschen auf den Weg | |
machen in bewohnbare, menschenfreundlichere Regionen. Eine Bereitstellung | |
von alternativem Lebensraum ist in keinem Klimamodell vorgesehen. Millionen | |
bleibt nur die Flucht, der nackte Kampf ums Überleben an einem besseren | |
Ort. Doch der Klimawandel wird selten mit dem direkten Verlust von Heimat | |
und Lebensraum von Menschen in Verbindung gebracht. Die Flucht des | |
Kabeljaus aus der zu warmen Nordsee ist uns geläufiger als die der | |
Einwohner in zu heiß gewordenen Landstrichen. | |
Migration ist in diesem Bundestagswahlkampf zum Topthema avanciert, das | |
täglich die Nachrichten flutet. [2][Das Klimadesaster wird dabei komplett | |
ausgeblendet]. Zur Verarbeitung von Klimakatastrophen gehört es eher, sie | |
in Geldbeträge zu übersetzen. | |
## Es geht nicht um Geld, sondern um Leben und Tod | |
Solche Hochrechnungen beziehen sich in aller Regel auf die reichen Länder. | |
Auch bei der jüngsten Feuerkatastrophe in der Millionenmetropole Los | |
Angeles ist die Kostenschätzung – 250 Milliarden Dollar – ein | |
unverzichtbares Attribut, um das verheerende Ausmaß wenigstens monetär | |
einzufangen. | |
Doch es geht beim Klima nicht vorrangig um Geld. Es geht „um Leben und | |
Tod“, wie die Londoner Physikerin und Klimawissenschaftlerin Friederike | |
Otto in ihrem viel beachteten Buch „Klimaungerechtigkeit“ schrieb. | |
Die lebensgefährlichen Fluchtrouten via Mittelmeer und Atlantik nach Europa | |
belegen diese These. Doch in Europa und den USA ziehen diejenigen, die für | |
die Erdüberhitzung die Hauptverantwortung tragen, die Mauern hoch. Und der | |
nicht zu leugnende Zusammenhang zwischen Klimadesaster und Massenflucht | |
verliert sich im politischen Überbietungswettbewerb der Parteien um die | |
härteste Migrationspolitik. | |
11 Feb 2025 | |
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## AUTOREN | |
Manfred Kriener | |
Jörn Schwarz | |
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