# taz.de -- Musikethnologisches Projekt FLEE: Die nach den Tönen forschen | |
> Das Projekt FLEE mit Sitz in Paris verfolgt beim Urbarmachen von alten | |
> Klangarchiven und Feldaufnahmen aus aller Welt neue Ansätze. Ein | |
> Porträt. | |
Bild: Die ägyptische Produzentin Aya Metwalli hat alte Songs von Perlenfischer… | |
Musikethnolog*innen dürfen sich über mangelnde Sichtbarkeit gerne | |
beschweren. Ihre Arbeit findet häufig an entlegenen Orten der Welt statt, | |
fernab vom regen Kulturleben der Großstädte, wo sie dann längst vergessenen | |
(oder bis dato unbekannten) [1][Phänomenen nachhorchen und -forschen]. Auch | |
wenn sie sich in Archive begeben, in Aktenkellern unter Kunstlicht | |
Schriftstücke sichten, damit ihre Forschungen verdichten und wochenlang an | |
wissenschaftlichen Berichten feilen, geschieht das meist unter Ausschluss | |
von Aufmerksamkeit. | |
Das Forschungsopus eines [2][Alan Lomax (1915–2002)] beweist doch, wie | |
wichtig dessen Klangforschungen sind. Der US-Amerikaner widmete sich | |
zeitlebens dem Aufspüren von US-Folkmusik und -Traditionen, machte in den | |
1930er und 1940ern Tausende Stunden Tonbandaufnahmen in den US-Südstaaten. | |
Auf seiner Sammlung basiert unser Wissen über Spirituals der Sklaven, über | |
die Ursprünge von Gospelsound, aber auch frühe Blues- und Folkaufnahmen von | |
Muddy Waters und Woodie Guthrie sicherte Lomax für die Nachwelt. | |
Drei Nachfahren im Geiste von Alan Lomax sind Alan Marzo, Olivier Duport | |
(beide 32) und Carl Åhnebrink (30). Ihr musikethnologisches und | |
interdisziplinäres Projekt nennen sie FLEE und es hat seinen Hauptsitz in | |
Paris, wenngleich sie ebenso im Rest der Welt zu Hause sind. | |
Interessanterweise sind die drei Kuratoren keine Ethnologen von Haus aus, | |
sondern haben Politologie und Internationale Beziehungen studiert. „Das | |
spielt tatsächlich eine wichtige Rolle für unsere Arbeit“, erklärt der | |
Franzose Olivier Duport. | |
## Plattform für Kulturentwicklung | |
Die drei nennen ihr Projekt eine „cultural engineering platform“ – hinter | |
dem freischwingenden Etikett, das man getrost mit | |
Kulturentwicklungsplattform übersetzen kann, verbirgt sich ein Musiklabel, | |
ein Buchverlag, ein Kurationsteam für Ausstellungen und Diskussionsforen, | |
Residenzprogramme und, und, und. Alle Projekte sind miteinander verschränkt | |
und für die Arbeit der drei FLEE-Gründer nicht voneinander zu trennen. | |
Bei FLEE gibt es kein Henne-Ei-Problem, die Frage ob nun | |
Albumveröffentlichungen oder Bücher den wichtigeren Teil darstellen, stellt | |
sich gar nicht: „Beide Objekte sind Teil derselben Reflexion. Am Beginn | |
jedes Projekts steht ein Klangarchiv, das wir als solches ausmachen. Von | |
dem Punkt aus erklären wir den soziologischen, politischen, historischen | |
und künstlerischen Kontext eines musikalischen Genres oder eines | |
Phänomens“, sagt Duport. | |
## Fehlende Kontexte liefern | |
Dies habe sowohl Marzo und Duport, die sich bei einem Auslandssemester in | |
Helsinki kennen gelernt haben, als auch Marzos Jugendfreund Åhnebrink zu | |
dem Entschluss gebracht, FLEE zu starten: „Die Absenz von soziologischen | |
