# taz.de -- Tribunal zur NSU-Mordserie: „Die Opfer sind keine Statisten“ | |
> Das Leid und die Erfahrungen der Hinterbliebenen spielen in der Justiz | |
> nur eine geringe Rolle. Deshalb haben sie nun in Köln ein eigenes | |
> Tribunal organisiert. | |
Bild: Persönliches Leid hat im NSU-Prozess am Oberlandesgericht in München ke… | |
taz: Herr Arslan, Sie sind Teil des NSU-Tribunals, das ab Donnerstag in | |
Köln eine gesellschaftliche Anklage von Rassismus vorbringen will. Warum | |
braucht es diese Anklage? | |
Ibrahim Arslan: Weil es diese Anklage bisher nicht gibt. Es gibt den | |
NSU-Prozess in München, es gibt die Untersuchungsausschüsse, aber bei allen | |
geht es nicht um das tatsächliche Problem: Dass neun Menschen sterben | |
mussten, weil es Rassisten in dieser Gesellschaft so wollten. | |
In München wird seit vier Jahren gegen Beate Zschäpe und vier Mitangeklagte | |
verhandelt. In den Ländern laufen immer noch fünf Untersuchungsausschüsse. | |
Das alles hat nichts gebracht? | |
Was wird denn da aufklärt? Es ist doch ziemlich offensichtlich, dass der | |
NSU mehr Mittäter hatte als das Trio. Wissen wir, trotz alledem, wer sie | |
waren? Nein. Und sprechen wir darüber, welche Verantwortung der Staat für | |
diese grauenhaften Taten trägt? Nein. Was in München und den Ausschüssen | |
geschieht, ist oft nur Theater. Und wir sind ein Teil davon, indem wir | |
zuschauen und darüber reden, aber sonst nichts daran ändern. Das ist der | |
Grund, warum es jetzt das Tribunal gibt. | |
Das Verfassungsschutzversagen und die Ermittlungsfehler wurden in den | |
Ausschüssen sehr wohl breit thematisiert. | |
Ja, aber hier geht es um mehr als um Fehler. Diese Morde sind geschehen, | |
weil es in diesem Land einen Rassismus gibt, der alltäglich ist. Es haben | |
ja alle von Döner-Morden gesprochen und tatsächlich geglaubt, dass die | |
Opfer Kriminelle waren, obwohl sich dafür nichts finden ließ. Bloß weil sie | |
eben Türken waren. | |
Was will das NSU-Tribunal ändern? | |
Das Tribunal wird den Opfern erstmals eine Stimme geben. Es wird von den | |
Betroffenen geleitet, zusammen mit solidarischen Menschen. Sie werden | |
erzählen, was sie denken und was sie wirklich wollen. Das könnte in die | |
Geschichte eingehen: Dass Opfer auf diese Art in eine aktive Rolle treten | |
und sich nicht mehr instrumentalisieren lassen. Ich bin stolz, dass ich | |
dabei sein kann. | |
Die NSU-Opfer erhielten Entschädigungen, eine Ombudsfrau der | |
Bundesregierung hilft ihnen bei bürokratischen Hindernissen. Das ist zu | |
wenig? | |
Eine einzige Frau, für all die Familien! Aber immerhin. Es geht aber gar | |
nicht um Geld. Die Betroffenen haben andere Forderungen. | |
Welche? | |
Sie wollen eine lückenlose Aufklärung der Morde. Sie wollen, dass die | |
Hintermänner des NSU bekannt werden, die Nazis, die dem Trio das Geld und | |
die Waffen besorgt haben. Sie wollen, dass die Polizisten zur Verantwortung | |
gezogen werden, die die Ermittlungen in die falsche Richtung gelenkt haben. | |
Und es gibt noch eine zweite Tat: Wie diese Gesellschaft mit den Morden | |
umgeht. Wie sie die Betroffenen behandelt, wie die Polizei sie befragt. | |
Dass hier einiges schief lief, darüber reden wir auch nicht. Dabei ist das | |
für mich die schlimmere Tat. Den Mord, den kannst du nicht ungeschehen | |
machen. Aber wenn du die Opfer danach auch noch schlecht behandelst, macht | |
das die Menschen endgültig kaputt. | |
Sie selbst sind Betroffener rassistischer Gewalt. 1992 warfen zwei Neonazis | |
Brandsätze auf das Haus Ihrer Familie in Mölln. In den Flammen starben Ihre | |
Schwester, Oma und Cousine. Sie selbst, damals sieben Jahre alt, | |
überlebten. Was dachten Sie, als Sie 2011 das erste Mal vom NSU hörten? | |
Für mich fühlte sich der Moment an, als ob alles, was in Mölln passierte, | |
sich noch einmal wiederholt. An dem Tag habe ich mein Vertrauen in den | |
Staat komplett verloren, das ich versucht hatte, über die Jahre wieder | |
aufzubauen. Ich bin deutscher Staatsangehöriger, hier geboren, hier | |
aufgewachsen. Ich bin die vierte Generation meiner Familie in Deutschland, | |
meine Kinder sind die fünfte. Da redet man nicht mehr von Integration, da | |
