# taz.de -- NSU-Tribunal im Schauspiel Köln: „Ich fühle mich so schuldig“ | |
> Fünf Tage lang klagt das erste NSU-Tribunal an: laut und präzise. Nach | |
> viel Recherche werden Agenten, Neonazis und Politiker der Beihilfe | |
> beschuldigt. | |
Bild: Der ehemalige Vorsitzende der IG Keupstraße, Mitat Özdemir, spricht bei… | |
Beate Zschäpe wälzt sich schluchzend auf dem Boden. „Unschuldige Menschen | |
sind gestorben! Ich fühle mich so schuldig, dass ich nicht in der Lage war, | |
auf Uwe Mundlos entsprechend einzuwirken“, ruft sie tränenerstickt. Und | |
referiert gleich darauf, dass im Gefängnis das Haare tönen ein Schnäppchen | |
ist. | |
Schauspielerin Lucia Schulz schafft es auf der Bühne des Depot 1 im | |
Schauspiel Köln sehr schön, die Einlassungen der Hauptangeklagten | |
wortgetreu wiederzugeben und dabei ihre Scheinheiligkeit vorzuführen. Die | |
Inszenierung „A wie Aufklärung“ des Kölner Nö-Theaters bringt die | |
[1][Absurdität der NSU-Aufarbeitung] auf den Punkt – laut, schrill, | |
bösartig und präzise. Die Performer spielen nach, wie Akten geschreddert | |
und Beweismittel abtransportiert wurden, fünf Zeugen angeblich einfach so | |
starben. Aber kann man mit Theater dem NSU-Komplex überhaupt angemessen | |
begegnen? | |
Das Schauspiel Köln, in direkter Nachbarschaft der Keupstraße gelegen, wo | |
2004 das NSU-Nagelbombenattentat verübt wurde, arbeitet schon lange daran, | |
das Trauma der Straße aufzuarbeiten. Etwa mit Stücken wie „Die Lücke“, in | |
der Anwohner selbst auf die Bühne kamen. Für das [2][Tribunal „NSU-Komplex | |
auflösen“] hat es allerdings nur die Infrastruktur bereitgestellt und den | |
eigenen Spielbetrieb unterbrochen. | |
Rund zwei Jahre lang haben rund hundert Aktivisten, Künstler und | |
Antifa-Gruppen ein selbstorganisiertes Gegentribunal vorbereitet, das den | |
bisherigen Prozessen und Untersuchungsausschüssen zum NSU noch etwas zur | |
Seite stellt. So etwas gab es in Deutschland bislang noch nicht – hat aber | |
als prominentes historisches Vorbild die „Russell-Tribunale“ , wie die | |
Pariser Historikerin Chowra Makaremi am ersten Abend erläutert: Bereits | |
1966 rief der britische Philosoph und Literaturnobelpreisträger Bertrand | |
Russell Gegengerichte ein zur Untersuchung der US-Kriegsverbrechen in | |
Vietnam, seitdem wurden so Unterdrückung in Brasilien, der Irakkrieg, der | |
Nahostkonflikt bearbeitet. | |
Es gab sogar einen noch früheren Vorläufer: Als 1933 der Reichstag brannte, | |
organisierte der deutsche Verleger und Kommunist Willi Münzenberg noch vor | |
dem Berliner NS-Fake-Prozess in London ein Gegentribunal. Kritik indes gab | |
es an der selbstorganisierten Justiz, die vor allem Gegenöffentlichkeit | |
schaffen will, allerdings auch immer wieder: sowohl an der Einseitigkeit | |
der angerufenen Zeugen als auch an den Ergebnissen, die stets im Voraus | |
festzustehen schienen. | |
## NSU-Recherche auf eigene Faust | |
Das ist in Köln auch nicht anders, verstört darum aber auch nicht weniger: | |
das akribisch zusammengetragene Recherchematerial zeigt, wie Deutschland | |
durchzogen wird von einem absolut gewaltbereiten und immer aktiveren | |
rechtsradikalen Netz. | |
Eindrucksvoll wird das belegt von Gruppen wie [3][„NSU Watch“], die beim | |
