| # taz.de -- Abschlussbericht des NSU-Ausschusses: „Mehr als ernüchternd“ | |
| > Die Abgeordneten beanstanden das Versagen der Sicherheitsbehörden bei der | |
| > Suche nach Mittätern. Sie sehen das V-Leute-System als gescheitert an. | |
| Bild: Die Angehörigen der NSU-Opfer haben den Staat wegen der Ermittlungspanne… | |
| Berlin taz | Zehn Morde, drei Anschläge, 15 Raubüberfälle. Für die | |
| schlimmste rechtsterroristische [1][Mordserie] steht bis heute Beate | |
| Zschäpe vor Gericht. Der Bundestag hat nun Bilanz gezogen und seinen | |
| zweiten Bericht zu den Terrortaten des Nationalsozialistischen Untergrunds | |
| (NSU) vorgelegt. Die Kritik an den Sicherheitsbehörden ist darin deutlich – | |
| und kommt von allen Fraktionen. | |
| Nachdem der Untersuchungsausschuss des Parlaments zum NSU seit Dezember | |
| 2015 getagt hat (es war bereits der zweite), wollen die Abgeordneten nun am | |
| Donnerstag ihren Abschlussbericht verabschieden. | |
| Der taz lag der weit über 1.000 Seite umfassende Report vorab vor. Hier in | |
| Auszügen die wichtigsten Kritikpunkte: | |
| Die Helfer | |
| Bis heute sieht die Bundesanwaltschaft den NSU als Trio: Beate Zschäpe, Uwe | |
| Mundlos, Uwe Böhnhardt. Der Ausschuss sieht das anders: Es ließen sich | |
| „zahlreiche unmittelbare und mittelbare Kennbeziehungen der Terrorgruppe | |
| NSU in die lokalen, regionalen und überregionalen Neonaziszenen | |
| nachweisen“. | |
| So erschossen die Terroristen in Dortmund den Kioskbetreiber Mehmet Kubașik | |
| in der Mallinckrodtstraße. Das war wenige Meter von einer damals bei | |
| Neonazis beliebten Gaststätte entfernt, dem Deutschen Hof. Auch in der | |
| Straße wohnte Siegfried „SS-Siggi“ Borchert, eine führende Szenegröße. … | |
| gleich mehrere Dortmunder Neonazis pflegten Kontakte nach Thüringen oder | |
| zum militanten Blood-&-Honour-Netzwerk, das den NSU unterstützte – einer | |
| von ihnen hielt mit Zschäpe noch in Haft Briefkontakt. | |
| Bemerkenswert auch der Fall der Sächsin Mandy Struck. Dem NSU-Trio | |
| vermittelte sie die erste Wohnung nach dem Untertauchen, Zschäpe lieh sie | |
| ihre Personalien. Dennoch konnte sich Struck den Ermittlern als unbedeutend | |
| präsentieren. Der NSU-Ausschuss gewann ein anderes Bild: Eine „Macherin“ | |
| sei Struck gewesen, wiederholt an Neonazi-Aktionen beteiligt und mit | |
| Szeneangehörigen liiert. Sie stehe für Helfer, die Ermittler „intensiver in | |
| den Fokus nehmen“ hätten müssen. | |
| Eine „strukturelle Aufhellung des breiteren Unterstützernetzwerks ist nicht | |
| erfolgt“, lautet das bittere Fazit aller Fraktionen. Dabei sei „deutlich | |
| ersichtlich, welche Protagonisten und Netzwerke an deren einzelnen Tat- und | |
| Aufenthaltsorten Kontakt zu Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe hatten“. | |
| Die Folge: Bis heute dürften NSU-Helfer unbehelligt herumlaufen. Der | |
| Ausschussvorsitzende Clemens Binninger (CDU) sagte am Mittwoch bei einer | |
| persönlichen Bilanz im Bundestag: „Unsere Zweifel, dass der NSU nur ein | |
| Trio war, sind nicht kleiner geworden.“ | |
| Die DNA-Spuren | |
| An keinem einzigen der 27 NSU-Tatorte wurden DNA-Spuren von Böhnhardt, | |
| Mundlos oder Zschäpe gefunden. Dafür gibt es etwa vom Tatort in Heilbronn, | |
| wo der NSU 2007 die Polizistin Michéle Kiesewetter erschoss, bis heute | |
| sechs ungeklärte DNA-Funde. Die Ermittlungen dazu wurden 2011 abgebrochen – | |
| „bedauerlich“, wie der Ausschuss findet. Von den mehr als 100 bekannten | |
| Kontaktpersonen des NSU gebe nur von 31 DNA-Muster. Auch sei der vorletzte | |
| Unterschlupf des Trios, eine über Jahre genutzte Wohnung in der Zwickauer | |
