| # taz.de -- Politologe über die Christdemokratie: „Der alte Geist lebt weite… | |
| > Welche Rolle spielt Katholizismus heute für konservative Politik in | |
| > Europa? Der Politologe Fabio Wolkenstein über die Schattenseiten der | |
| > Christdemokratie. | |
| Bild: Der damalige österreichische Kanzler Sebastian Kurz und Ungarns Premier … | |
| taz am wochenende: Herr Wolkenstein, Sie haben ein Buch über die dunkle | |
| Seite der Christdemokratie geschrieben. Was genau ist für Sie diese dunkle | |
| Seite? | |
| Fabio Wolkenstein: Wenn man will, kann man es die autoritäre Versuchung | |
| nennen. Zum einen habe ich die historischen Wurzeln untersucht, den | |
| politischen Katholizismus, aus dem die Christdemokratie hervorgegangen ist. | |
| Die entscheidenden Figuren der europäischen Christdemokratie unmittelbar | |
| nach 1945 waren katholische Männer, viele von ihnen wurden noch im 19. | |
| Jahrhundert geboren. [1][Konrad Adenauer in Deutschland], Alcide De Gasperi | |
| in Italien oder Robert Schuman in Frankreich haben die Demokratie | |
| befürwortet, aber zu einem gewissen Grad auch als ein Zeitgeistphänomen | |
| angesehen. Der alte Geist des politischen Katholizismus lebte weiter. | |
| Wie hat sich das gezeigt? | |
| Zum Beispiel in der Akzeptanz von Diktatoren wie Franco in Spanien und | |
| Salazar in Portugal. Ganz besonders bei Salazar, der das Prinzip eines | |
| katholischen, organischen, korporativen Staates am besten umgesetzt hat. | |
| Aber lassen Sie mich noch den zweiten Aspekt erwähnen, der in dem Buch | |
| ebenfalls wichtig ist: eine neue Form von christlichem Nationalismus in | |
| Europa, wie etwa in Ungarn mit der Fidesz-Partei von Viktor Orbán. | |
| Wo genau ist die Verbindung? Fidesz ist im ursprünglichen Sinn keine | |
| christdemokratische Partei und hat auch keine katholische Tradition. | |
| Das stimmt. Aber auffällig ist, dass Fidesz, die sich selbst als | |
| christdemokratisch bezeichnet, aus einem Teil der europäischen | |
| Christdemokratie Applaus bekommt. Und der ist bei der ÖVP und der CSU | |
| besonders stark, wo es die Verbindung zum Katholizismus weiterhin gibt. | |
| Österreich ist ein besonders krasses Beispiel. Hier gab es zwischen 1934 | |
| und 1938 ein zutiefst katholisches, autoritäres Regime, an dessen Spitze | |
| bis zu seiner Ermordung Engelbert Dollfuß stand. Dollfuß wurde sehr lange | |
| in der ÖVP fast wie ein Heiliger verehrt. Und der jetzige Innenminister | |
| Gerhard Karner betreibt noch immer in Niederösterreich ein Dollfuß-Museum, | |
| das alles andere als einen kritischen Blick auf diese Person bietet. Die | |
| Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit hat in der ÖVP, aber auch | |
| in anderen europäischen christdemokratischen Parteien nicht ausreichend | |
| stattgefunden. | |
| Worin genau besteht heute die autoritäre Versuchung? | |
| Bei Orbán im Zuschauen. Ein ganzes Jahrzehnt haben führende europäische | |
| Christdemokraten zugesehen, wie Orbán den ungarischen Staat umgebaut hat, | |
| sie haben ihn als Alliierten angesehen und immer wieder in Schutz genommen. | |
| In CSU und ÖVP hieß es zum Teil ganz offen, dass man viele grundlegende | |
| Ziele Orbáns gutheißt. Es gibt einfach eine sehr konservative Achse von | |
| Bayern über Österreich bis nach Ungarn, in der es auch eine intellektuelle | |
| Übereinstimmung gibt. [2][Kurz und Seehofer haben Orbán eingeladen.] Die | |