Tribunal täglich die neuesten Ergebnisse zusammenfassen und einen neuen | |
Überblick geben über bereits bekannte beklemmende Beweisvernichtungen und | |
Verschleierungen, Aktenschredderungen und Verfassungsschutz-Verstrickungen. | |
Auch ein Workshop der Jugend-Gerichtswerkstatt „TRAFO“ aus Chemnitz | |
demonstriert das eindrücklich: Angeleitet durch Streetworker und | |
unterstützt durch das Kulturbüro Sachsen, treffen sich hier regelmäßig | |
Jugendliche und erforschen auf eigene Faust, wo das NSU-Trio untertauchte, | |
zeichnen ihre Wege nach, interviewen die Bankangestellten, die damals | |
überfallen wurden, und kommen zu ganz eigenen Ergebnissen. Darüber etwa, | |
wie frei sich Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe im „Untergrund“ in Chemnitz | |
bewegen konnten und dass das erbeutete Geld noch nicht einmal ausreichte, | |
ihre Urlaube zu bezahlen. Wie aber wurden sie sonst finanziert? | |
Vieles erinnert an den fünf Tagen in Köln mehr an einen Kongress als an ein | |
Tribunal. Auch mit inszenierten Kunst-Gerichtsprozessen, wie sie etwa der | |
Theatermacher Milo Rau mit den „Moskauer Prozessen“ oder dem „Kongo | |
Tribunal“ veranstaltete, hat es wenig zu tun. Panels, Workshops, | |
Theaterstücke, Ausstellungen und Vorträge kreisen um die Frage: Wie soll | |
eine Zivilgesellschaft die Lücke aushalten – zwischen der immer | |
offensichtlicher werdenden Realität und Gewaltbereitschaft des | |
weitreichenden NSU-Netzwerks und seiner absolut unzureichenden juristischen | |
Aufarbeitung am Oberlandesgericht München, wo nur fünf Personen oder eine | |
einzige „Terrorzelle“ angeklagt sind? | |
## Opferfamilien eine Stimme geben | |
„Es geht auch um einen Perspektivwechsel: die Opferfamilien sollen eine | |
Stimme erhalten – die sie viel zu oft nicht haben, wenn in München die | |
Beweisanträge der Nebenkläger abgelehnt werden“, sagt Sprecher Tim Klodzko. | |
So hat hier etwa Özcan Yıldırım, Besitzer des durch die Nagelbombe | |
getroffenen Friseursalons, heftig zitternd einen seiner seltenen | |
öffentlichen Auftritte. Er kann davon Zeugnis ablegen, wie sehr es ihn | |
nachhaltig verstört hat, erst knapp entkommen und dann selbst verdächtigt | |
zu werden. Dass die Akten jetzt offiziell geschlossen ist, ist ein neuer | |
Schlag: „Die Wunde kann so nicht geheilt werden“, sagt er. | |
„Mittlerweile habe ich meinen Friseursalon nur noch zum Hinterhof geöffnet | |
und spiele mit dem Gedanken, in die Türkei zurückzugehen“. Yıldırıms Tra… | |
ist deutlich sichtbar – und wird hier in einen weiten Kontext | |
rechtsradikaler Gewalt gestellt. Selbst ehemalige DDR-Migranten kommen zu | |
Wort. Während die Mutter des 1982 von einem Skinhead-Mob ermordeten Terik | |
Güvel spricht, muss eine Dame im Kopftuch schluchzend aus dem Saal geführt | |
werden. | |
Das Tribunal ist mehr eine vielstimmige politische Intervention als eine | |
künstlerische Inszenierung. Dennoch ist den Organisatoren die Kunst dabei | |
extrem wichtig: Von einem „Resonanzraum“ spricht auch der Kölner | |
Filmemacher und Mitorganisator Daniel Poštrak: „Kunst kann die Geschichten | |
der Betroffenen nochmal auf anderer Ebene einer Öffentlichkeit zur | |
Verfügung stellen.“ | |
Die Grenze zwischen Kunst und Aktivismus überschreitet auch Forensic | |
Architecture, eine Gruppe aus Architekten, Künstlern und Filmemachern der | |