ist man ein Baustein dieses Landes. In dem Moment aber war das alles | |
zerstört. Ich habe den NSU-Opferfamilien sofort meine Hilfe angeboten. Weil | |
wir das ja schon alles erlebt haben. | |
Wie wurde 1992 mit Ihrer Familie nach dem Anschlag umgegangen? | |
Wir sind ja mit den Möllnern aufgewachsen, unsere Nachbarn waren wie ein | |
Teil unserer Familie. Aber nach dem Anschlag waren wir plötzlich der | |
Schandfleck für ganz viele. Weil wir, auch nur dadurch, dass wir da waren, | |
an den Rassismus in der Stadt erinnert haben. Auch heute, wenn wir unsere | |
Gedenkveranstaltung in Mölln veranstalten, sind wir fast unerwünscht. Die | |
Stadt wollte immer lieber ihr eigenes Gedenken machen, mit ihren Rednern | |
und ihren Themen. | |
Sie haben 2013 dann Ihr eigenes Gedenken durchgeführt: die Möllner Rede im | |
Exil. | |
Ja. Das muss man sich mal vorstellen, dass man heute noch darüber streiten | |
muss, wer die Hoheit über das Gedenken hat! Die Opfer sind keine Statisten, | |
sondern Hauptzeugen des Geschehenen. Es geht hier um unsere Geschichten. Es | |
muss vorbei sein, dass wir auf solchen Veranstaltungen nur stumm | |
danebensitzen, wenn andere über uns reden, und am Ende applaudieren. Wir | |
lassen uns nicht mehr mundtot machen. | |
Sie haben mal gesagt, zu oft haben Sie sich bei solchen Gelegenheiten auf | |
die Lippen gebissen. Das sei jetzt vorbei. Was hätten Sie damals sagen | |
wollen? | |
Ich hätte sagen wollen: Leute, worüber redet ihr eigentlich? Was macht ihr | |
hier mit uns, mit unserer Würde? Es gab einen Moment, da dachte ich, jetzt | |
ist der Anschlag auf meine Familie endgültig vergessen. Da wurde auf der | |
Gedenkveranstaltung plötzlich über Religionskonflikte gesprochen, zwischen | |
Kirchen und Moscheen. Da haben wir tatsächlich das Mikrofon ergriffen und | |
gesagt: Wisst ihr nicht mehr, was damals passiert ist? Unsere Familie wurde | |
nicht aus religiösen Gründen umgebracht, sondern aus rassistischen. | |
Auch die NSU-Betroffenen haben den Umgang mit ihren Familien beklagt. Ihre | |
getöteten Familienmitglieder wurden von der Polizei als Kriminelle | |
verdächtigt. Ihre Vermutung, die Täter könnten Rechtsextreme sein, wurden | |
nicht gehört. Was empfinden Sie, wenn sich solche Erfahrungen immer | |
wiederholen? | |
Tja, warum wiederholt sich das? Wenn ich mich mit dieser Frage beschäftige, | |
bekomme ich keine Antwort. Das Einzige, wie wir das durchbrechen können, | |
ist, immer wieder über die Opferperspektive zu sprechen. Davon bin ich fest | |
überzeugt. Wir müssen mit unseren Geschichten in die Öffentlichkeit gehen, | |
in die Schulen, in die Medien. Erst so entsteht Sympathie. Und erst mit der | |
Sympathie können irgendwann auch die Gewalttaten und Vorurteile aufhören. | |
Sie gehen als Zeitzeuge in Schulen, berichten von dem Anschlag in Mölln. | |
Wie sind die Reaktionen? | |
Sehr positiv. Ich frage in den Schulen oft nach den NSU-Opfern. Enver | |
Şimşek, Süleyman Taşköprü, Theodoros Boulgarides und die anderen. 99 | |
Prozent der Schüler sagen dann: Kennen wir nicht. Aber wenn ich frage, | |
kennt ihr Beate Zschäpe, gehen alle Finger hoch. Diesen Fokus müssen wir | |
verändern. Wir müssen die Betroffenenperspektive mehr in den Vordergrund | |
bringen, nicht immer nur auf die Täter schauen. Wenn wir nicht über | |
Rassismus sprechen, hört er auch nicht auf. Die Schüler machen mir da aber | |
Hoffnung. | |
Warum? | |
Fast alle Schüler sagen mir danach, wie beeindruckt sie von den Geschichten | |
meiner Familie oder denen der NSU-Betroffenen sind, von unserer Stärke. Sie | |
haben das Wort Opfer ja immer nur mit Schwäche verbunden. Und nun sehen sie | |
da Leute, die gegen Rassismus kämpfen. Diese Reaktionen sind sehr, sehr | |
wichtig, weil in den Schulen unsere nächste Generation sitzt. Diese Kinder | |
werden später in der Politik arbeiten oder der Polizei. Und dann werden sie | |
sich erinnern: Da gab es doch mal diese Leute, mit denen so schlimm | |
umgegangen wurde, das machen wir anders. | |
Sie haben also Hoffnung, dass Rassismus in dieser Gesellschaft zu besiegen | |
ist? | |
Ja doch, das habe ich. | |
17 May 2017 | |
## AUTOREN | |
Konrad Litschko | |
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