# taz.de -- Putsch in Österreich vor 90 Jahren: Wer ist hier ein Heldenkanzler? | |
> Bevor Hitler kam, regierte Engelbert Dollfuß Österreich autoritär. In | |
> einem kleinen Ort wird diskutiert, was mit seinem Geburtshaus geschehen | |
> soll. | |
Bild: Das unscheinbare Elternhaus von Engelbert Dollfuß | |
Es ist das Elternhaus „unseres großen Bundeskanzlers und Erneuerers | |
Österreichs Dr. Engelbert Dollfuß“. So steht es auf der Marmortafel, die | |
zwischen den zwei Fenstern des einstöckigen, hellgrün gestrichenen | |
Bauernhauses angebracht ist. Davor steckt jetzt ein gelbes, hüfthohes | |
Schild in der Erde: „Wer hat diese Tafel angebracht?“ | |
Um die Antwort auf diese Frage geht es den gut zwei Dutzend Menschen nicht, | |
die an diesem Märznachmittag vor dem Bauernhof im niederösterreichischen | |
Texingtal stehen. Die kennen sie nämlich schon. | |
Die Tafel hängt hier seit den 1930ern, als Dollfuß, zunächst | |
christlichsozialer Bundeskanzler, das Land nach seinen Vorstellungen | |
„erneuerte“: Im März 1933 schaltete er das österreichische Parlament aus | |
und regierte autoritär. Im Jahr darauf verpasste er dem Land eine neue | |
Verfassung, auf dem Papier ein „Ständestaat“, der die Berufsgruppen | |
repräsentierte. In der Praxis war es eine Diktatur. | |
1998 eröffnete in Dollfuß’ Geburtshaus ein Museum, damals von | |
österreichischem Unterrichtsministerium und niederösterreichischer | |
Landesregierung mitfinanziert. Ende 2021 schloss die Gemeinde Texingtal das | |
Museum. Damals wurde nämlich ein neuer Bundesinnenminister angelobt – | |
Gerhard Karner von der Volkspartei (ÖVP), [1][der auch Dollfuß angehört | |
hatte]. Karner war zuvor Bürgermeister von Texingtal gewesen. | |
## Gelbe Tafel auf der Wiese | |
Mit seiner Ernennung war das Museum in die Öffentlichkeit gerückt: eine | |
Ausstellung, die den diktatorischen Kanzler verherrlicht. Das regte auf. | |
Karner hatte sich schon zuvor für eine Neukonzeption des Museums | |
eingesetzt. Nun reagierte die Gemeinde rasch und gab dem Verein „Merkwürdig | |
– Zeithistorisches Zentrum Melk“ den Auftrag, etwas Neues auszuarbeiten. | |
Und der Verein ist es, der an diesem Tag im März ein „Open House“ | |
organisiert hat, um die alte Ausstellung zu zeigen. | |
Bevor sich die Gäste umsehen dürfen, gibt es eine Begrüßungsrunde vor dem | |
Haus. Der Verein war es auch, der die gelbe Tafel in die Wiese gesteckt | |
hat. Sie soll ein bisschen provozieren – und es funktioniert. | |
„Wie hat die Gedenktafel die Nazizeit überlebt?“, fragt Niklas Perzi in die | |
Runde. „Das würde mich viel mehr interessieren.“ Perzi ist Historiker am | |
Institut für ländliche Geschichte im 40 Kilometer entfernten St. Pölten. | |
Seine Frage ist nicht so unschuldig, wie sie klingt. Dollfuß verblutete | |
1934 bei einem Putschversuch der Nationalsozialisten; sein Nachfolger Kurt | |
von Schuschnigg führte das Regime vier Jahre lang fort, bis der Druck | |
Nazideutschlands zu groß wurde. Am 15. März 1938 sprach Hitler vor den | |
jubelnden Massen am Wiener Heldenplatz. | |
Geduldig antwortet Kurator Christian Rabl dem Historiker Perzi, man wisse | |
nicht genau, was während der NS-Zeit mit der Tafel geschah. „Vielleicht | |
wurde sie eingemauert.“ | |
## Kritischer Kontext fehlt | |
Dass Österreich nicht das erste Opfer der Nazis war, gilt seit gut 30 | |
Jahren im Land als Konsens – spät, aber doch. Die Frage, wie | |
unausweichlich, wie faschistisch, wie gut oder wie schlecht für das Land | |