Londoner Goldsmith University. Was 2011 ästhetisch begann, ist längst | |
politisch geworden: sie forschen etwa zu Kriegsverbrechen in Syrien oder | |
Palästina. Die Organisatoren des Tribunals haben sie beauftragt, den Fall | |
Andreas Temme weiter zu untersuchen. Temme ist der Verfassungsschützer, der | |
beim letzten dem NSU zugeschriebenen Mord auf Halit Yozgat am Kassler | |
Tatort war. | |
## Neunzig Namen werden darin genannt | |
Mit Kameras und Computertechnik, Geräuschen und Virtual Reality stellte | |
Forensic Architecture bereits im April Schüsse und Wege der Zeugen nach. | |
Während des Tribunals in Köln zeigen sie neueste Ergebnisse: im Depot 1 | |
wies Gründer Eyal Weizman erstmals durch die Computer Log-ins nach, dass | |
Temme den Mord direkt gesehen, gehört oder sogar begangen haben muss. | |
Weizman füllte das bisher ungeklärte Zeitloch von 40 Sekunden im | |
Tat-Ablauf: „Wir haben wieder und wieder alle Möglichkeiten re-enactet – | |
und es ist eindeutig, dass die Summe aller Aktionen nur zulässt, dass Halit | |
Yozgat und Andreas Temme gemeinsam im Raum gewesen sind“, sagt er. | |
Obwohl Forensic Architecture schon seit Jahren als Gutachter in | |
internationalen Gerichten hoch gefragt sind, wurden sie vom Münchener | |
Gericht nicht eingeladen. „Die deutsche Zivilsgesellschaft und Legislative | |
muss selbst entscheiden, was sie mit diesen Ergebnissen macht – wir weisen | |
anhand öffentlich zugänglicher Informationen nur nach, was gewesen ist“, | |
sagt Weizman. | |
Am Ende soll es beim Kölner NSU-Tribunal aber nicht nur um das | |
Zusammentragen von Fakten gehen, nicht nur um das Schaffen einer | |
demokratischen Gegenöffentlichkeit – sondern auch um eine Anklage. Bis | |
Samstagabend um 23 Uhr wurde die Schrift von 67 Seiten penibel unter | |
Verschluss gehalten und schließlich veröffentlicht: Neunzig Namen werden | |
darin genannt, es sind bekannte Neonazis, Geheimdienstler, V-Leute, aber | |
auch hochrangige Beamte, Politiker und Journalisten darunter – zum Beispiel | |
auch die Spiegel-Gerichtsreporterin Gisela Friedrichsen. „Wir hätten auch | |
500 Namen aufschreiben können“, so Tim Klodzko. | |
## Lücke geschlossen | |
Angeklagt wird auch Angela Merkel. „Als Bundesministerin für Frauen und | |
Jugend hat sie Anfang der 1990er Jahre das Konzept der akzeptierenden | |
Jugendarbeit propagiert“, heißt es in der Schrift – ein Großteil der | |
Jugendclubs in den neuen Bundesländern sei fortan zur effizienten | |
Infrastruktur militanter Neonazis geworden. | |
Nach fünf Tagen NSU-Tribunal in Köln bleibt der Eindruck: hier wurde in | |
einer immensen zivilgesellschaftlichen Anstrengung eine Lücke geschlossen | |
zwischen der Realität und der Kapazität eines Gerichts. Mit Theater und | |
Inszenierung hat das direkt nichts zu tun. Und zeigt dennoch, wie auch mit | |
Hilfe von Kunst demokratische Gegenöffentlichkeit geschaffen werden kann. | |
Die Errichtung einer unabhängigen Untersuchungsinstitution, wie beim | |
Kongress lautstark gefordert, scheint überfällig. | |
21 May 2017 | |
## LINKS | |
[1] /Tribunal-zur-NSU-Mordserie/!5406634 | |
[2] http://www.nsu-tribunal.de/ | |
[3] https://www.nsu-watch.info/ | |
## AUTOREN | |
Dorothea Marcus | |
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