# taz.de -- Die CDU in der Opposition: „Wir sind staatstragend“ | |
> Nach 16 Jahren an der Regierung muss die CDU sich in der Opposition | |
> zurechtfinden. Auch bei Jens Spahn hat „das Umparken im Kopf“ gedauert. | |
Bild: Große Politik macht er nun mit „Kleinen Anfragen“: Jens Spahn Anfang… | |
wochentaz: Herr Spahn, seit einem Jahr ist die CDU in der Opposition. | |
Wussten Sie noch, wie man Kleine Anfragen schreibt? | |
Jens Spahn: Ja. Ich habe von 2002 bis 2005 eine ganze Reihe davon | |
geschrieben. Und dabei gelernt, dass dies die schärfste Waffe der | |
Opposition ist. Jetzt haben wir bereits verwertbare Erkenntnisse gewonnen, | |
etwa wie viel CO2 eingespart werden könnte, wenn Kernkraftwerke länger | |
liefen. Ich weiß aber auch, dass man mit Anfragen ein Ministerium lahmlegen | |
kann. Das machen wir nicht. | |
Als Gesundheitsminister standen Sie in der Pandemie im Zentrum des | |
öffentlichen Interesses, jetzt sind Sie [1][einer von zwölf Vizes von | |
Fraktionschef Friedrich Merz]. Wie verarbeitet man einen so großen Macht- | |
und Aufmerksamkeitsverlust? | |
Ich habe erst mal vier Wochen lang keine Nachrichten mehr gelesen und ein | |
Corona-Detox gemacht. Es kam ja nicht mehr darauf an, ob ich die Inzidenz | |
kenne. Das Umparken im Kopf hat etwas länger gedauert. | |
Haben Sie an einen Ausstieg aus der Politik gedacht? | |
Ich habe mich geprüft, ob ich mit Anfang 40 weiter Politik machen will, ich | |
bin ja schon 20 Jahre im Deutschen Bundestag und war sieben Jahre in der | |
Regierung. Ich habe gemerkt: Ich brenne noch. Ich will mithelfen, dass wir | |
wieder regieren. | |
Sie galten lange als Hoffnung von Junger Union, Konservativen und | |
Wirtschaftsliberalen in der Union. Als es zum Schwur kam, waren die meisten | |
für Merz. Wie haben Sie das weggesteckt? | |
Ich bin lange genug dabei, um zu wissen: Dankbarkeit ist in der Politik | |
keine Kategorie. Das klingt ein bisschen abgebrühter, als ich es meine. | |
Aber ich hadere damit nicht und halte es mit Johann Strauß’ „Fledermaus“: | |
„Glücklich ist, wer vergisst, was nicht mehr zu ändern ist.“ | |
Wollen Sie noch Kanzler werden? | |
Ich wache, anders als gelegentlich vermutet wird, nicht morgens auf und | |
denke: Wie werde ich jetzt Kanzler? | |
Und später am Tag? | |
Auch dann nicht. Ich habe 2018 für den Vorsitz der CDU kandidiert. Dafür | |
muss man sich das Amt zumindest zutrauen. Seitdem ist viel passiert. Ich | |
möchte, dass die Union wieder regiert. | |
Alexander Dobrindt sagt mantraartig „Opposition ist Opportunity“. Liegt | |
darin eine Chance? | |
Es gibt auch den Satz: Opposition ist Mist. Die Wahrheit liegt irgendwo | |
dazwischen. Wir haben jetzt die Möglichkeit, zu tun, was wir nach drei | |
Jahren offener Führungsfrage und Selbstbeschäftigung als Partei versäumt | |
haben. Also Programmarbeit und Kampagnenfähigkeit entwickeln, klären, wie | |
wir digitaler werden und die Union in der Fläche präsent bleibt. | |
Wie schlägt sich die Union in der Opposition? | |
Da muss man schauen, wo wir herkommen. Es gab eine bittere, völlig unnötige | |
Niederlage. | |
Unnötig, weil selbstverschuldet? | |
In weiten Teilen ja. 2021 war die Stimmung ja nicht, dass es nach 16 Jahren | |
reicht. Die Leute wollten aber zumindest einen guten Grund, um uns zu | |
wählen. Den haben wir nicht geliefert. Es gab eine Zerrissenheit zwischen | |
Mitgliedschaft, Wählerschaft und Führung. Und den Vorwurf: Ihr habt den | |