| Polenzstraße, nie auf Spuren untersucht worden. Der Bericht kritisiert: Es | |
| sei „zu bedauern, dass im Rahmen der Ermittlungen nicht auf eine | |
| konsequente und umfassende DNA-Erhebung Wert gelegt“ wurde. Erstaunlich sei | |
| dies auch, da die NSU-Opferangehörigen durchaus um freiwillige DNA-Abgaben | |
| gebeten wurden. | |
| Die Funkzellendaten | |
| Am 15. Juni 2005 wurde Theodoros Boulgarides in München vom NSU erschossen. | |
| Am Tatnachmittag konnte ein Anruf auf ein Handy von Böhnhardt oder Mundlos | |
| ermittelt werden, abgegeben von einer Telefonzelle in der Nähe des | |
| Trio-Unterschlupfs in Zwickau. War es Zschäpe? Die Ermittler wissen es | |
| nicht. Der Ausschuss kritisiert: Viel zu sporadisch seien Funkzellendaten | |
| überprüft worden. Dabei seien in den Ermittlungen etwa 82 Rufnummern | |
| aufgetaucht, die gleich an drei NSU-Tatorten in Funkzellen eingebucht | |
| waren. Dem nachzugehen, hätte „umfassender erfolgen können und müssen“. | |
| Die V-Leute | |
| „Primus“ nannte der Bundesverfassungsschutz seinen Zwickauer V-Mann Ralf | |
| Marschner. Von 1992 bis 2002 berichtete der Rechtsrockmusiker, zehnfach | |
| verurteilt, dem Amt aus der Szene. Der NSU-Ausschuss erklärt, Marschner | |
| hätte „aufgrund seiner kriminellen Vita weder als V-Mann angeworben noch | |
| zehn Jahre lang durch denselben V-Mann-Führer geführt werden dürfen“. | |
| Ein Zeuge berichtete im Ausschuss, Marschner habe Mundlos in seiner | |
| Baufirma beschäftigt, ein anderer will Zschäpe in dessen Modeladen gesehen | |
| haben. Beide Zeugen seien „glaubwürdig“, heißt es in dem Bericht. Der | |
| ehemalige Spitzel indes bestreitet, das Trio jemals gekannt zu haben. Für | |
| den Ausschuss ist das „lebens- und realitätsfremd“. | |
| Harsch fällt auch das Urteil über den V-Mann Thomas „Corelli“ Richter aus. | |
| Sechzehn Jahre hatte der bestens vernetzte Neonazi dem Verfassungsschutz | |
| zugearbeitet. Ein viel zu enges Verhältnis habe es hier zu seinem | |
| V-Mann-Führer gegeben, der sich selbst einmal als „Sozialarbeiter“ | |
| beschrieb und seinen Spitzel als „Demokraten“. Dass der Verfassungsschutz | |
| eine DVD mit der Titeldatei „NSU/NSDAP“, die ihm „Corelli“ übergab, ni… | |
| auswertete, sei ein „schwerwiegender Fehler“ gewesen. Denn zuvor war in | |
| einem Neonazi-Heft bereits einem „NSU“ gedankt worden. Spätestens jetzt | |
| also hätte man „vertiefte Nachforschungen“ anstellen müssen, wer hinter d… | |
| Kürzel steckt. | |
| Für den Ausschluss ist bis heute „nicht ausgeschlossen“, dass „Corelli�… | |
| Kenntnisse über das Trio hatte. Bei seinem plötzlichen Tod wegen eines | |
| diabetischen Komas sehen die Parlamentarier indes keine Fremdeinwirkung. | |
| Ihr Urteil aber ist klar: „Höchst problematisch“ sei der V-Leute-Einsatz in | |
| der Zeit der NSU-Taten verlaufen. Immer wieder seien „sehr junge, | |
| vorbestrafte, ökonomisch von den Zahlungen des BfV abhängige | |
| Führungsaktivisten“ verpflichtet worden. Viele hätten die Szene weiter | |
| gestützt. So habe „Corelli“ zahlreiche rechte Onlineseiten betrieben – u… | |
| sich vom Geheimdienst seine Technik finanzieren lassen. Damit, so | |
| kritisiert der Ausschuss, habe sich die Szene „jahrelang vernetzen und | |
| Aktivitäten planen können“. | |
| Ihre gemeinsame Forderung: V-Mann-Führer müssten künftig rotieren oder im | |
| Sinne eines „Vier-Augen-Prinzips“ enger mit ihren Stellvertretern | |
| zusammenarbeiten. Linke und Grüne fordern in ihren Sondervoten zum Bericht | |
| mehr: V-Leute im rechtsextremen Bereich müssten generell abgeschafft | |
| werden. | |
