# taz.de -- Ausstellung „Barrierefreiheit“: Inklusiv ist nur die Rampe | |
> Die Kunsthalle Osnabrück beschäftigt sich mit der Teilhabe von Menschen | |
> mit Behinderung. Das scheitert, wie ein Besuch mit ExpertInnen zeigt. | |
Bild: Barrierefrei? Die Installation „I Felt People Dancing“ in der Kunstha… | |
Das mit der Kunst? Cevat Mergen, der gerade aus Richtung Küche kommt, | |
deutet durchs Fenster. „Das ist hauptsächlich da draußen!“ Sein | |
Döner-Restaurant „Toros“ im Osnabrücker Arbeiterstadtteil Schinkel ist | |
Außenstandort des Ausstellungsprojekts „Barrierefreiheit“ der Kunsthalle | |
Osnabrück: Links vor dem Eingang stehen Textwände voller Philosophie. Sie | |
sind harte Kost. | |
Neben den Texten wartet eine Bühne auf Bespielung. „Da treten dann Künstler | |
auf“, sagt Mergen. „Das Ganze bringt hier ein bisschen Farbe rein, neues | |
Leben.“ Und neue Gäste. „Die sehen sich das an, setzen sich, trinken was, | |
diskutieren.“ Da kommen dann auch Mergens rotweiße Kunst-Platzdeckchen zum | |
Einsatz, mit Botschaften wie: „Das Gold unter der dunklen Erde | |
unterscheidet sich nicht vom Stein“. Kunst trifft Döner? So senkt man | |
Hemmschwellen. | |
Schon mit ihrem [1][Ausstellungsprojekt „Enttäuschung“] war die Kunsthalle | |
in 2020 angetreten für Barrierefreiheit zu sorgen. Das misslang. Zu elitär | |
die Design-Verliebtheit ihrer Kommunikationsmittel. Zu abschreckend ihre | |
kryptischen Endlostexte. Nun also die zweite Runde. | |
Mehr noch: Barrierefreiheit ist 2021 das Jahresthema der Kunsthalle. | |
Ausgangspunkt, erklärt Direktorin Anna Jehle, seien das | |
Behindertengleichstellungsgesetz und die UN-Behindertenrechtskonvention. Es | |
gehe um die „unterschiedlichen Perspektiven auf die sichtbaren und | |
unsichtbaren Barrieren unseres Zusammenlebens“. | |
Der Anspruch ist ambitioniert: Die Halle löse den Begriff Barrierefreiheit | |
mit den Mitteln der Kunst aus seinem bürokratischen Charakter heraus, „um | |
grundsätzliche und übergreifende Fragen von Ein- und Ausschluss in unserer | |
Gesellschaft zu stellen“. Ein zwischendrin wechselndes Programm von Tyna | |
Adebowale bis Inga Zimperich soll das leisten. | |
Dass das Fassaden-Banner „Es gibt kein neutrales Außen von Rassismus – jede | |
Person und Institution ist davon berührt“ von Natasha A. Kelly und Hannah | |
Marc bereits nach ein paar Stunden von Unbekannten heruntergeschnitten | |
wurde, zeigt, wie notwendig das ist. | |
Aber leistet „Barrierefreiheit“, was der Titel suggeriert? Die | |
Filmraum-Installation „We Cannot Skip This Part“ von Anna Erdmann und | |
Franziska Goralski erweckt zumindest zunächst den Anschein. Sie arbeitet | |
mit einem Bodenleitsystem für Blinde, mit Gebärdensprache. Wer den | |
Info-Screen am Eingang nicht sehen kann, hält sich an den Sound eines | |
Deckenlautsprechers oder tastet nach Braille-Punktmustern. Filme, lernen | |
wir, lassen sich auch ohne Sehsinn erfahren, selbst ohne Gehör. | |
Auch in Alison O’Daniels Klang-, Skulptur- und Video-Installation „I Felt | |
People Dancing“ fühlt sich der Titel der Schau auf den ersten Blick nicht | |
verkehrt an: Hörbeeinträchtigte aus Osnabrück haben der selbst | |
