# taz.de -- Die Morde von Mölln vor 25 Jahren: „Das Thema ist ja nie weg“ | |
> Am 23. November 1992 starben drei Türkinnen bei einem Brandanschlag – | |
> verübt von Neonazis. Es gibt drei Gedenkveranstaltungen. | |
Bild: Faruk Arslan überlebte damals, weil er später am Haus der Familie eintr… | |
MÖLLN taz | Sogar Till Eulenspiegel sieht im Novemberregen trübsinnig aus. | |
Der berühmteste Sohn der Stadt Mölln sitzt auf seinem Podest vor der | |
St.-Nicolai-Kirche, ein Bein über das andere geschlagen, das Gesicht zu | |
einem Grinsen erstarrt. Regentropfen laufen über seine von vielen Händen | |
blank gewischten Schuhspitzen. Nicht nur Till, sondern der ganze | |
kopfsteingepflasterte Marktplatz zeigt sich von seiner traurigen Seite. Die | |
Kirche ist von Baugerüsten umstellt. Der städtische Weihnachtsbaum ragt | |
neben Till aus dem Pflaster, ist aber noch ungeschmückt und lässt die | |
nassen Nadeln hängen. Doch vermutlich werden die Gäste, die an diesem | |
Donnerstag in die Stadt kommen, kaum lange auf dem Markt verweilen. Sie | |
kommen nicht wegen Till. Sie kommen wegen des Anschlags. | |
Nur ein paar Straßen vom Marktplatz entfernt steht Faruk Arslan vor dem | |
Haus in der Mühlenstraße 9. Der 53-Jährige ist ein großer Mann in elegantem | |
Wollmantel, den er über einem roten Pullover trägt. Über die weiße Fassade | |
des Hauses zieht sich eine ziselierte Bronzeflamme, und ein Schild erinnert | |
an die Toten. | |
Faruk Arslan war in jener Nacht vor 25 Jahren nicht zu Hause, sondern kam | |
erst dazu, als die Feuerwehr die Löscharbeiten fast beendet hatte. Da starb | |
gerade seine Tochter Yeliz im Krankenwagen. In jener Nacht hatten zwei | |
Neonazis Molotowcocktails in zwei von türkischen Familien bewohnte Häuser | |
geworfen. Im Haus Ratzeburger Straße 13, heute ein Parkplatz, entkamen die | |
BewohnerInnen, viele verletzt, aber lebend. In der Mühlenstraße 9 | |
versperrte das Feuer der Familie, die im oberen Stock schlief, den | |
Fluchtweg. Drei Menschen starben: Bahide Arslan, damals 51 Jahre alt, ihre | |
Enkelin Yeliz (10) und deren Cousine Ayse Yilmaz (14). Ibrahim Arslan, der | |
siebenjährige Bruder von Yeliz, überlebte, weil seine Großmutter ihn in | |
nasse Tücher wickelte. Drei weitere Angehörige erlitten schwere | |
Verletzungen. | |
Heute lebt Faruk Arslan in Hamburg, aber er kommt noch oft in seine | |
Heimatstadt. Er ist bekannt dort – geht er die Straße entlang, wird er von | |
allen Seiten gegrüßt. Oder auffallend ignoriert. In diesen Tagen, kurz vor | |
dem 25. Jahrestag, hat er sich in Mölln einquartiert: „Damit sich die | |
Medien nicht alle auf einmal auf mich stürzen“, sagt er. | |
## Der Bürgermeister: „Teil unserer Stadtgeschichte“ | |
Die runden Jubiläen seien am schlimmsten, „aber das Thema ist ja nie weg“, | |
sagt Bürgermeister Jan Wiegels. Die Stadt begeht den Gedenktag alle Jahre, | |
aber auch sonst spiele der Anschlag eine Rolle: „Es ist Teil der jüngeren | |
Stadtgeschichte“, sagt der SPD-Politiker. „Wenn ich Mölln erwähne, fällt | |
den Leuten als Erstes die Eulenspiegel-Stadt ein. Und dann kommt meist ganz | |
schnell: Mölln – da war doch was.“ Der Bürgermeister mit seiner langen | |