falschen Kandidaten aufgestellt. Deshalb war es ein Erfolg, dass die | |
Mitglieder der Union mit großer Mehrheit Friedrich Merz gewählt haben. Das | |
hat viel geheilt. | |
Und wie schlägt sich nun die Union in der Opposition? | |
Wir sind in der Krise beides: staatstragend, aber nicht regierungstragend. | |
Das ist mitunter kein einfacher Spagat. | |
Die Union unterstützt das Sondervermögen Bundeswehr, dann attackiert Merz | |
ukrainische Flüchtlinge [2][als Sozialtouristen] und die CSU redet von | |
einer [3][Klima-RAF]. Wo ist das Konzept? | |
Die Ampel setzt ja fast alles um, was wir fordern, Wegfall der Gasumlage, | |
einen Gaspreisdeckel bei 12 Cent und längere Laufzeiten für Kernenergie | |
etwa. Aber sie macht es zu spät und halbherzig. Da muss Kritik im Bundestag | |
sein, auch in einer pointierten Sprache. Das gehört zur Demokratie. | |
Teile der Union arbeiten sich zunehmend [4][am Gendern und an | |
Identitätspolitik] ab. Ist das wichtig – oder Nebensache? | |
Ich kann mich nicht eine Stunde lang mit Winnetou beschäftigen. Aber die | |
Debatte offenbart tiefere Probleme. Laut Allensbach hat die Hälfte der | |
Deutschen das Gefühl, sie könnten nicht mehr sagen, was sie politisch | |
denken. Wenn aus Sicht so vieler Bürger der Diskursraum eingeschränkt wird, | |
ist das für eine plurale, offene Demokratie fatal. Die Union muss der | |
schweigenden Mehrheit wieder öfter eine Stimme geben. | |
So argumentiert die AfD auch. [5][Wie grenzen Sie sich ab?] | |
Wir denken das nicht von der AfD her. Die Aufteilung der Gesellschaft in | |
Opfergruppen widerspricht unserem christlichen Menschenbild und der Idee | |
der Eigenverantwortlichkeit. Wie linke und rechte Parteien nur den Blick | |
auf einzelne Gruppen lenken und das mit Opferrhetorik verbinden, lehnen wir | |
ab. Ich habe mich mit der Frage, was ein reaktionärer Islam für eine freie | |
Gesellschaft bedeutet, schon befasst, als Alexander Gauland sich null für | |
den Islam interessiert hat. | |
Damals war Gauland noch in der CDU. | |
Wir lassen uns den Diskursraum nicht von der AfD verengen. Aber wir müssen | |
zwischen Ressentiment und Problembeschreibung unterscheiden, auch | |
sprachlich. Das ist unser Job. Es macht einen Unterschied, ob man von | |
konservativ-reaktionärem Islam oder von dem Islam und den Muslimen redet. | |
Wir können das Problem ungesteuerter Migration nicht der AfD oder der | |
Linken überlassen. Dann ist die Mitte sprachlos. | |
Die Gesellschaft steht – durch Ukrainekrieg und Energiekrise – unter | |
Hochspannung. Muss die Union nicht vorsichtiger auftreten? | |
Eher muss die Regierung vorsichtiger auftreten. Wenn der SPD-Vorsitzende | |
denen, die wie wir [6][beim Bürgergeld anderer Meinung] sind, Fake News und | |
Trumpismus vorwirft, vergiftet er das Klima. Und das sehr bewusst. | |
Wir fragen jetzt aber nicht Lars Klingbeil nach seiner Verantwortung, | |
sondern Sie. | |
Die Ampel hat monatelang bei Gas- und Strompreis Entscheidungen verzögert | |
und Millionen Familien und Betriebe verunsichert. Das hat mehr | |
Radikalisierung und Vertrauensverlust in unsere Demokratie erzeugt, als | |
jedes Wort der Union es je könnte. | |
Die Union hat beim Bürgergeld behauptet, dass, wer nicht arbeitet, mehr | |
Geld bekommt als jemand mit Mindestlohn. Und falsche Zahlen verwendet. | |
Standen in der taz noch nie falsche Zahlen? Das ist ja nicht bewusst falsch | |
gerechnet worden. Die CSU hat Zahlen eines angesehenen | |
Wirtschaftsforschungsinstitutes zitiert. | |
