# taz.de -- Nahverkehrszüge werden umgebaut: Zurück in die Vergangenheit | |
> Weniger Rollstuhlplätze, Barrieren auf dem Weg zum Klo und fehlende | |
> Rampen: Niedersachsens Nahverkehr gibt ein Stück Barrierefreiheit auf. | |
Bild: Bekommt ein neues Design – mit weniger Platz für Rollstühle und ohne … | |
BREMEN taz | Die Fahrzeugflotte der Nahverkehrsbetriebe in Niedersachsen | |
bekommt ein neues Design, ein „neuzeitliches“ sogar, wie der Sprecher des | |
Bahnbetreibers Start verspricht: Mehr Fahrgastinformationen, mehr | |
Steckdosen, überall WLAN, toll. Im gleichen Zuge allerdings wird auch die | |
Zahl der Rollstuhlplätze halbiert: Von vier auf zwei. | |
Dort, wo bisher im Steuerwagen Klappsitze genügend Raum für Rollstühle | |
ließen, sind nun auf beiden Wagenseiten feste Sitzplätze und ein Tisch | |
installiert. „Als ich das gesehen habe, habe ich mich erst mal gewundert“, | |
erzählt Kathrin D., „dann habe ich mich aufgeregt.“ Die Rollstuhlfahrerin | |
fährt häufig Zug – und fürchtet nun um ihre Mobilität. | |
Zugfahren mit Handicap ist in Deutschland [1][kein besonders großes | |
Vergnügen] gewesen; in Zügen der Deutschen Bahn können | |
Rollstuhlfahrer*innen nicht spontan mitfahren, weil sie beim Einstieg | |
auf Hilfe angewiesen sind; längst nicht alle Bahnsteige sind barrierefrei. | |
In den Bahnen der Firma Metronom, die etwa zwischen Hamburg und Hannover | |
verkehren, und auch bei den ähnlich gebauten Nahverkehrszügen der Firma | |
Start zwischen Cuxhaven und Hamburg war die Fahrt laut D. dagegen bisher | |
vergleichsweise angenehm. Der [2][Einstieg war selbstständig] und daher | |
auch ohne vorherige Anmeldung möglich, in den Wagen selbst gab es | |
ausreichend Platz zum Rangieren. Gleich mehrere dieser Vorzüge werden nun | |
zumindest reduziert. | |
Zuständig für die Entscheidung, wie Zugwaggons in Niedersachsen auszusehen | |
haben, sind nicht die einzelnen Betreiberfirmen, sondern eine | |
Landesbehörde, die Landesnahverkehrsgesellschaft Niedersachsen (LNVG). | |
Und die will mit dem neuen Design eigentlich Gutes tun für die | |
Barrierfreiheit und eine europäische Richtlinie für | |
Mobilitätseingeschränkte von 2014 endlich umsetzen; [3][bis 2022 soll das | |
geschehen sein]: Unter anderem muss es für Rollstuhlfahrer*innen nun | |
eine Rückenlehne zum Positionieren des Rollstuhls geben, eine Sprechstelle | |
und eine Steckdose. | |
Und: Die neuen Richtlinien sehen vor, dass Begleitpersonen ab sofort einen | |
Anspruch auf einen festen Sitzplatz haben – der Klappstuhl reicht nicht | |
mehr. Mit den neuen Sitzen bleibt aber für einen dritten und vierten | |
Rollstuhl kein Raum – zumindest nicht so, wie die LNVG die Abteile geplant | |
hat. Streng genommen, so Altwig, dürften schon jetzt von den vier Plätzen | |
wohl nur zwei gebraucht werden. „Und nach unserer Erfahrung reicht das | |
auch“, sagt Altwig. | |
„Der Platz reicht nicht“, sagt D. – aus ihrer Erfahrung. „Es kann schon | |
sein, dass laut Statistik im Durchschnitt 1,8 Rollstuhlfahrer*innen | |
die Bahn nutzen. Aber in der Realität sind es halt manchmal mehr“, sagt | |
sie. Sei es zu Stoßzeiten, wenn Pendler*innen unterwegs sind, durch eine | |
zufällige Häufung oder schlicht, wenn mehrere Rollstuhfahrer*innen | |
gemeinsam Urlaub machen. | |
Tatsächlich ist den Verkehrsbetrieben und der LNVG gar nicht bekannt, wie | |
viele Rollifahrer*innen mit Metronom und Co fahren – weder im | |
Durchschnitt noch bei Spitzenauslastung. „Bei den Verkehrszählungen wird | |
nicht unterschieden nach körperlicher Beeinträchtigung“, erklärt Lars | |