Gestalt, den hellen Haaren und den blassblauen Augen sieht typisch | |
norddeutsch aus. Er ist nur gerade etwas müde. | |
Seit fast vier Wochen dreht sich in der Stadtverwaltung fast alles um das | |
Vierteljahrhundertjubiläum. Schon im Vorfeld häufen sich die Anfragen nach | |
Interviews von Zeitungen und Sendern aus der ganzen Republik. Die Fragen | |
gleichen sich: Warum passierte der Anschlag ausgerechnet in Mölln? Wie geht | |
die Stadt heute mit den Ereignissen um? Und wie läuft das Gedenken ab? | |
Denn darüber gibt es Streit, und den seit Jahren. Es wird am Donnerstag in | |
Mölln nicht nur eine Veranstaltung geben, sondern gleich zwei, und das ist | |
schon seit ein paar Jahren so. Dazu kommt ein drittes Gedenken, das seit | |
2013 „im Exil“ stattfindet. Beim Festakt der Stadt sprechen in diesem Jahr | |
Aydan Özoğuz, Staatsministerin für Migration, Flüchtlinge und Integration, | |
der türkische Botschafter, VertreterInnen von Ditib und evangelischer | |
Kirche. Parallel begehen die Familie und ihr „Freundeskreis“ vor dem | |
Brandhaus das traurige Jubiläum. Im besten Fall ergänzen sich beide | |
Veranstaltungen. | |
Faruk Arslan wird eine Rede bei der städtischen Feier halten: „Ich habe das | |
letzte Wort.“ Auch sein Sohn Ibrahim wird sprechen – wieder, nach einer | |
Pause von fünf Jahren. Ein Zeichen von Versöhnung? „Wir haben keinen | |
Streit“, sagt Faruk Arslan. „Aber man muss sich einen Schubs geben und | |
zugeben, dass etwas falsch war.“ Und diesen ersten Schritt solle die Stadt | |
gehen. „Die Familie muss nicht nachgeben.“ | |
## Der Verein „Miteinander Leben“: Nicht nur Lichterketten | |
Nach dem Brand herrschte bundesweit Entsetzen, am meisten in Mölln selbst. | |
Die Arslans waren bekannt im Ort, Bahide Arslan hatte einen kleinen | |
Gemüseladen gehabt, die Familie war bestens integriert. Viele Menschen | |
wollten mehr tun, als Lichterketten zu bilden. „Wir haben den Verein wenige | |
Wochen nach dem Anschlag gegründet“, sagt Antje Buchholz, zweite | |
Vorsitzende von „Miteinander leben“ e. V. In einem Haus an einem schmalen | |
Weg, der vor einigen Jahren nach Bahide Arslan benannt worden ist, hat der | |
Verein eine Begegnungsstätte und ein Café eingerichtet, inzwischen kommen | |
vor allem Geflüchtete dorthin. Auch der Verein begeht in diesem Jahr sein | |
25-jähriges Bestehen. Buchholz, blond, bebrillt und adrett in Weiß und Rosa | |
gekleidet, arbeitet in der Stadtverwaltung, sie kann organisieren und | |
anpacken. Trotzdem „sind wir selbst erstaunt, was wir alles geleistet | |
haben“, sagt sie. Viel direkte Hilfe zählt dazu: Spenden sammeln für die | |
Opfer der Brandanschläge damals, für Geflüchtete heute. Sprachkurse und | |
weitere „Angebote der Willkommenskultur“. Und die politische Arbeit: | |
Ausstellungen und Vorträge zum Thema Rassismus, Aufklärung in Schulen. | |
Sicher gehe es um Gedenken, sagt Buchholz. „Aber dabei darf man doch nicht | |
stehen bleiben. Es muss darum gehen, dass so etwas nie wieder geschieht.“ | |
Eben das geschehe viel zu wenig in Mölln, kritisiert Benjamin, ein Aktivist | |