| Der Verfassungsschutz | |
| Auch der Geheimdienst kommt insgesamt nicht gut weg. Just am 11. November | |
| 2011, dem Tag des öffentlichen Bekanntwerdens der NSU, ließ im | |
| Bundesverfassungsschutz der Referatsleiter Lothar Lingen die Akten von | |
| sieben Thüringer V-Leuten schreddern. Warum? Er habe „endlose Prüfaufträge… | |
| vermeiden wollen, offenbarte Lingen 2014 der Bundesanwaltschaft. Und: Er | |
| habe gehofft, dass dann „die Frage, warum das BfV von nichts gewusst hat, | |
| vielleicht gar nicht auftaucht“. Für den Ausschuss ist damit erwiesen, dass | |
| Lingen die Existenz der V-Leute „verschweigen“ wollte. | |
| Insgesamt habe der Verfassungsschutz im NSU-Komplex „mangelnde | |
| Analysefähigkeit“ bewiesen, auch „erhebliche Defizite in der Dienst- und | |
| Fachaufsicht“. Die SPD sieht die Reformen deshalb „lange noch nicht | |
| beendet“. Die Linke will den Verfassungsschutz abschaffen, die Grünen ihn | |
| auflösen und neu gründen: nur zur Gefahren- und Spionageabwehr. | |
| Die Ermittler | |
| Die federführende Bundesanwaltschaft habe lange den Eindruck einer | |
| „Vorfestlegung auf einer Täterschaft ausschließlich von Böhnhardt, Mundlos | |
| und Zschäpe“ vermittelt. Ihre Antworten auf die Frage nach Mittätern und | |
| Helfern seien „mehr als ernüchternd“. Ausschusschef Binninger bekräftigte | |
| am Mittwoch: „Das war sehr absolut auf die Trio-These festgelegt.“ | |
| Dabei gebe es starke Hinweise auf das Gegenteil. So hätten Zeugen nach dem | |
| Mord an der Polizistin Kiesewetter von bis zu sechs Tätern, teils | |
| blutverschmiert, berichtet. Die Aussagen seien „von solcher Qualität“, dass | |
| sie nicht „weggewischt“ werden könnten, resümieren die Abgeordneten. Es | |
| wäre eigentlich „alles daran zu setzen gewesen, solche Personen zu | |
| ermitteln“. | |
| Dazu kommen auch handwerkliche Fehler. Gerade zu Anfang sei die | |
| Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden „von Dilettantismus, mangelnder | |
| Kooperationsbereitschaft und der Missachtung einfachster Standards geprägt“ | |
| gewesen. Über Zeugen und abgehörte Gespräche hätte man den Aufenthaltsort | |
| des untergetauchten Trios durchaus ermitteln können. | |
| Später seien die Länderpolizeien zu wenig in die Ermittlungen des BKA | |
| eingebunden gewesen, Ermittler hätten zu häufig gewechselt. Bilder von | |
| Videoüberwachungen seien teils „nur oberflächlich“ ausgewertet worden. Der | |
| Verfassungsschützer Andreas Temme, der am NSU-Tatort in Kassel war, sei | |
| erst nur befragt, nicht aber seine Wohnung durchsucht worden („ein schwerer | |
| und nicht reparabler Fehler“). Und ein V-Mann, der unter Verdacht stand, | |
| bei dem NSU-Anschlag in Köln 2001, den Sprengsatz im Geschäft deponiert zu | |
| haben, wurde bis heute nicht einmal befragt. Der Ausschuss fordert deshalb | |
| für künftige BKA-Großermittlungen „mehr Kontinuität, Effizienz und eine | |
| Minimierung von Wissensverlust“. | |
| War’ s das? | |
| Einig sind sich alle Abgeordneten, nach zwei Bundestagsausschüssen und mit | |
| fünf noch laufenden Ausschüssen in den Ländern: „Eine derartig umfassende | |
| parlamentarische Aufklärung eines einzigen Komplexes hat es in der | |
| Geschichte der Bundesrepublik noch nicht gegeben.“ Die „rückhaltlose“ | |
| Aufklärung des NSU-Terrors bleibe aber eine „Daueraufgabe“. Die Linke | |
| fordert deshalb bereits einen neuen Untersuchungsausschuss in der kommenden | |
| Legislaturperiode: zu Rechtsterrorismus und Geheimdiensten. | |
| 22 Jun 2017 | |
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| Konrad Litschko | |
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