Kappel, Pressesprecher beim Verkehrsunternehmen Start. Wie groß der | |
tatsächliche Bedarf ist, bleibt also Gegenstand des je eigenen Gefühls. | |
## Die Maße stimmen – aber passen tun sie nicht | |
Dass weniger Rollstuhlfahrer*innen mitfahren können, ist indes für | |
Kathrin D. längst nicht das einzige Problem der neuen Abteile. Wegen der | |
fest installierten Sitze ist der Zugang zu den Behindertentoiletten enger | |
als zuvor – für große Pflegerollstühle kann es so schwierig sein, durch die | |
Lücke zu kommen. | |
„Die Maße entsprechen alle den Vorgaben“, entgegnet Altwig von der LNVG. Es | |
gebe nur ein grundsätzliches Problem: „Die Pflegefahrstühle werden größer, | |
aber die Züge werden es nicht.“ Aktuell sind die Metronom-Bahnen offiziell | |
nur für Rollstühle bis zu 80 Zentimeter Breite und 1,25 Meter Länge | |
zugelassen. Für Menschen mit beispielsweise Lähmungen reichen solche Stühle | |
aber nicht immer aus. Sprich: die Vorgaben für Maße orientieren sich nicht | |
am Bedarf. | |
## Neue Steuerwagen ohne elektrische Rampe | |
Besonders gravierend empfindet D. die Verschlechterung beim Ein- und | |
Ausstieg. Während viele alte Abteile nur umgerüstet werden, hat Metronom | |
seit dem 20. Juli auch einen ganz neuen Steuerwagen im Einsatz – und in dem | |
fehlen die elektrischen Rampen zum Ausstieg. An älteren Bahnsteigen, an | |
denen der Übergang nicht ebenerdig ist, muss nun das Personal eine Rampe | |
händisch anlegen. Aus gesundheitlichen Gründen können die | |
Mitarbeiter*innen das aber auch ablehnen. | |
Die Vielfahrerin D. hatte bereits das Pech, den neuen Wagen bei einer | |
seiner ersten Fahrten zu erwischen. „Ich musste fast am Bahnsteig stehen | |
bleiben und den nächsten Zug nehmen“, erzählt sie. Zum Glück habe sich der | |
Lokführer doch noch ihrer erbarmt. | |
„Richtig blöd wird das, wenn mehrere Rollstuhlfahrer mitfahren wollen“, | |
sagt Kathrin D. Da der Weg von der Rampe ins Abteil nur möglich ist, wenn | |
die Rampe wieder weg ist, müsste der*die Bahnmitarbeiter*in sie für | |
jede*n einzeln an- und wieder ablegen. „Das sorgt jedes Mal für | |
Verspätung“, prognostiziert D. Sie fürchtet, dass Metronom weitere neue | |
Steuerwagen ohne elektrische Rampe einführen wird. Nicht zu Unrecht: Ein | |
zweiter neuer Wagen soll noch dieses Jahr folgen, 2022 vier weitere. | |
Die LNVG argumentiert, der neue Einstieg verbessere die Barrierefreiheit – | |
zumindest in einer Hinsicht: Die neuen Fahrzeugtüren bekommen eine | |
sogenannte Spaltüberbrückung, die bei ebenen Bahnsteigen die Lücke zwischen | |
Zug und Bahnsteig schließen soll – bis zu 25 Zentimeter sind das | |
mancherorts. „Für Blinde wird das eine Verbesserung“, so Altwig. Für den | |
Einbau einer elektrischen Rampe sei dann kein Platz mehr. | |
Dass Barrierefreiheit technisch zwingend gegeneinander ausgespielt werden | |
muss, stimmt so nicht: In der Schweiz fährt der neue Gotthardzug mit einem | |
ebenerdigen Einstieg für verschiedene Bahnsteighöhen; Ein- und | |
Aussteigende müssen weder eine Lücke überspringen noch Stufen benutzen. | |
Auch die Deutsche Bahn [4][soll bald Züge bekommen,] die nach einem | |
ähnlichen Prinzip funktionieren. Freilich nur für den ICE – für den | |
gewöhnlichen Feld-Wald-und-Kleinstadtzug gelten weiter andere Regeln. | |
2 Aug 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Bahnfahrten-im-Rollstuhl/!5651027 | |
[2] https://www.der-metronom.de/service/barrierefreiheit/ | |
[3] /Barrierefreis-Bahnreisen/!5650947 | |
[4] https://barrierefreiebahn.de/gutes-beispiel/ | |
## AUTOREN | |
Lotta Drügemöller | |
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