bei der Antifa im Kreis Herzogtum-Lauenburg, in dem Mölln liegt, und der | |
nur seinen Vornamen gedruckt sehen möchte. „Es gibt eine aktive | |
Neonaziszene, aber das wird ignoriert“, sagt er. Vor einigen Jahren habe | |
ein Rechtsrockkonzert in einem Örtchen unweit von Mölln stattgefunden. | |
Neonazis seien in Freien Kameradschaften organisiert. „Aber die | |
Kommunalpolitik will sich in ihrer Kleinstadtruhe nicht stören lassen. Das | |
Motto scheint zu sein: Bloß nicht wieder in die Schlagzeilen kommen.“ | |
Die Antifa unterstützt den „Freundeskreis im Gedenken an die rassistischen | |
Brandanschläge in Mölln 1992“, der den Familien Arslan und Yilmaz helfen | |
will. Mit dabei engagiert sich die auf Opferrechte spezialisierte Anwältin | |
Katrin Kirstein, der Faruk Arslan die „höchste Stelle in meinem Kopf“ | |
einräumt. Der Freundeskreis organisiert seit 2013 die Gedenkveranstaltung | |
außerhalb von Mölln, die „Möllner Rede im Exil“. In diesem Jahr fand sie… | |
Berlin statt. Es soll eine politische Rede sein, die den Blick von der | |
Kleinstadt hebt und das ganze Bild zeigt – den Rassismus in der | |
Gesellschaft, das Wegschauen, das die Taten des NSU erst möglich gemacht | |
hat. | |
## Familie Arslan zwischen Hilfe und Zurückweisung | |
„Wir haben die Möllner Rede erfunden“, sagt Antje Buchholz. Der Verein | |
„Miteinander leben“ organisierte zehn Jahre lang die Gedenkfeiern. „Wir | |
wollten nicht nur zurück-, sondern darüber hinausschauen.“ Sie klingt fast | |
wie der Antifa-Aktivist Benjamin, der das Unpolitische beklagt, und wie | |
Faruk Arslan, der betont: „Die Möllner Taten sind nicht Mölln, die | |
Botschaft muss überall gehört werden.“ | |
Worum geht es eigentlich? Um zu wenig Respekt für die Familie? Um zu wenig | |
Politik? Um zu wenig oder zu viel Rückschau? In Mölln sind die Dinge, die | |
auf den ersten Blick gegensätzlich erscheinen, unerwartet miteinander | |
verwoben. Sogar in der Stadt selbst. Das Stadtmuseum mit Fachwerkfassade | |
ist von der anderen Seite die Moschee. Das Brandhaus in der Mühlenstraße, | |
heute Bahide-Arslan-Haus, ist über den Hinterhof mit der alten Lohgerberei | |
verbunden, dem Gebäude des Vereins „Miteinander leben“. Es lohnt sich, um | |
eine weitere Ecke zu gehen. | |
Der Streit, der nach Faruk Arslans Worten keiner ist, eskalierte vor fünf | |
Jahren. Auslöser war, dass die damaligen Vertreter des Landes | |
Schleswig-Holstein, Ministerpräsident Torsten Albig (SPD) und | |
Landtagspräsident Klaus Schlie (CDU), [1][nach ihren Reden die | |
Veranstaltung verlassen wollten], noch bevor die Angehörigen der Opfer | |
gesprochen hatten. Mitglieder der Familien umringten die Politiker, die | |
schließlich blieben und Reden unter anderem von Beate Klarsfeld anhörten. | |
Eine wichtige politische Rede, meinen die einen. Eher peinlich, nicht | |
einmal Mölln und Köln hielt die damals 73-Jährige auseinander, sagen | |
andere. | |
Seither findet die „Möllner Rede im Exil“ statt, in diesem Jahr verlas der | |
Sohn der Auschwitz-Überlebenden Esther Bejarano in Berlin eine Rede seiner | |
erkrankten Mutter. Dass die Veranstaltung wieder nach Mölln zurückkehrt, | |