Wäre da nicht eine Entschuldigung angesagt? | |
Es geht um die Frage, ob sich Arbeiten lohnt oder nicht. Diese Debatte | |
müssen wir führen. Die Zahlen waren nicht korrekt, das Problem bleibt: | |
Reicht es, dass, wer regelmäßig um 6 Uhr aufsteht, nur 200, 300 Euro im | |
Monat mehr hat als jemand, der nicht arbeitet? Unser gemeinsamer Wohlstand | |
wächst nicht, wenn wir nicht oder weniger arbeiten. Deshalb müssen wir | |
fragen: Sind die Anreize richtig gesetzt? | |
Diese Frage geht auch an die Union. Sie waren skeptisch, was die Einführung | |
des allgemeinen Mindestlohns anging, bei der Anhebung auf 12 Euro haben Sie | |
damals nicht zugestimmt. | |
Wir haben uns im Bundestag enthalten. | |
Wie passt das zu Ihrer Erzählung „Leistung muss sich lohnen“? | |
Wir sind skeptisch bei staatlichen Lohnfestsetzungen und den Effekten auf | |
den Arbeitsmarkt. Als der allgemeine Mindestlohn mit unseren Stimmen | |
eingeführt wurde, wuchs die Wirtschaft noch Jahr für Jahr. Jetzt in der | |
Rezession kommt das Lohngefüge massiv unter Druck. | |
Die SPD hat die Bundestagswahl auch mit 12 Euro Mindestlohn gewonnen. Die | |
Union dagegen wirkt sozial kalt. Wo ist Ihre soziale Idee? | |
Unsere Idee ist: Sozial ist, was Arbeit schafft. Das ist aktuell, | |
angesichts einer Rezession, einer möglichen Deindustrialisierung unseres | |
Landes und des drohenden Verlusts von Jobs. Das wäre weniger Wohlstand für | |
alle. Verlieren wir Arbeitsplätze zum Beispiel in der Chemieindustrie mit | |
einem Durchschnittseinkommen von 60- bis 70.000 Euro, dann können wir die | |
Renten- und Krankenversicherung kaum weiter finanzieren. Diese Jobs | |
finanzieren die sozialen Sicherungssysteme. Es gibt das Grundvertrauen, | |
dass, wenn die Union regiert, Arbeitsplätze entstehen und der Wohlstand für | |
alle wächst. | |
Dieses Vertrauen ist zerbrochen. Peter Altmaier begriff als | |
Wirtschaftsminister nicht, dass Wirtschafts- und Klimapolitik eins sind, er | |
würgte den Ausbau der Erneuerbaren ab. | |
Ich teile den Befund nicht. Wir sind beim Ausbau der Erneuerbaren unter den | |
Industrieländern führend. | |
Nicht wegen der CDU. | |
Wir haben zu oft den Eindruck erweckt, dass wir der Förderung der | |
Erneuerbaren nur mit schlechter Laune zustimmen, das stimmt. Das war ein | |
Fehler. | |
Und warum soll man jetzt der Union zutrauen, Klima und Wirtschaft zu | |
verzahnen? | |
Weil wir Realisten sind und sehen, was geht und was nicht. Wir müssen nach | |
dieser Krise bei der Energie Versorgungssicherheit, Bezahlbarkeit, | |
Klimaneutralität neu justieren. Wir können die Energiewende nicht einfach | |
so weitermachen wie geplant. | |
Der Ausbau der Erneuerbaren muss also schneller gehen? | |
Ja, aber das reicht nicht, solange wir sie nicht ausreichend speichern | |
können. Mehr als 70 Gigawatt Stromleistung müssen durchgehend verfügbar | |
sein. Dafür waren mehr Gaskraftwerke als Brücke gedacht. Aber wer in dieser | |
Lage baut Gaskraftwerke? Wir müssen also die Frage neu beantworten, wie wir | |
sowohl die Grund- als auch die Spitzenlast sichern. | |
Und wie? | |
Unter diesen Umständen sehe ich nicht, wie die Ampel 2030 aus Kohle | |
aussteigen und gleichzeitig die Versorgungssicherheit gewährleisten will. | |
Das bereitet mir Sorgen. Deutschland braucht ein neues Energiekonzept. | |
20 Nov 2022 | |
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## AUTOREN | |
Sabine am Orde | |
Stefan Reinecke | |
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