| Europäische Volkspartei, die Organisation der christdemokratischen | |
| Mitte-rechts-Parteien im Europäischen Parlament, hat ihn bis 2018 | |
| geschützt, obwohl er den Verfassungsstaat und die Demokratie unterminiert | |
| hat. | |
| Stimmt das heute immer noch? Inzwischen, das muss man fairerweise sagen, | |
| ist Fidesz nicht mehr in der EVP und Markus Söder distanziert sich von | |
| Orbán. | |
| Man muss auch sehen, was jenseits der medialen Aufmerksamkeitssphäre | |
| passiert. Orbán wurde Ende Oktober 2021 zum Vizepräsidenten der | |
| Christdemokratischen Internationalen gewählt. Das Amt teilt er sich unter | |
| anderem mit dem CDU-Politiker Elmar Brok. Außerdem finden trotz Söders | |
| Distanzierung weiterhin Vernetzungstreffen zwischen Fidesz und CSU statt. | |
| Fidesz war ursprünglich eine liberale Partei, jetzt inszeniert sich Orbán | |
| als letzter Kämpfer für christdemokratische Werte. Wie geht das? | |
| Orbán hat Mitte der 1990er Jahre diese strategische Justierung vorgenommen, | |
| als er gemerkt hat, dass er mit einer liberalen, eher zentristischen Partei | |
| in Ungarn nicht weit kommen wird. Er hat den Schulterschluss mit der Kirche | |
| gesucht und die national-konservative Bewegung CCM (Civic Circles Movement) | |
| auf sich ausgerichtet. Auf der rhetorischen Ebene stimmt es sogar, wenn er | |
| behauptet, dass er Dinge ausspricht, die früher auch christdemokratische | |
| Politiker gesagt haben, die besonders für Werte einstehen. Man denke zum | |
| Beispiel an ein sehr traditionelles, patriarchales Familienmodell, das | |
| früher Konsens in der Christdemokratie war. | |
| Da fällt einem schnell die Entwicklung in den USA ein, auch wenn die | |
| treibende Kraft dort die rechte Kirche ist, die vor allem protestantisch | |
| ist. Trotzdem: Sehen Sie Parallelen? | |
| Die wichtigste Parallele ist zweifellos die Übereinstimmung in einigen | |
| zentralen Wertfragen. Übrigens sollte man die Macht ultrakonservativer, | |
| katholischer Eliten in den USA nicht unterschätzen. Sechs von neun Richtern | |
| am Supreme Court, der gerade das Recht auf Abtreibung gekippt hat, sind | |
| Katholiken. | |
| Und dann sind da noch die ÖVP und Sebastian Kurz. Ein anderes Beispiel für | |
| die autoritäre Versuchung? | |
| Ja, die zwei Regierungen von Sebastian Kurz in Österreich sind tendenziell | |
| der dunklen Seite zuzurechnen. Nicht zuletzt wegen der systematischen | |
| Missachtung der Rechtsstaatlichkeit. Die Vorsitzende der österreichischen | |
| Richtervereinigung hat gesagt, sie sehe in Österreich Tendenzen, die in | |
| Richtung Ungarn und Polen gehen. Das muss man ernst nehmen. Zumal dieses | |
| Modell einer ganz auf eine Person zugeschnittenen Partei, die sehr | |
| diszipliniert ist und gewisse Dinge im Dunklen belässt, in manchen Ecken | |
| der CDU durchaus als Blaupause für eine erfolgreiche Erneuerung gehandelt | |
| wurde. Was natürlich auch daran lag, dass Kurz Wahlen gewonnen hat und in | |
| der politischen Kommunikation aalglatt war. | |
| Konservative Politiker wie Jens Spahn und Markus Söder sind nach Wien | |
| gefahren, um sich mit dem erfolgreichen Kurz fotografieren zu lassen, damit | |
| von dessen hellem Schein etwas auf sie abstrahle. Ist das nach dem Absturz | |
| von Kurz vorbei? | |
| Ich glaube, der Lernprozess bei der ÖVP ist, wie wichtig Parteistrukturen | |