ist unwahrscheinlich. Für kommendes Jahr ist sie in Wien geplant. | |
Familie Arslan hat in der Zeit nach dem Anschlag Hilfe, aber auch | |
Zurückweisung erlebt. Anfangs galt Faruk Arslan als Verdächtiger, bevor die | |
Polizei die wahren Täter ermittelte. Bis heute fehle es dafür an einer | |
Entschuldigung. | |
„Ich habe meine Tochter und meine Mutter verloren, um uns sollte es gehen“, | |
sagt Faruk Arslan. Er sitzt in einem Bäckerei-Café, spielt mit einer | |
Wasserflasche. Alle Weile zündet er sich eine Zigarette an, „ich rauche zu | |
viel“. Die Stadt habe viel zu lange gezögert, bis eine Straße nach Bahide | |
Arslan benannt wurde, und dann war es nur der kleine Weg zum Kurpark, nicht | |
die Mühlenstraße, wie der Freundeskreis gefordert hatte. Und die | |
Gedenkveranstaltungen hätten anders verlaufen können. | |
„Die Familie ist 20 Jahre lang bei den Gedenkveranstaltungen mitgegangen. | |
Wenn etwas falsch war, hätte man es vielleicht sagen können“, findet Antje | |
Buchholz. „Klar ist, dass Mölln unter besonderer Beobachtung steht“, sagt | |
Bürgermeister Wiegels. Ja, es gebe einen „braunen Bodensatz im Ort, wie | |
leider in jeder Stadt“. Darum hätte der Anschlag überall passieren können … | |
tatsächlich brannte es damals kurz danach in Solingen. Heute halte sich die | |
Szene zurück. Vorfälle wie das Rechtsrockkonzert und Hakenkreuzschmiereien | |
geschähen in Orten einige Kilometer entfernt. Keine Pöbeleien oder Angriffe | |
auf Geflüchtete: „Das wäre verheerend gewesen.“ Die Stadt leiste viel, um | |
das Gedenken wachzuhalten und gleichzeitig gegen rechts zu arbeiten. | |
## Mölln will nicht als eine Nazistadt gelten | |
Der Freundeskreis beklagt, dass in den vergangenen Jahren kaum noch | |
MöllnerInnen den Gedenktag begleiteten. „Ist doch klar“, sagt jemand aus | |
der Stadt. „Wenn die Freundeskreis-Leute über Lautsprecher verkünden, dass | |
Mölln eine Nazistadt ist, wer will sich denn da freiwillig beschimpfen | |
lassen.“ | |
„Mölln ist keine Nazistadt, das würde ich nie sagen“, beteuert Faruk | |
Arslan. Die lautstarke Kritik kommt vor allem [2][von seinem Sohn Ibrahim]. | |
„Ich habe ihm geraten: Wenn du kritisierst, nimm eine Nadel, keinen | |
Hammer.“ Er hebt die Schultern. „Aber er ist erwachsen, er muss das selbst | |
wissen.“ Ob etwas passieren wird bei der heutigen Veranstaltung – ein | |
Protest, eine Demo, eine große Aktion? Nein, meint der Vater und | |
wiederholt: „Es gibt keinen Streit.“ | |
Dass in diesem Jahr der türkische Botschafter erscheint, ist für Faruk | |
Arslan ein Triumph: „Sie zeigen, dass sie uns nicht alleinlassen. Endlich.“ | |
Frage: Steht nicht zu befürchten, dass seine Trauer und seine Familie von | |
der Regierung Erdoğan politisch instrumentalisiert werden? Eine Gelegenheit | |
für den türkischen Regierungschef, sich als Schützer der TürkInnen im | |
Ausland zu zeigen? Faruk Arslan wippt mit dem Fuß, wie immer, wenn ihm eine | |
Frage nicht gefällt. „Türkei und Deutschland sind Geschwister, sie sollten | |
ihre Konflikte schnell beheben.“ | |
23 Nov 2017 | |
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Esther Geißlinger | |
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