das Dollfuß-Schuschnigg-Regime war, spaltet noch immer. Die Machthaber | |
kämpften gegen die Nazis, aber auch gegen die Demokratie. | |
In der Ausstellung in der jetzigen Form fehlt der kritische Kontext. Die | |
fünf Räume sind liebevoll eingerichtet, mit sorgfältig handbeklebten | |
Schautafeln und säuberlich angeordneten Virtrinen. Die Uniform von Dollfuß, | |
seine Totenmaske und seine Taschenuhr sind zu sehen, eine Bauernstube wurde | |
nachgezimmert, um seine Kindheit zu veranschaulichen. Im Fenster liegen | |
Broschüren mit Wanderungen und Gasthäuser in der Region auf. | |
Die meisten Interessierten an diesem Tag sind aus dem 100 Kilometer | |
entfernten Wien angereist, viele sind selbst Historiker*innen, von der | |
Universität Wien und vom Haus der Geschichte Österreich beispielsweise. | |
Ihre parkenden Autos bilden eine Schlange am Rand der Landstraße. | |
Texingtal hat 1.700 Einwohner*innen, der Regionalbus fährt einmal | |
stündlich. Ein Traktor mäht die Wiese und spart das Gemüsebeet aus. Der | |
Großteil der Historiker*innen, die heute hier sind, teilen die Meinung | |
des Vereins, dass das Museum überarbeitet gehört, weil Dollfuß kein | |
„Erneuerer“, sondern ein Zerstörer war: Er hatte seine Machtübernahme | |
geplant, verfolgte die politische Opposition, führte die Todesstrafe wieder | |
ein und biederte sich an das faschistische Italien an. | |
## Keine hundert Besucher im Jahr | |
„Gibt es eigentlich ein Gästebuch?“, will eine junge Historikerin wissen. | |
Ja, gibt es, aber das hat das Team von „Merkwürdig“ schon mitgenommen, | |
erklärt Kuratorin Johanna Zechner. Sie wollen analysieren, wer dieses | |
Museum besuchte, das lange Jahre kaum jemanden interessierte. Keine hundert | |
Menschen kamen im Jahr. Bis es zusperrte. | |
„Es sind eher die, die hier nicht verankert sind, die es aufregt“, sagt | |
Günther Pfeiffer, Sakko und Turnschuhe, seit anderthalb Jahren | |
Bürgermeister von Texingtal. Auch er ist heute vorbeigekommen. Seine Partei | |
ist die ÖVP. Seit 1945 ist sie im Bundesland Niederösterreich durchgehend | |
die stimmenstärkste Partei, auf Bundesebene koaliert sie mit den Grünen. | |
Bis heute verläuft die Debatte entlang der Parteigrenzen, in | |
sozialdemokratischen Kreisen wird die Periode als „Austrofaschismus“, in | |
konservativen Kreisen als „Ständestaat“ bezeichnet. | |
Dollfuß bleibe für ihn ein Symbol für den Widerstand gegen den | |
Nationalsozialismus, sagt der Historiker Perzi. Und dass die | |
Sozialdemokratie zu dieser Zeit dem Parlamentarismus ebenfalls skeptisch | |
gegenüberstand, komme in den Diskussionen zu kurz. Doch anders als Dollfuß | |
schritten sie in Österreich nie zur Tat. | |
Wie geht es weiter? Das Haus gehört nach wie vor der Verwandtschaft von | |
Dollfuß. Die Gemeinde hat es gepachtet. Im Laufe des Jahres wird der Verein | |
seine Neukonzeption präsentieren, davor wollen sie nichts „über die Medien | |
ausrichten“. | |
Klar ist: Ein Personenmuseum soll es nicht noch einmal werden. Ideen hat | |
der Verein aber viele: Vielleicht wird das Häuschen für wechselnde | |
Ausstellungen, Veranstaltungen und Workshops genutzt. Oder es entsteht ein | |
Museum, das sich breiter mit diesem Abschnitt der österreichischen | |
Geschichte beschäftigt. [2][Wenn man sich denn darauf einigen kann, wie man | |
diese Periode nennt.] | |
31 Mar 2023 | |
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## AUTOREN | |
Anna Goldenberg | |
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