hörbeeinträchtigten US-Amerikanerin vorab Geräuscheindrücke des | |
Ausstellungsorts festgehalten; O’Daniel hat daraus einen tiefblauen Teppich | |
mit Punkten, Pfeilen, Kreisen, Zickzack- und Wellenlinien, Buchstaben | |
gestaltet. Um ihn herum und auf ihm machen Lautsprecher Töne erlebbar, die | |
O’Daniel erzeugt hat, vom hauchzarten Gewisper bis zum berstenden Krachen. | |
Doch so ambitioniert sich die Schau gibt, die MacherInnen sprechen gar von | |
„Forschung“, so schwächenbehaftet ist sie: Ein Rundgang der taz mit | |
Sozialpädagoge Thorsten Lotze vom Osnabrücker [2][„Büro für Leichte Sprac… | |
und Barrierefreiheit“] und seinen Mitarbeitern Osman Sakinmaz und Shpresa | |
Matoshi, beide selbst auf Barrierefreiheit angewiesen, zeigt das deutlich: | |
Ihr Kopfschütteln beginnt schon vor dem Eingang. Der Ausstellungstitel auf | |
dem Außenbanner ist um 90 Grad gekippt und von sinnfreien Designobjekten | |
durchbrochen. Die gewöhnungsbedürftige Schriftart sei für sie „kaum | |
lesbar“, kritisiert Matoshi. „Barrierefreiheit sieht anders aus“, sagt | |
Lotze. | |
Drinnen setzt sich das fort. Der winzige Text an einem der | |
Glasbaustein-Gräber von Sabrina Röthlisbergers „Sabbatum Fever“ nur eine | |
Handbreit über dem Boden? Nicht gut. Eine Kunsthallen-Mitarbeiterin | |
traktiert Sakinmaz mit dem Wort „haptisch“? Auch nicht gut. Texte auf | |
glänzend beschichtetem Papier, das noch dazu rätselhafte Zweitbotschaften | |
birgt? Film-Untertitel in viel zu schneller Abfolge? Mehrere Lautquellen in | |
einem Raum? Englische Texte, französische, unübersetzt? Ein Raumplan, auf | |
dem die Nummerierung der Kunstwerke mikroskopisch klein ist? Texte mit | |
Wörtern wie „Aprioristen“ und „Ableismus“? Anspruch und Wirklichkeit | |
klaffen hier weit auseinander. | |
Lotzes Negativ-Liste wird länger und länger. Vor allem die Textflut, ohne | |
die sich Vieles der Schau nicht erschließt, führt zu Frustration: „So viele | |
Wörter!“, sagt Matoshi, ratlos über den Inhalt. „Und so enggequetscht! Das | |
erschlägt dich doch!“ | |
„Mit leichter Sprache hat das nichts zu tun“, sagt Lotze. Texterklärende | |
Bilder? Fehlanzeige. „Ich finde es gut, dass es eine Ausstellung zur | |
Barrierefreiheit gibt“, fasst Shpresa Matoshi zusammen. „Aber ich würde mir | |
wünschen, dass die Orientierung im Museum barrierefrei wäre und mehr | |
Hinweise gibt.“ | |
Und Osman Sakinmaz sagt: „Ich war heute zum ersten Mal in einer Kunsthalle, | |
und es hat mir sehr gut gefallen. Aber wenn ich alleine dort hin gegangen | |
wäre, hätte ich mich nicht zurecht gefunden.“ Gut, die Rampen, die waren | |
barrierefrei. „Aber das war alles.“ | |
Hier werde deutlich, „wie wichtig es ist, eine solche Ausstellung | |
partizipativ zu planen“, sagt Lotze, zusammen mit Menschen mit | |
Lernschwierigkeiten. „Solche Menschen können nicht selbstständig solch eine | |
Ausstellung besuchen.“ Die Kunsthalle lehrt also nicht, sie selbst muss | |
lernen. | |
7 Sep 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Osnabruecker-Ausstellung-Enttaeuschung/!5706505 | |
[2] http://www.lotze-sprache.de/ | |
## AUTOREN | |
Harff-Peter Schönherr | |
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