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# taz.de -- Kommentar 25 Jahre Lichtenhagen: Der Bruch der Zivilisation
> Vor 25 Jahren sah die Nation vier Tage lang dem Pogrom in
> Rostock-Lichtenhagen zu. Könnte so etwas wieder geschehen?
Bild: Am Ort des Pogroms sieht es heute friedlich aus. Aber ist die Zivilgesell…
Was vor 25 Jahren [1][in Rostock-Lichtenhagen geschah], war nicht nur ein
rechtsradikaler, rassistisch motivierter Überfall auf Migranten. Es waren
auch nicht einfach Neonazis, die dort die Sonnenblumenhaus genannte
Unterkunft für Vietnamesen angriffen. Es handelte sich um ein Pogrom.
Damals griff ein Mob aus Randalierern und Rechtsradikalen in aller
Öffentlichkeit mit Brandsätzen und Steinen Menschen an und nahm dabei in
Kauf, dass diese sterben könnten. Schaulustige Nachbarn applaudierten. Die
Polizei sah tagelang nahezu tatenlos zu. Über 100 verängstigte Menschen
entgingen nur knapp ihrem Tod.
Was in Lichtenhagen geschah, war ein Tabubruch. Erstmals seit dem Jahr 1945
glaubten die Täter und Gaffer tatsächlich und bestärkt von einer mindestens
unfähigen Polizei, im Namen des Volkes brandschatzen und morden zu können.
25 Jahre sind seit dem Pogrom vergangen.
Die Zahl der seitdem geschehenen rassistisch und antisemitisch motivierten
[2][Brandanschläge], Morde und Mordversuche ist Legion. Als die taz zu den
letzten Jahreswechseln eine Bilanz ziehen wollte, musste sie scheitern: Es
waren zu viele einzelne Vorfälle, um diese alle in der gedruckten Zeitung
dokumentieren zu können.
## Damals galt in Deutschland das Blutrecht
Und doch hat sich [3][einiges verändert seit Lichtenhagen]. Damals weigerte
sich Bundeskanzler Helmut Kohl, zu den Anschlagsorten in Mölln, Solingen
oder Lichtenhagen zu fahren, um seine Solidarität mit den Angegriffenen zu
bekunden. Stattdessen brachte er den mordbereiten Rassismus im Bundestag in
Zusammenhang mit einer allgemein gestiegenen Kriminalitätsrate und
verharmloste ihn so.
Da reagiert Angela Merkel anders.
Damals galten Ausländer, dunkelhäutigere gar, in diesem Land vielen
Deutschen als Fremde, mit denen man nichts zu tun haben wollte. Heute
bringen bis ins kleinste Dorf deutsche Bürger Flüchtlingen die neue Sprache
bei, helfen ihnen im Alltag, unterstützen sie bei der Arbeitssuche. Damals
galt in Deutschland das Blutrecht. Heute haben wir ein neues
Staatsbürgerschaftsrecht.
Dafür haben wir leider die AfD, die vor dem Einzug in den Bundestag steht –
und das Asylrecht praktisch abschaffen will. Und auch heute geschehen
Angriffe auf Flüchtlinge nicht nur im Geheimen. Wir erinnern uns an
[4][Clausnitz], als der Mob eine Flüchtlingsgruppe im Bus ins Visier nahm.
Wir denken [5][an Heidenau], als sich dort gemeine Bürger hinter
NPD-Flaggen versammelten und gewaltsam versuchten, der Zuzug von
Flüchtlingen zu verhindern.
Gemeinsam ist diesen Fällen des öffentlich begangenen und applaudierten
Zivilisationsbruchs, dass sie im Osten der Republik geschahen, wo
Demokratie und Menschenrechte ganz offenbar einer stärkeren Verankerung
bedürfen.
## Tagelang zusehen geht nicht mehr
Ob Lichtenhagen wieder geschehen kann? Ausschließen lässt sich das nicht.
Doch eines spricht dagegen: Ich bin mir sicher, dass heute anständige
Menschen diesem tagelangen Treiben nicht mehr nur im Fernsehen zuschauen
würden. Sie würden gegen den rassistischen Mob eingreifen. Im Namen der
Zivilisation.
22 Aug 2017
## LINKS
[1] /Kommentar-Aus-fuer-Asylheim-in-Rostock/!5328857
[2] /Anschlaege-auf-Unterkuenfte-2016/!5367296
[3] /Wie-vor-20-Jahren/!5265921
[4] /Uebergriff-gegen-Fluechtlinge-in-Clausnitz/!5390690
[5] /Polizeichef-zu-Attacken-auf-Fluechtlinge/!5283935
## AUTOREN
Klaus Hillenbrand
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Alice Weidel
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