| sind, auf die man im Zweifelsfall zurückgreifen kann. Die wurden in der | |
| Kurz-Zeit quasi ausgesetzt, als alles auf diese kleine Gruppe mit Kurz im | |
| Zentrum zugeschnitten war. Aber im Hintergrund gab es sie weiter. Das sind | |
| Parteistrukturen, die letztlich ihren Ursprung Anfang des 20. Jahrhunderts | |
| hatten. Genau das Gleiche könnte bei der CDU auch passieren. | |
| Bei der Auseinandersetzung um die Kanzlerkandidatur zwischen Armin Laschet | |
| und Markus Söder ging es ja auch darum, welchen Einfluss man den | |
| Parteigremien weiterhin zubilligt. Aber etwas allgemeiner mit Blick auf die | |
| autoritäre Versuchung gefragt: Wie ist die Lage in der CDU? | |
| Vielleicht zunächst historisch: Die CDU hat mit dem politischen | |
| Katholizismus viel deutlicher gebrochen als christdemokratische Parteien in | |
| anderen Ländern, sie hat selbst von einer Überwindung der Zentrumspartei | |
| gesprochen. Ihr Verdienst ist ja auch, die Kluft zwischen Katholiken und | |
| Protestanten überwunden zu haben, sonst wäre sie nicht zur Volkspartei | |
| geworden. Insgesamt haben europäische christdemokratische Parteien es lange | |
| geschafft, als Volksparteien eine sehr große Spannbreite von Meinungen und | |
| Personen in die Partei zu integrieren. Das ist eine wichtige historische | |
| Leistung, weil man Leute auf die Demokratie verpflichtet hat, die ihr | |
| skeptisch gegenüberstanden. Dafür waren Integrationsfiguren wichtig wie | |
| Helmut Kohl, aber später auch Angela Merkel. | |
| Unter Merkel ist die AfD entstanden, ihre Integrationskraft hat am Ende | |
| deutlich nachgelassen. Jetzt steht Friedrich Merz an der Spitze einer | |
| gebeutelten CDU, die nach der Niederlage bei der Bundestagswahl versucht, | |
| sich selbst wieder zu finden. Merz galt als konservativer Knochen und es | |
| bestand Sorge, er könnte die CDU Richtung AfD verschieben. Wird die CDU mit | |
| ihm anfälliger für eine autoritäre Versuchung? | |
| Die Frage ist, ob Friedrich Merz eine Integrationskraft wie Kohl oder | |
| Merkel entfalten kann. Er kommt ja ganz klar aus dem konservativen Spektrum | |
| der CDU und das wird er nicht so schnell loswerden. Aber man sieht, dass er | |
| versucht, sich neu zu erfinden, auch weil er klug genug ist zu wissen, dass | |
| es anders nicht funktionieren kann. Aber der Sprung vom Merkel-Gegner, der | |
| durch einen konservativeren Kurs einen Teil der AfD-Wähler zurückgewinnen | |
| will, ist natürlich groß. Er muss nun zum Teil das Gegenteil von dem | |
| machen, von dem er vorher behauptet hat, es sei wichtig, um die CDU wieder | |
| stark zu machen – seine politische Historie ist ein Ballast. | |
| Sehen Sie die Gefahr, dass die CDU einer autoritären Versuchung erliegt? | |
| Die Gefahr ist derzeit nicht sehr groß, zumal es mit dem Krieg in der | |
| Ukraine und der Energiekrise andere Sorgen gibt. Vordergründig ist das also | |
| kein Thema. Aber man muss ja nur ein paar Jahre zurückgehen ins Jahr 2015 | |
| und die große Flüchtlingsbewegung. Und es gibt natürlich weiterhin | |
| innerhalb der CDU die Stimmen, die eine stärkere Annäherung an die Themen | |
| der AfD fordern, und in der CSU weiterhin Leute, die sich an die Partei von | |
| Viktor Orbán anbiedern. Gebannt ist die Gefahr also nicht. | |
| 23 Jul 2022 | |
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| Sabine am Orde | |
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