und politischen Kontexten, die zu einer Exotisierung und Essenzialisierung | |
von Musik geführt haben, war der Zündfunke.“ Anders als es der Ahne Lomax | |
vorgemacht hat, konzentriert sich die Sucharbeit von FLEE nicht auf einen | |
bestimmten Zeitraum, widmet sich auch nicht bloß einer bestimmten Region | |
eines Landes, sondern schaut auf verschiedene Ecken der Welt. | |
So haben sie 2017 etwa Klassiker der Benga in Kenia geborgen, einem | |
Musikgenre, das in den 1970ern ausschließlich im östlichen Afrika rezipiert | |
wurde, dann weitgehend in Vergessenheit geriet und heute als ultimatives | |
Symbol „vergangener Zeiten“ und der Nostalgie gilt. 2019 folgte dann | |
„Tarantismo: Odyssey of an Italian Ritual“. Eine Auseinandersetzung mit | |
Tarantismus. | |
Hierbei handelt es sich um ein Phänomen aus Süditalien, genauer, aus | |
Apulien. Die Angst vor Taranteln mündete dort in hysterischen Zuständen. | |
Zur Gefahrenabwehr tanzten mitunter wochenlang ganze Dorfgemeinschaften | |
manisch gegen Spinnenbisse an. Nicht nur eine Fußnote der | |
Psychologie-Geschichte: Das Phänomen mündete unmittelbar in den Tanz (und | |
die dazugehörige Musikform) Tarantella, die jene wahnhaften Angstzustände | |
in trancehafte, gemeinschaftliche Tanzereignisse sublimierte. | |
Tarantismus ist irgendwo zwischen alljährlichem Ritual, Massenpsychose und | |
Synkretismus angesiedelt. Klingt interessant? Ist es auch! | |
## Fotografien, Essays, Dokfilme, Musikaufnahmen | |
„Unsere Arbeit beginnt immer mit einem Phänomen, einem Genre, und von da | |
aus versuchen wir möglichst viel Kontext zu liefern“ – das sieht am | |
Beispiel des Tarantismus folgendermaßen aus: FLEE veröffentlichten zur | |
Musik ein Buch mit Fotografien und Essays; dazu einen Dokumentarfilm. | |
Namhafte Personen arbeiten mit. | |
Der Filmemacher [3][Edoardo Winspeare], der mit seinem Debütfilm | |
„Pizzicata“ der süditalienischen Region Salento ein Denkmal gesetzt hat, | |
und die Essayistin und Popkultur-Forscherin Claudia Attimonelli, die ihre | |
erste Erfahrung mit einem solchen „Folk Rave-ival“, wie sie es nennt, | |
beschreibt. Die veröffentlichte Musik versammelt von Ethnolog:innen in | |
den 1950ern getätigte Originalaufnahmen. | |
Erweitert werden diese um Remixe der kanadischen Elektronikproduzentin LNS | |
und des Berliners Don’t DJ; auch der italienische Editspezialist Bottin | |
liefert einen Beitrag. Es sind spannende (Re-)Kontextualisierungen der | |
Vorlage. Duport bestätigt: „Für unser Verständnis ist es unerlässlich, | |
musikalische Phänomene und Rituale neben ihrem künstlerischen Wert auch auf | |
ihren sozialen Nutzen und ihre Funktion hin zu untersuchen.“ | |
## Lieder von Perlentauchern am Persischen Golf | |
Auch die Musik des aktuellen Projekts wird aus verschiedenen Perspektiven | |
betrachtet. Es heißt „Nahma: A Gulf Polyphony“ und handelt von der Musik | |
von Perlentauchern aus der Region am Persischen Golf. „Nahma zielt darauf | |
ab, die Erinnerung an diese Freitaucher zu ehren, die monatelang in der | |
Golfregion auf Expeditionen unter harten Bedingungen verbrachten“ – um | |
Perlen für den Westen zu sammeln. Hier steht ihre eigene Kultur und ihre | |
Musik erstmalig im Fokus. | |
„Wir haben in Dänemark die allerersten Aufnahmen des Musikethnologen Poul | |
Rovsing Olsen aufgespürt.“ Diese sind in den späten 1950er Jahren | |
entstanden und verewigten die Arbeitsgesänge, die ursprünglich auf den | |
Perlenfischerbooten von den Besatzungen vorgetragen wurden. Duport erzählt: | |
„Dann übergaben wir einige dieser Auszüge an zeitgenössische | |
Künstler:innen. Wir forderten sie auf, nicht bloß Remixe zu produzieren, | |
sondern beeinflusst von den Aufnahmen neue Originalmusik zu kreieren.“ | |
Das kontrovers diskutierte Thema kulturelle Aneignung spricht Duport im | |
Interview mit der taz offen an: „Wir denken immer mit, dass wir Fremde und | |
Außenstehende im jeweiligen Forschungsfeld sind. Es muss mit dem nötigen | |
Respekt aber möglich sein, über musikkulturelle Phänomene zu reden, selbst | |
wenn man aus nichtmusikalischen Feldern und anderen Weltgegenden stammt.“ | |
## Positive Resonanz | |
Die Resonanz aus den erforschten Gemeinschaften sei zumindest bisher | |
positiv: „Die Menschen akzeptieren, dass wir sie mit unserer Arbeit nicht | |
verdrängen‚ sondern, dass wir ihnen eine Bühne für ihre Stimmen bieten. | |
FLEE will Debatten mit den Projekten lostreten, die innerhalb | |
traditioneller Kanäle schwieriger umzusetzen wären.“ | |
Ganz wichtig ist den drei Machern die enge Zusammenarbeit mit | |
ortsansässigen Musikszenen und Künstler:innen. Daher ist das Buch zum | |
Projekt „Nahma“ nicht nur in Englischer Sprache gehalten, sondern | |
bilingual: Rechtsherum ist die englische Fassung, von hinten nach vorne die | |
arabische. | |
Die Musik ist das Bindeglied. Remixe kommen folgerichtig nicht nur von der | |
[4][Wiener Künstlerin Conny Frischauf] und dem US-amerikanischen House-DJ | |
Hieroglyphic Being, die hierzulande fast unbekannte ägyptische Musikerin | |
Aya Metwalli aus Kairo ist ebenfalls mit im Boot. Bei solch langwierigen | |
und ehrgeizigen internationalen Projekten stellt sich natürlich die Frage | |
der Finanzierung. | |
## Unabhängig von staatlichen Kulturinstitutionen | |
FLEE agiert nach eigenen Angaben unabhängig von großen Institutionen, hat | |
eine feste Fanbase – Gewinn werfen die aufwendig gestalteten Bücher und | |
Alben dennoch nicht ab. Man generiert mit wechselnden öffentlichen Partnern | |
projekt-basierte Förderungen – ein passendes Beispiel ist das | |
Residenzprogramm, das für kommendes Jahr ansteht. | |
Nach mehrwöchigen Forschungsaufenthalten in Kenia und in Italien, wo | |
einheimische Musiker*innen zusammen mit Gästen Songs aufgenommen haben, | |
folgt nun eine Kooperation mit dem Museum für Völkerkunde im | |
schweizerischen Genf. Neu für das Projekt „Extra Muros“ ist, dass es | |
diesmal nicht um Musik aus einer bestimmten Region geht, sondern acht | |
Musiker*innen aus aller Welt eingeladen sind, wie Alan Lomax | |
musikethnologisch die Museumsbestände zu durchkämmen. | |
Im Schallarchiv warten 120.000 Feldaufnahmen aus den letzten 100 Jahren, | |
zudem darf – fröhliche Wissenschaft! – auch die Sammlung mit | |
Musikinstrumenten aus der ganzen Welt benutzt werden. | |
6 Dec 2021 | |
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## AUTOREN | |
Lars Fleischmann | |
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